Was Kinderbücher über uns selbst zeigen

Hartmut Hombrecher und Christoph Bräuer geben mit „Zeit | Spiegel“ einen beeindruckenden Begleitkatalog zu einer Ausstellung von Kinder- und Jugendliteratur heraus

Von Peer JürgensRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peer Jürgens

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bücher für Kinder und Jugendliche sind ein ganz besonderes Gebiet der Literatur. Das hat zum einen mit den – je nach Alter – unterschiedlichen Rezeptionsfähigkeiten der Zielgruppe zu tun, worauf sich Autor*innen (in der Regel) einstellen sollten. Zum anderen verfolgt Kinder- und Jugendliteratur (KJL) neben informatorischen und unterhaltenden Zielen häufig auch pädagogisch-erzieherische Absichten. Damit unterscheidet sich die Herangehensweise an KJL von anderen Bereichen der Literatur. Die Auseinandersetzung mit Literatur für Kinder und Jugendliche ist nicht nur literaturwissenschaftlich interessant, sondern vermittelt auch ein Verständnis davon, wie Kinder und Kindererziehung in einer bestimmten Zeit gesehen wurden. Letztlich wird über KJL wie in einem Brennglas die Essenz einer Gesellschaft transportiert. Das Interesse an Publikationen für Kinder und Jugendliche ist also nicht nur deshalb so groß, weil wir alle einmal Kinder waren.

Ausgangspunkt für die Suche nach KJL waren für Sigrid Wehner aber dennoch zunächst ihre Erinnerungen an ihre Kindheit. Im Laufe der Zeit hat sie aber ein umfassenderes Interesse für kinder- und jugendliterarische Bücher entwickelt. Seit den 1970er Jahren konnte sie so eine rund 18.000 Exemplare umfassende Sammlung zusammentragen, deren Kern auf der Zeit zwischen 1925 und 1945 liegt. Diese Sammlung konnte 2017 durch die Universität Göttingen erworben werden und wird hier seitdem wissenschaftlich untersucht. Im Oktober 2019 wurde ein Teil von 80 Exponaten der Wehner-Sammlung in Göttingen ausgestellt und bedenkt man die oben erwähnte Funktion von KJL, so ist der Titel der Ausstellung (und des Katalogs) durchaus wegweisend: Zeit | Spiegel. Das hier vorgestellte Buch begleitet die Ausstellung wissenschaftlich. Die Herausgeber, die beide an der Uni Göttingen tätig sind, die Ausstellung kuratiert haben und die Göttinger Sammlung historischer KJL betreuen, gehen dabei weit über den üblichen Ausstellungskatalog hinaus.

Zu der Publikation gehören neben einer umfangreichen Darstellung der Exponate, die um 97 farbige Abbildungen ergänzt ist, auch 24 fachwissenschaftliche Beiträge. Hervorzuheben ist das löbliche Herangehen der Herausgeber, hierbei auch den akademischen Nachwuchs zu Wort kommen zu lassen. Die Aufsätze sind in acht inhaltliche Kapitel unterteilt und folgen dabei grob den Linien der Ausstellung. Den programmatischen Begriff Spiegel aufgreifend, beleuchten die Beiträge jeweils unterschiedliche Aspekte der KJL. So geht es im Kapitel „Zerrspiegel“ um völkische Ideologie, das Kapitel „Scherben“ befasst sich mit Autor*innen, die während der NS-Zeit im Exil oder in Opposition zum System waren, der „Weltspiegel“ betrachtet KJL unter dem Blickwinkel der Religion und zwei weitere Abschnitte gehen auf (Massen)Konsumkultur sowie die Ästhetik im Kinderbuch ein. Hervorzuheben sind, gerade angesichts aktueller Debatten, die Kapitel zur Gender-Thematik und zu kultureller Aneignung bzw. kulturellem Rassismus in Kinderbücher. Hier analysiert einmal Temi Odumosu anhand des Volksbuches unserer Kolonien und des Romans Robinson Crusoe, wie ein Bild „des Afrikaners“ vermittelt wurde und Claudia Sackl nimmt die Darstellung „des Indianers“ in den Blick. Anna Bers wiederum deckt die Gendernormen und Erzähltechniken in zwei Mädchenromanen von 1937 auf.

Geradezu körperliche Schmerzen erzeugen die Betrachtungen von Niels Penke zu Antisemitismus in den Kinderbüchern des Stürmer-Verlages und Benjamin Söchtigs Untersuchung über das NS-Kinderbuch Mutter, erzähl von Adolf Hitler! Wie perfide, radikal und gleichzeitig populär hier in Heften wie dem Giftpilz oder dem Pudelmopsdackelpinscher NS-Rassenideologie an Kinder vermittelt wird, gruselt einen heute.

Neben diesen inhaltlich sehr überzeugenden und passend zu Exponaten der Ausstellung geschriebenen Aufsätzen lohnt aber auch ein Blick in andere Beiträge, die sehr überraschende Aspekte beleuchten. So erkundet Gabriele von Glasenapp beispielsweise die jüdische KJL, die zwischen 1933 und 1938 eine Hochphase erlebte und dabei nicht nur jüdische Tradition oder Geschichte ansprach, sondern auch kabbalistische, zionistische oder Identitäts-Fragen aufrief. Auch die Einblicke von Julia Benner in die kinderliterarischen Zeitschriften der Margarineindustrie, eine Marketingstrategie ab den 1910er Jahren vor allem von zwei großen Firmen, oder der Überblick von Judith Blume zu den zeitgenössischen Sammelbilderalben sind sehr erhellend.

An vielen Stellen leidet aber der Katalog – aus einer wissenschaftlichen Perspektiven – an der Verknappung. Ein Großteil der Aufsätze muss sich mit vier, fünf Seiten begnügen und daher können die zu Recht hochspannenden Themen nur einen kurzen Aufriss geben. Manches hätte man sich dagegen wirklich tiefgründiger gewünscht. Entschädigt wird man aber mit einer sehr umfangreichen und gut sortierten Bibliographie zum Thema.

Sowohl die Ausstellung als auch der begleitende Katalog wollten aufzeigen, wie die deutsche Gesellschaft sich zwischen 1925 und 1945 im Spiegel von KJL darstellte. Auch wenn man die Ausstellung nicht gesehen hat, vermittelt der Katalog dazu ein gutes Bild. Er bietet darüber hinaus Einblicke in verschiedene thematische Aspekte, unter denen man die KJL dieser Zeit betrachten kann. Dass dabei Manches auch unberücksichtigt bleibt, versteht sich im Kontext von Ausstellung und Katalog von selbst. Aber gerade dem Katalog gelingt es, einen anderen Blick auf Bücher für Kinder und Jugendliche zu entwickeln und dabei einige spezielle Themen vorzustellen. Dafür gebührt den Herausgebern Dank und Anerkennung.

Titelbild

Hartmut Hombrecher / Christoph Bräuer (Hg.): Zeit-Spiegel. Kinder- und Jugendliteratur der Jahre 1925 bis1945.
Wallstein Verlag, Göttingen 2019.
198 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783835336032

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