Der Deutsche (Alb-)Traum

Aras Örens „Berliner Trilogie“ vereint Poesie und Proletariat

Von Jannick GriguhnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jannick Griguhn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Melting Pot der USA träumen sie den American Dream, es geht um sozioökonomischen Aufstieg durch Fleiß und Disziplin. Eine gehörige Portion Glück gehört natürlich auch dazu, wobei das ungern erwähnt wird. Für die türkischen Arbeiter*innen, die seit den 1960er-Jahren nach Deutschland kamen, war es der Deutsche Traum. Über die kurzfristige Erfüllung des Traums, vor allem aber über das Scheitern türkischer Migrantinnen und Migranten dichtet der türkischstämmige Schriftsteller Aras Ören in Was will Niyazi in der Naunynstraße? (1973), Der kurze Traum aus Kagithane (1974) und Die Fremde ist auch ein Haus (1980) – drei Gedichtbände, die nun gebündelt unter dem Titel Berliner Trilogie. Drei Poeme erschienen sind. Ören, der als Radioredakteur arbeitete und seit 1999 eine Poetik-Dozentur an der Universität Tübingen innehat, verfasst seine Werke in seiner Muttersprache Türkisch und ist an ihren Übersetzungen ins Deutsche maßgeblich beteiligt. Er gilt als einer der ersten türkischen Schriftsteller, die in Deutschland mit ihrem literarischen Schreiben Erfolge erzielen konnten und öffentliche Anerkennung erhielten.

In den vorliegenden Prosagedichten kreiert Ören einen eigenen Kosmos, der sich um die Berliner Naunynstraße zentriert. Dort haust der intellektuelle Arbeiter Niyazi, der sich zusammen mit seinem Freund Horst im „Sozialisten-Verband der Naunynstraße“ für die Rechte der Arbeiter*innen einsetzt. Eine Treppe unter Niyazi wohnt die alt gewordene Frau Kutzer, die aus einer Landadelfamilie stammt und den sozialen Abstieg durch die Heirat mit einem kommunistischen Arbeiter nie wirklich verkraftet hat. Da lebt auch Kázim, der zunächst seinen Job als Zimmermann verlor und dann seine erfolgreiche Busagentur aufgrund einer aggressiven Übernahme durch die Mafia aufgeben musste. Er ging nach Deutschland wie hunderttausend andere auch, im Gepäck die Hoffnung auf ein besseres Leben oder wie Niyazi es formuliert:

Als das mit Deutschland aufkam,
sagte ich mir,
so wie jedermann, ich auch:
Deutschland ist ein kleines Amerika.
Gehst du dorthin, Niyazi,
lebst du dort wie die Reichen von Bebek.

Ören verknüpft in seinen Gedichten die Einzelschicksale mit den politischen Ereignissen der Zeit und errichtet ein lyrisches Erzählkonstrukt, das die drei Gedichtbände stimmig ineinandergreifen lässt. Die Inhalte seiner kurzen prosaischen Gedichte haben dabei in ihrer Dringlichkeit nicht an Aktualität eingebüßt: Die Figuren berichten von Wirtschaftskrisen, Armut, Gentrifizierung oder auch von politischer Verfolgung und dem Leid unter einer Militärdiktatur. Diese Phänomene sind keine landesspezifischen Besonderheiten, sondern lassen sich in der ganzen Weltgeschichte auf allen Kontinenten finden. Gerade die Migrationsbewegungen der Gegenwart führen uns vor Augen, dass die Ursachen für Flucht und Migration auch Folgen einer imperialistischen europäischen Politik sind. Der Wohlstand europäischer Länder beruht nicht zuletzt auf der Ausbeutung von Menschen aus anderen Erdteilen, die sich zunehmend aufmachen, um ebenfalls am produzierten Wohlstand teilhaben zu können: 

Europa, deine Geschichte
ist eine riesige blutende Wunde.
Und wenn das Blut in der Wunde trocknet,
bleibt die Narbe
und bleibt auch morgen im Blick,
in eurem
und in unserem.
Früher hast du übergegriffen
auf anderen Weltgegenden,
jetzt kommen die anderen
Weltgegenden her
und bleiben in dir.

Faszinierende Schilderungen von Istanbul und Berlin erzeugen ein beeindruckendes Panorama und die versponnene Figurenkonstellation eröffnet uns vielschichtige Perspektiven, die die türkische und deutsche Geschichte zu einer neuen, zu einer gemeinsamen Geschichte verbindet. Und diese Geschichte ist konfliktbeladen – bis heute. Jahrzehntelang negierten deutsche Politiker*innen, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Allen Negierungen zum Trotz sah und sieht die Realität in Deutschland bereits seit den 1960er-Jahren anders aus. Ungeachtet der kulturellen Differenzen teilen die deutschen und migrantischen Arbeiter*innen jedoch dasselbe Los, wie Ören in seinem Gedicht aus der Perspektive eines Stadtführers treffend aufzeigt:

Vor uns der Oranienplatz …
Diese Gegend wird auch Klein-Istanbul genannt.
Naunynstraße, Adalbertstraße, wir
durchfuhren eben die Muskauerstraße.
Sie sehen Arbeiterquartiere der Jahrhundertwende,
als Schlesier und Ostpreußen in Scharen
die heimatliche Scholle verließen und sich
in der Industriemetropole ansiedelten.
Damals soll Kohlegeruch die Straßen
erfüllt haben, jetzt ist es Hammelgeruch, Thymian
und Knoblauch, wohlgemerkt. 

Die kurzen Gedichte gleichen Mosaikstücken, die sich nach und nach zu einem Ganzen fügen. Ören lässt seine Figuren sprechen, die teils als narrative Instanzen agieren, wobei ihre Perspektive und Lebensgeschichte oftmals durch auktoriale Einschübe ergänzt und kommentiert werden. Die Figuren wirken authentisch und zu keiner Zeit klischeebeladen, was dem Dichter vor allem dadurch gelingt, dass er jeder Figur eine eigene Stimme zu geben vermag und dabei trotzdem durch seine einprägsame Bildsprache eine einheitliche, melancholisch aufgeladene Atmosphäre zu vermitteln weiß. Die poetischen Bilder mischen sich mit kühlen, bürokratisch anmutenden Passagen, die die Figuren zunächst auf ihre äußerlich erfassbaren Angaben reduzieren: 

Er wohnt eine Treppe über Frau Kutzer.
41 Jahre alt. Ledig. Seit 7 Jahren in Deutschland.
Stanzer (wenn Nachtschicht ist, arbeitet er am Ofen)
bei der Preussag.
Monatlich kriegt er 1140 Mark auf die Hand.
Für die Wohnung zahlt er 74 Mark
– zwei winzige Zimmer, Küche
            Abort 3 Treppen tiefer.
Er kann gut deutsch.
Achtet auf sein Äußeres
und hat Koteletten bis unter die Ohren.

Das Gedicht Niyazi zieht Bilanz schließt unmittelbar an diese nüchtern gehaltenen Verse an und kontrastiert mittels der dargestellten gedanklichen Tiefe die zuvor getätigten Aussagen über Niyazi, die nun als nichtig für ein Urteil über einen Menschen erscheinen: 

Sich seiner Rechte bewußt sein
und dieser Rechte beraubt zu werden,
das macht einen kaputt.
Den Schmerz davon haben wir oft geschmeckt,
Bruderleben –

Den zentralen Konflikt in der Welt sieht Niyazi zwischen denjenigen, die besitzen, und denjenigen, die auf das Wohlwollen der Besitzenden, für die sie arbeiten, angewiesen sind. Alle Arbeiter*innen zahlen letztlich für ihre materielle Absicherung einen hohen Preis – die Menschen schuften sich über kurz oder lang zu Tode. Die Folgen der harten Arbeit äußern sich in körperlichen Schäden, Krankheiten und depressiven Verstimmungen, die nur die Flucht in den Alkohol zu lindern vermag:

Der Alkohol taucht in Nebel den Kopf und
die Handgelenke schlüpfen aus
den unsichtbaren Handschellen,
je mehr die Gläser sich leeren. 

Der Gedichtband besteht aus einer Vielzahl an Episoden, die die von Marx analysierten Ausbeutungsmechanismen anprangern, die Verelendung und Armut der migrantischen und deutschen Arbeiter*innen behandeln und die dadurch entstehenden Konflikte verdeutlichen. Ören gelingt es mittels erzählerischer Verdichtung in Form von lyrischen Anekdoten und seiner poetischen Bildsprache, komplexe Phänomene wie Gewalt, Rassismus, Aggressionen, Missgunst, Wut, Angst, Konkurrenzdenken, Ohnmacht u. v. w. nachvollziehbar darzustellen:

Unsere Rache fließt über, entleert sich
im Blitzen eines Messers,
in der Berührung eines Abzugs
mit der Fingerkuppe.
Dies aber ist ein Aufschrei
unseres stumm gemachten Ich,
unseres gewaltsam gebeugten Ich,
und hängen wir uns
in der Stille ein paar neue Himmel auf:
ihre Wolken nehmen uns
gefangen.

Doch nicht nur das Leben der Männer, sondern vor allem auch das der Migrantinnen ist hart. Sie befinden sich in einer besonders prekären Situation und so bleibt ihnen oftmals nichts anderes, als neben ihren Fabrikjobs zusätzlich als Sexarbeiterin Geld zu verdienen, um sich und ihre Familien zu ernähren. Auf eindrucksvolle Weise schildert Ören das Leben der in Deutschland aufgewachsenen Migrantinnen anhand von Kázims Tochter Emine, die im Alter von fünf Jahren mit ihrem Vater nach Deutschland zog. Die Entfremdung von ihrer Herkunftsheimat Türkei offenbart sie in einem Brief an den türkischen Generalkonsul in Berlin und den Berliner Innensenator, in dem sie darum bittet, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erhalten:

Weil ich im Paß meines Vaters stehe,
passiert mir alles, was meinem Vater passiert,
von der Steppe angefangen, die er hinter sich herschleift,
seit nämlich (wie ein Mann im Flugzeug erzählte)
zu Ende der fünfziger Jahre ein Bagger in die Steppe
kam und anfing, den Boden aufzuwühlen. 

Hinter dem Bagger erschien eine Straße, die Fremde begann.
Die Fremde begann schon in der Heimat, aber mein Vater
nannte sie „Deutschland“.
Ich nenne sie jetzt „Türkei“.

Örens Gedichte sind emotional ergreifend und intellektuell anspruchsvoll konzipiert. Mit der Berliner Trilogie liegt ein Prosagedichtband vor, der aufgrund seiner poetisch kraftvollen Sprache zu überzeugen weiß. Örens Bilder ziehen uns in ihren Bann und geben einen intimen Einblick in das Leben der migrantischen Arbeiter*innen und damit in einen der wohl wichtigsten Abschnitte der deutschen Geschichte, der unser heutiges Zusammenleben weiterhin maßgeblich prägt. Ein Glanzstück der Arbeiter*innendichtung, das nicht mehr aus dem Kopf geht.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Aras Ören: Berliner Trilogie. Drei Poeme.
Verbrecher Verlag, Berlin 2019.
200 Seiten, 22 EUR.
ISBN-13: 9783957324009

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