Die Nacht schärft den Blick

Ulrich Bechers „New Yorker Novellen“ zeigen entwurzelte Existenzen

Von Sylvia HeudeckerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sylvia Heudecker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

See New York – the Wonder City wäre ein charmanter Untertitel für die drei New Yorker Novellen von Ulrich Becher, die Schöffling & Co. neu herausgibt. Der Slogan war in den 1940er Jahren auf einem tannengrün lackierten Bus zu lesen, mit dem sich durch die Stadt chauffieren lassen konnte, wer begierig darauf war, die Metropole der Neuen Welt kennenzulernen. Jene Stadt, die frei und jung, modern und mondän war und vor allem weitab vom Kriegsschauplatz Europa. Auf den breiten Straßen zwischen Wolkenkratzern und mächtiger Stadtarchitektur, zwischen Central Park und Hafen mit Blick auf die Freiheitsstatue bewegten sich die Menschen gelassen und selbstzufrieden durch den Sommer. Farbenprächtig gekleidete Damen unter Hüten und mit Sonnenbrillen schlenderten tagsüber untergehakt über die breiten Gehsteige, Männer in weitgeschnittenen Anzügen warteten geduldig, um bei dichtem Verkehr die Straße überqueren zu können. Wendet man den Slogan ironisch auf die Becherschen Novellen, enthüllt sich der Fokus seines Erzählens: das wundersame Wesen der menschlichen Natur, so gefasst und zufrieden nach außen, so zerrüttet unter der Oberfläche. 

Der in Berlin geborene Ulrich Becher war einer jener Schriftsteller, die aus dem deutschen Reich fliehen mussten und über Umwege in die Vereinigten Staaten kamen. Becher war zuversichtlich gewesen, dass angesichts der schweizerischen Staatsbürgerschaft seiner Mutter eine Ansiedlung in der Alpenrepublik möglich sei. Doch die Behörden verwehrten ihm die Zuflucht. Seine politische Haltung entbehre der geforderten Neutralität, er möge sich doch einen anderen Aufenthaltsort suchen. Mit Hilfe des International Rescue Committee, einer von dem amerikanischen Journalisten Varian Fry gegründeten Hilfsorganisation, entwickelte sich die Stadt am Zusammenfluss von East und Hudson River zur Anlaufstelle für Emigranten aus der Kunst- und Kulturszene. Hannah Arendt, Max Ernst, Lion Feuchtwanger, Claude Lévi-Strauss oder Anna Seghers retteten sich mit dem IRC hierher, andere Schriftsteller wie Oskar Maria Graf, Bert Brecht oder Rose Ausländer fanden ebenfalls den Weg ins Zentrum des US-amerikanischen Kulturlebens. Im Jahr 1944 stieß Ulrich Becher mit seiner Frau Dana Roda zu ihnen, im Herbst wurde der gemeinsame Sohn Martin geboren. Die Bechers hatten drei Jahre in Brasilien auf die Einreisegenehmigung in die USA warten müssen, nachdem sie 1941 über Frankreich und Portugal nach Brasilien fliehen konnten. In der Stadt der Wunder wurden sie bereits von den Schwiegereltern erwartet. Wenn man hier Soldaten oder Matrosen sah, saßen sie im Central Park am Schwänchenteich und aßen Eis oder schlenderten mit ihrer Liebsten im Arm über den Broadway. Der Krieg schien weit weg.

Die strukturelle Verbindung der New Yorker Novellen nennt der Untertitel Zyklus in drei Nächten. So weist schon der Einstieg ins Buch auf ein wesentliches Element hin, dem man Beachtung schenken sollte. Becher inszeniert die Nacht, ob im stillen Central Park oder den belebten Vergnügungsvierteln. Blinkende Leuchtreklamen illuminieren die Dunkelheit, locken ins Kino, preisen Revuen an; Bars und Clubs machen auf sich aufmerksam. Es ist die Zeit, in der Swing und Jazz durch das bunte Dunkel klingen. Den Sound dieser Jahre prägen Billie Holliday und Benny Goodman, Thelonius Monk und Dizzy Gillespie. 

In eine Bar mit Musikbox führt die letzte der drei Becher-Novellen Die Frau und der Tod. An der Theke der gut besuchten Lokalität am Rockefeller Center treffen Kriegsheimkehrer auf Zivilisten, Männer und Frauen; es wird gezecht, gelacht, gesungen, gestritten, geheult. Wie auch in der zweiten Novelle des Zyklus Der schwarze Hut nutzt Becher den bunten Trubel einer Feier, um die Gäste seiner Geschichten einzuführen. Mit kräftigen Strichen setzt er das Geschehen ins Bild, schreibt literarische Sittengemälde mit grotesken Protagonisten und Nebendarstellern. Ein ‚Normal‘ sucht man vergebens. In Die Frau und der Tod sind da der alternde Geck mit dem Bullenbeißergesicht, der Barkeeper Pépé-le-Moco, den Becher als Karikatur der Filmschauspielers Jean Gabin vorstellt, oder die traurige Schöne, in der er einen alten spanischen Meister erkennt, begleitet von einem Casanova-ohne-Perücke; außerdem der sonnengebräunte, kräftige Typ mit Tiefseekrawatte und grünem Hut, der sich als Erzähler Slocum entpuppt. Becher kleidet seine Figuren in eine gelegentlich überbordende Fülle visueller Attribute, derer man beim Lesen durchaus auch überdrüssig werden kann. Doch er sorgt für einen schnellen Erzählfluss, der die Geschichte weiterführt, bevor man sich allzu lange an der einen oder anderen sprachlichen Zumutung aufhalten müsste. Die Gruppenszenen überzeugen sowohl durch ihre sichere, humoristisch-groteske Figurenzeichnung als auch durch die Gabe, die Grundmechanismen menschlicher Beziehung herauszuarbeiten. Gerade in ihrem Umgang miteinander entblößen sich die Figuren, zeigen ihre Schwächen wie Eitelkeit und Genusssucht, offenbaren, wie sie von Angst und Schuldgefühlen getrieben werden. Die Gesellschaftsszenerie ist ein wesentliches Element Becherschen Erzählens und weist hinüber in die Malerei als inspirierende Kunstform. Als junger Mann wollte Becher zunächst die Laufbahn des Bildenden Künstlers einschlagen, entschied sich dann aber für die Juristerei als Brotberuf und reüssierte schließlich noch in den Vorkriegsjahren in Deutschland als Schriftsteller. George Grosz hatte Becher noch in seiner Berliner Zeit als einzigen Meisterschüler aufgenommen. Dass der Novellenzyklus dem verehrten Mentor gewidmet ist, drückt also nicht nur Dankbarkeit aus, sondern dokumentiert zugleich die befruchtende Begegnung von Malerei und Literatur. 

Becher konzentriert sich in den New Yorker Novellen auf Entwurzelte, verunsicherte Individualisten, auf Menschen, die um Ansehen und eine gesicherte gesellschaftliche Position ringen. Meist führen sie eine Existenz im Exil, wie der taube, durch die Nazis im Konzentrationslager geschundene Jude Dr. Klopstock oder Doc Nightingale, der in einer traumatischen Vater-Sohn-Beziehung gefangene deutschstämmige Society-Psychiater. Sie gehören zu jenen, die aus dem „verbrannten Lebkuchenhaus“ Deutschland flüchteten, die den „Trümmerhaufen“ Europa hinter sich ließen, um in den freiheitlichen Vereinigten Staaten von Amerika neu zu beginnen. Die Protagonisten teilen die Erfahrung des Krieges. Jeder von ihnen trägt verstörende Erlebnisse in seiner Erinnerung. Die Ostküstenmetropole verschafft diesen Menschen Sicherheit, eine erträgliche Normalität und verspricht ihnen, vergessen zu können. Das Tändeln der Geschlechter, die Ablenkung durch Luxus und Genuss benebeln für kurze Zeit die Sinne – nur damit den Protagonisten nach schlaflosen Nächten dann um so schmerzlicher bewusst wird, wie bedrängt und düster die eigene Existenz ist. Die Erinnerung drückt sie machtvoll und erbarmungslos nieder, die Zukunft flößt ihnen Furcht ein, immer und immer wieder.

Die Nacht als Katalysator bringt an die Oberfläche, was in der Seele der Menschen verborgen liegt, sie macht das Dunkel der Seele erst sichtbar. Als elementares Motiv der Romantik verschafft die Nacht dem Irrationalen einen Raum. In dieser Funktion nutzt sie Becher. Er rückt die versteckten, verstörenden Geheimnisse vermeintlich geregelter Existenzen in den Fokus. Doch den letzten Schritt romantischen Weltverstehens geht Becher nicht mit. Bei ihm ist die Nacht keineswegs Medium der Transzendenz und Erlösung. Diese gibt es nicht mehr nach Nationalsozialismus, Judenverfolgung und Weltkrieg. Die krisenhafte Zuspitzung, auf die jeder gute Deutschunterricht beim Reden über das typisch Novellenhafte kommt, der erkenntnisfördernde, singuläre Moment wird bei Becher durch zwei Kräfte möglich: die Stadt und die Nacht, „the city that never sleeps“ und die dunkle Seite der Existenz. Die bunte, blinkende Beleuchtung der nächtlichen Metropole wirft Schlaglichter, welche die eigentlichen Formen der Dinge grotesk verzerren, ihre Stofflichkeit durch falsche Farben verbergen. Und doch: Wer sich auf die Bedingungen der Nacht versteht, erkennt die Wirklichkeit. Ähnlich verfährt Becher. Er persifliert, ironisiert, karikiert. Wer sich auf seine Art des Erzählens einlässt, erkennt die Tragik des Entwurzelt-Seins.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Ulrich Becher: New Yorker Novellen. Ein Zyklus in drei Nächten.
Hg. von Moritz Wagner.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2020.
408 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783895614538

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