Schicksalhafte Sterne

Lou Andreas-Salomés „Russische Texte aus der Zeitschrift Sewerny Westnik“ liegen nach 125 Jahren erstmals in deutscher Übersetzung vor

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Menschenschicksale sind wie Himmelskörper, wie ein Stern, der aus der Dunkelheit herauskommt und einem anderen Stern begegnet, dann einen Augenblick aufleuchtet, um wieder in der Dunkelheit zu verschwinden. So begegnen sich ein Mann und eine Frau, gleiten miteinander dahin, leuchten auf in Liebe, entflammen und verschwinden, jeder in seiner eigenen Richtung.

Mit dieser Trope glossierte Edvard Munch in seinen Notizen die von ihm 1899 verfertigte Xylographie Begegnung im Weltraum. Bereits ein Jahr zuvor hatte die Deutsch-Russin Lou Andreas-Salomé zu einer ganz ähnlichen Stern-Metapher gegriffen, indem sie erklärte, „dass jede Liebe, selbst die stärkste, glühendste und selbstloseste, die das ganze Leben umwandelt, schließlich nichts anderes ist als nur noch ein Gruß, – ein Gruß eines Menschen an einen anderen, eines Sterns an einen anderen“. Das deutschsprachige Publikum kann ihre Bemerkung allerdings erst heute, fast 125 Jahre nach ihrer Niederschrift nachlesen. Denn die Autorin ließ sie in einem Text fallen, den sie für die Petersburger Zeitschrift Sewerny Westnik (zu Deutsch Nördlicher Bote) geschrieben hatte. Wie alle ihre Beiträge für die Zeitschrift hatte sie das Manuskript auf Deutsch verfasst, doch wurden die Niederschriften zur Veröffentlichung ins Russische übertragen.

Als 17. Band der Edition Werke und Briefe von Lou Andreas-Salomé in Einzelbänden hat Grażyna Krupińska nun Andreas-Salomés von 1896 bis 1898 in der Zeitschrift erschienene Texte in beiden Sprachen herausgegeben. Yevgeniya Korol hat die russischsprachigen Veröffentlichungen ins Deutsche rückübersetzt und sich dabei „an dem Sprachduktus der Autorin orientier[t]“, was nicht selten zu eigenwilligen Interpunktionen, Satzstellungen und Wortschöpfungen führte. 

Neben den in der Zeitschrift publizierten Versionen der Erzählung Amor und der ersten beiden Kapitel des Buches Nietzsche in seinen Werken bietet der Band zwei Aufsätze, die sich mit der deutschsprachigen Literatur ihrer Zeit befassen. Der eine behandelt [z]eitgenössische Schriftstellerinnen, der andere das Drama des „Jüngsten Deutschland“.

Vor allem der erste dieser beiden Texte ist von besonderem Interesse. Dies nicht zuletzt, weil sich vor dem Hintergrund ihrer Kritik und ihres Lobes der Werke anderer Autorinnen erhellt, welche Maßstäbe Andreas-Salomés an ihre eigenen Romane und Erzählungen legt. Auch spiegeln sich in ihrer Auseinandersetzung mit den Werken ihrer Kolleginnen Themen wider, die sie selbst literarisch verarbeitete: Priesterschaft und Zölibat, die Gottesfrage und – natürlich die Psychologie. So gilt ihr Johanna Niemann etwa als eine der „besten deutschen Schriftstellerinnen“, da sie sich thematisch „der psychologischen Schule“ angeschlossen habe und künstlerisch „zur realistischen Strömung“ zähle.

Andreas-Salomés Vorliebe für kirchliche Themen wiederum führt dazu, dass sie von literarischen Werken, die sich mit Religion und Priesterschaft befassen, besonders angetan ist, wie etwa dem unter dem Pseudonym Emil Marriot erschienenen und heute längst vergessenen Roman Der geistliche Tod der Österreicherin Emilie Mataja. Andreas-Salomé zählt ihn „zu den besten Erzeugnissen der modernen Literatur“, obwohl die Romane der Autorin an „[z]wei fatale[n] Nachteile[n] ihres Talents“ litten: den „Schranken ihrer Weltanschauung“ sowie der fehlenden „Emotionalität und vibrierende Sinnlichkeit“, denn sie besitze „eher das Talent des Bildhauers als das des Malers“. Andreas-Salomé greift öfter einmal zu derartigen Vergleichen literarischer Werke mit denjenigen der bildenden Kunst. So erklärt sie etwa, Ricarda Huchs Roman Erinnerungen von Ludolf Ursleu dem Jüngern wirke „wie eine kunstvoll ausgeführte zarte und weiche Pastellmalerei“.

Unter dem Titel Zeitgenössische Schriftstellerinnen befasst sich Andreas-Salomé ausnahmslos mit Österreicherinnen und deutschen Autorinnen – und zwar in dieser Reihenfolge. Obwohl „[f]ast alle herausragenden Talente unter den modernen deutschen Schriftstellerinnen […] Österreich an[gehören]“, seien die „fortschrittlichsten Autorinnen in Deutschland“ zu finden, wie sie die politische Geographie strapazierend formuliert.

Gleich zu Beginn des Textes merkt Andreas-Salomé mit geschlechteressentialistischem Zungenschlag an, „[d]ie besten Werke der deutschen Frauen […] folgten […] zuallererst aus der Entwicklung der Frauenpsyche an sich“. Überhaupt zeigt sich öfter, wie sehr sie Weiblichkeitsvorstellungen anhing, die auch damals schon als ausgesprochen konservativ, ja reaktionär gelten konnten. So etwa, wenn sie die „gute echte Mutter“ zum „natürlichen Zentrum[.] der Familie“ erklärt oder gar „jene wahren deutschen Frauen“ preist, „deren Leben restlos in ihrem Geliebten aufgeht“ und die „sich dessen bewusst [sind], dass sie dazu berufen sind, mit ihrer Liebe das Leben des geliebten Menschen zu erfüllen und ihn zu unterstützen“.

Anhand der von ihr beleuchteten Werke unternimmt sie es, die Entwicklung der Literatur deutschsprachiger Frauen im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts nachzuzeichnen und aufzuzeigen, wie der noch einer „abgelebten Welt“ angehörende „Schriftstellerinnen-Typ“ einer Marie von Ebner-Eschenbach durch moderne Autorinnen überwunden wurde. Zwar habe jene „zweifelsohne die führende Rolle in der österreichischen Frauenliteratur“ inne, doch bleibe sie „vor allem und unter allen Umständen eine Frau, keine professionelle Schriftstellerin“. Eben dies unterscheide sie ganz wesentlich „von dem sich gerade im Werden befindlichen Schriftstellerinnen-Typ“.

Die heute kaum noch bekannte, unter dem Pseudonym Ossip Schubin publizierende Aloisia Lula Kirschner teile zwar noch Ebner-Eschenbachs „sachte, rein frauenhafte Verschämtheit“, doch „hinderte“ sie das nicht mehr wie noch diese daran, „in ihren Werken das wahre Leben der Menschenseele zu entblößen“. Dabei liege Kirschner „nichts ferner als ein emanzipierter Zug, der unbedingt jedem selbständigen Frauentyp in modernen Romanen anhaftet“, merkt Andreas-Salomé offenbar mit einiger Befriedigung an. „[Z]u bedauern“ sei jedoch, dass sie „ihr Talent nicht im Geiste der jüngsten literarischen Strömung entwickelte“. Das allerdings tat die Kritikerin selbst ebenfalls nicht.

An Marie Janitscheks Romanen wiederum moniert Andreas-Salomé, dass sie sich nicht durch „dichterischen Farbreichtum“ auszeichnen, sondern nur ein „spektakuläres Wörterfeuerwerk“ voller „knallige[r], schwülstige[r] Ausdrücke[.]“ abbrennen. Knallig und zugleich schwülstig, das scheint allerdings nicht recht miteinander vereinbar. Abgesehen davon befleißigt sich Andreas-Salomés in ihren eigenen Romanen ebenfalls nicht selten einer schwülstigen Ausdrucksweise.

Auch für Bertha von Suttners literarische Fertigkeiten kann sich Andreas-Salomé nicht begeistern, habe ihrem „Talent“ doch die „rein künstlerische[.] Komponente“ gefehlt. Daher seien ihre „Typen und Situationen“ von einer „gleichermaßen langweiligen und eintönigen, überlegerischen Kälte“. Bis in die allerjüngste Zeit hinein teilten Literaturkritik und -wissenschaft dieses Verdikt, bis ihm Marlene Streeruwitz 2014 vehement und überzeugend widersprach.

Nachdem Andreas-Salomé ihre Behandlung österreichischer Schriftstellerinnen mit dem Urteil abschließt, Marriot und Schubin seien zwei „Talente, denen Deutschland kaum etwas vergleichbar Vornehmes, Graziöses und Kräftiges entgegenstellen kann“, geht sie zu den deutschen Autorinnen über.

Den ihnen gewidmeten Teil beginnt Andreas-Salomé mit der vielversprechenden, aber leider jung verstorbenen Margarethe von Bülow, die gerade einmal 24-jährig bei dem Versuch ertrank, einen im Eis eingebrochenen Jungen zu retten. Die Publikation ihrer Werke erlebte sie nicht mehr. Andreas-Salomé vermutet, die Frühverstorbene wäre „vielleicht dazu berufen gewesen“, „allen schreibenden deutschen Frauen der Gegenwart voran zu stehen“. Merkwürdiger Weise erwähnt sie Margarethe von Bülows ältere Schwester Frieda von Bülow nur kurz als Verwalterin des schriftlichen Nachlasses der Verstorbenen, ohne ein Wort darüber zu verlieren, dass sie selbst ebenfalls literarisch tätig war und seit 1889 mit Kolonialgeschichten vor das Publikum trat. Beide, Frieda von Bülow und Andreas-Salomé waren nicht nur seit etwa 1890 miteinander befreundet, sondern lieferten sich 1898 und 1899 in der Zeitschrift Die Zukunft unter den Titel Männerurtheil über Frauendichtung (Bülow) und Ketzereien gegen die moderne Frau (Andreas-Salomé) eine Auseinandersetzung über Fragen der Literatur und der Frauenemanzipation, denn erstere vertrat im Unterschied zu Andreas-Salomé in diesen Punkten feministische Positionen. Außerdem formte von Bülow die in ihrer 1896 verfassten Erzählung Zwei Menschen auftretende Figur Helga von S. nach ihrer Freundin.

Einer anderen, dem Feminismus nahestehenden Autorin wendet sich Andreas-Salomé hingegen recht ausführlich zu: Helene Böhlau. Dass sie in ihr gar „eine der wahrhaftig fortschrittlichsten Kämpferinnen für Frauenrechte“ sehen will, ist dann allerdings doch etwas übertrieben. Der Art und Weise, wie Böhlau feministische Anliegen literarisch umsetzt, kann Andreas-Salomé gar nichts abgewinnen. So kritisiert sie etwa die angeblich „derbe[n] Übertreibungen und Unglaubwürdigkeiten“ sowie die „Frauenrechtstiraden“ in Böhlaus Romanen. Immerhin aber trügen „[d]ie Stellungnahme Helene Böhlaus zu Fragen der Frauenemanzipation […] einen grundsätzlicheren und durchdachteren Charakter“ als diejenigen in Niemanns Gustave Randerslandt oder Huchs Ursleu-Roman.

Andreas-Salomé beschließt ihre Erörterungen der Werke österreichischer und deutscher Autorinnen mit Gabriele Reuter, in deren Romanen die Frauenbewegung den „prägnantesten und populärsten Ausdruck“ gefunden habe. Dies lässt sich allerdings nur behaupten, wenn man das literarische Werk von Hedwig Dohm nicht kennt, von der neben zahlreichen brillanten Essays, Polemiken, Theaterstücken und Novellen bereits der Roman Sibilla Dalmar erschienen war, als Andreas-Salomé ihren Text verfasste.

Abschließend zieht die Autorin nicht zu Unrecht das Fazit, in der Literatur der deutschsprachigen Schriftstellerinnen seien im Laufe der letzten Jahrzehnte „Fragen der modernen Frauenbewegung und der gesellschaftlichen Tätigkeit der Frau immer weiter nach vorne [ge]rück[t]“. Diese „Strömung“ der Literatur, moniert sie, sei „eher durch charakteristische als durch wahrhaftige, schöne Werke [ge]kennzeichnet[.]“, und hofft, „nach Polemik und Kampf“ dieser „Übergangsperiode“ möge die deutschsprachige Literatur von Frauen recht bald „in ein schönes, ruhiges und klares Flußbett übergehe[n]“.

Die Überlegungen der Autorin zum Drama des „Jüngsten Deutschland“ fallen um einiges kürzer aus als diejenigen zu den Schriftstellerinnen.  Überhaupt wendet sie sich nur drei Dramatikern zu: Gerhard Hauptmann, Georg Hirschfeld und Max Halbe. Auch hier interessiert sie nicht zuletzt die Psychologie der Stücke, so etwa in Hauptmanns „höchste[m] und reifste[m] Werk“ Hannele die „Psychologie der Kinderseele und poetische[n] Träume“, in der seine „Methode“ der „Traumpsychologie“ zum Tragen komme. Dabei sei es für dessen „Talent“ im Grunde „überhaupt nicht charakteristisch, in die widersprüchliche Psychologie des modernen Menschen einzutauchen“.

Ähnlich wie im Falle Hauptmanns wendet sich Andreas-Salomé dem „abgeschlossenste[n] und reifste[n] Werk“ von Hirschfeld etwas ausführlicher zu, das sie in dem Drama Die Mütter ausmacht. Weiter lobt sie Halbes Stück Jugend, das trotz seines „sogar ziemlich groben Darstellungsrealismus“ doch „von einer starken poetischen Stimmung erfüllt“ sei. Von seinem Drama Mutter Erde ist sie hingegen enttäuscht. Ihrem Resümee zufolge „scheitert“ das moderne Drama allerdings grundsätzlich daran, „lebensgetreue Menschen auf die Bühne zu bringen“ und zu zeigen, „was in Form von feinsten und tiefsten Konflikten der modernen Menschheit zu Grunde liegt“. Denn „der moderne Schriftsteller“ müsse „selbst leiden und sich in seinen edelsten und verborgensten Seelen- und Geistesregungen verletzt sehen“, um die „Phrasendrescherei“ zu überwinden, von der „Schönrednerei und Halbfertigkeit“ zu lassen und endlich die „Darstellung des modernen Menschen zu wagen“.

Die beiden anschließenden Texte Nietzsche in seinen Werken und die Erzählung Amor sind für die Erforschung von Andreas-Salomés Wirken als Autorin weniger interessant. Anders als die Essays zu den Autoren und Autorinnen war ihr Nietzsche-Buch bereits auf Deutsch erschienen, bevor sie für Sewerny Westnik ins Russische übersetzt wurden. Von den drei Teilen des Buches erschienen zudem nur die ersten beiden in der Zeitschrift, die überdies für das russische Publikum von der Redaktion stark gekürzt worden waren. All dies, ohne dass es von Andreas-Salomé autorisiert worden wäre.

Nicht nur ohne Autorisierung durch Andreas-Salomé, sondern sogar ohne ihr Wissen erschien die russische Übersetzung ihrer Erzählung Amor, deren deutschsprachiges Manuskript sie Akim Wolynski überlassen hatte, der nicht nur einer der leitenden Mitarbeiter der Zeitschrift, sondern bis dahin mit Andreas-Salomé bekannt, wenn nicht gar befreundet war. Am Schicksal des Manuskriptes zeigt sich beispielhaft, wie Männer sich Werke von Autorinnen aneignen. Denn Wolynski griff gravierend in den Text ein, verfälschte und verballhornte ihn von Grund auf, so dass kein Stein auf dem anderen blieb – und veröffentlichte ihn unter ihrer beider Namen. Wolynski ließ keinen Satz des Originaltextes unverfälscht und strich munter drauflos, um ihn in das Prokrustesbett seiner Ansichten über die Liebe zwingen. Dabei verstümmelte er Andreas-Salomés durchkomponierte Erzählung sowohl in inhaltlicher wie auch ästhetischer Hinsicht zu einer, wie er sie nannte, „romantische[n] „Skizze“.  

Krupińska hat Andreas-Salomés Texte für Sewerny Westnik mit umfangreichen Stellenkommentaren versehen, die über erwähnte Personen und die Erscheinungsdaten genannter Schriften informieren sowie verschiedene Begriffe erläutern. Im Kommentar zum Nietzsche-Text werden zudem alle Abweichungen gegenüber Andreas-Salomés Nietzsche-Buch verzeichnet und die – zu einem nicht geringen Teil längeren – Passagen abgedruckt, die dem Rotstift der Redaktion zum Opfer fielen. Das Nachwort der Herausgeberin bietet einen Abriss der Geschichte der durchaus wechselhaften ideologischen Ausrichtung der Zeitschrift und geht den Verbindungen zwischen dieser und Andreas-Salomé nach. All das ist hierzulande weitgehend unbekannt und darum sehr informativ. Ebenso kenntnisreich ordnet sie Andreas-Salomés Beiträge für Sewerny Westnik in deren Œuvre ein und geht „inhaltliche[n] Verschiebungen“ gegenüber den zuvor (oder danach) in Deutschland erschienenen Texten zu den deutschsprachigen Autorinnen auf den Grund. Und nicht zuletzt analysiert sie Wolynskis verheerende Eingriffe in die Amor-Erzählung.

Die MedienEdition Welsch hat der Andreas-Salomé-Forschung mit dem vorliegenden Band neues Material geliefert und sie damit einmal mehr um ein gutes Stück vorangebracht.

Titelbild

Grażyna Krupińska (Hg.) / Lou Andreas-Salomé: Russische Texte aus der Zeitschrift Sewerny Westnik.
Aus dem Russischen von Yevgeniya Korol.
MedienEdition Welsch, Taching 2020.
499 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783937211657

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