Simulation eines Kriminalromans

Ottessa Moshfegh ist derzeit eine der eigenwilligsten internationalen Schriftstellerinnen, eine brillante Erzählerin und eine Meisterin des Skurril-Abgründigen, was sie in „Der Tod in ihren Händen“ einmal mehr unter Beweis stellt

Von Karsten HerrmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karsten Herrmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In ihren bisherigen vier Romanen und einem starken Kurzgeschichtenband bietet Ottessa Moshfegh ein breites Spektrum von Charakteren auf: Vom Säufer und Seemann McGlue im 19. Jahrhundert über die blasse Sekretärin Eileen in den 1960ern und eine sedierte dekadente Szene-Frau im New York der Jahrtausendwende bis zur Anti-Heldin ihres neuen Romans in der Jetztzeit: Eine 72jährige Witwe, die einsam im Nordosten der USA lebt und in einen Mordfall hineingezogen wird – oder nicht?

Aber von Anfang an: Bei einem Spaziergang mit ihrem Hund Charlie durch den Wald findet diese Witwe namens Vesta einen Zettel: „Sie hieß Magda. Niemand wird erfahren, wer sie ermordet hat. Ich war es nicht. Hier ist ihre Leiche.“ Doch eine Leiche ist in der Umgebung nicht zu finden und Vesta fragt sich, was dieser Zettel zu bedeuten hat: Ist es nur ein Scherz, der Anfang eines Romans oder doch bittere Wirklichkeit?

Immer weiter steigert sich Vesta in ihr Kopfkino über ein Verbrechen, das vielleicht nie stattgefunden hat. Sie informiert sich in der örtlichen Bücherei über Prinzipien der Detektivarbeit und der Verhörtechnik, um dem Schuldigen auf die Spur zu kommen und ihn gestehen zu lassen. Im Detail malt sie sich Opfer und Täter sowie ihre familiären und kulturellen Hintergründe aus: Der Täter ist demnach ein junger Bursche und Namensvetter des Dichters und Naturmystikers Blake und Magda war illegal aus Belarus gekommen, um für ein paar Dollar in Fast Food-Restaurant zu arbeiten – und „genau wie ihr Vater fand Magda Grausamkeit und Dummheit witzig“.

Elegant zieht Ottessa Moshfegh den Leser in das Kopfkino ihrer Protagonistin und konstruiert mit leichter Ironie ein kurioses kriminalistisches Spiegelkabinett. Zugleich führt sie uns einfühlsam das Alltagsleben ihrer einsamen Anti-Heldin vor Augen, die nach dem Tod ihres Mannes in eine Blockhütte an einem See in den Nordosten der USA gezogen ist – umgeben von abweisenden Nachbarn und misstrauischen Cops. Ganz langsam eröffnen sich dem Leser die Abgründe dieser zunächst ganz harmlos und nett wirkenden Seniorin, die sich plötzlich über „hirnlose Fettwalzen“ im Supermarkt echauffiert und den Mantel der Trauer um ihren verstorbenen Ehemann Walter fallen lässt. Denn der hatte sie in Wahrheit ein langes Eheleben in einer Art Geiselhaft gehalten und „Angst vor Spaß und Freiheit gehabt“. In einem Akt der Befreiung versenkt Vesta die Urne mit der Asche ihres Mannes schließlich in ihrem Haussee, um endlich ihr eigenes Leben zu leben. Und dann steht bei ihren Mord-Recherchen plötzlich Shirley vor ihr, „eine meiner Figuren“, und das zwischen Wahn und Wirklichkeit oszillierende Geschehen zieht noch einmal an und nimmt eine überraschende Wende.

Ottessa Moshfegh simuliert in Der Tod in ihren Händen virtuos und höchst unterhaltsam einen Kriminalroman und führt auf gewohnte Weise in abgründige Charaktere und Gedankenlandschaften. Der Roman ist dabei auf mehrfacher Ebene auch eine mit starken poetischen Bildern aufwartende Meditation über das Verschwinden aus dieser Welt und den Tod:

Was für eine seltsame Verantwortung das war, den Tod eines Menschen in den Händen zu halten. Der Tod schien mir fragil wie tausend Jahre altes brüchiges Papier. Eine falsche Bewegung und alles würde mir zwischen den Fingern zerfallen.

Titelbild

Ottessa Moshfegh: Der Tod in ihren Händen.
Aus dem Amerikanischen von Anke Caroline Burger.
Hanser Berlin, Berlin 2021.
256 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783446269408

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