Geschichten aus einer verlorenen Welt

Kindheitserinnerungen an Südkorea in Lim Chul Woos „Die kleine Insel“

Von Annette ViethRSS-Newsfeed neuer Artikel von Annette Vieth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ja, jeder war einmal ein Stern“, wird der Erzähler am Schluss dieses schmalen Romans voll wehmütiger Erinnerungen an seine Kindheit auf einer kleinen grünen Insel im Süden Koreas die Legende seiner Großmutter über die gemeinsame Herkunft aller Menschen an seine vierjährige Tochter tradieren, die in der Millionenmetropole Seoul im 13. Stock eines Hochhauses aufwächst. Der Kontrast zu seinen eigenen Erfahrungen könnte nicht größer sein, ist er selbst doch als kleiner Junge in einer Dorfgemeinschaft großgeworden, deren beschwerliches und von Traditionen geprägtes Leben sich nah an den Rhythmen der Natur orientierte. Ausgelöst durch die Nachricht vom Tod seiner geliebten Großmutter, in deren Obhut er die ersten zehn Jahre seines Lebens verbrachte, beginnt der Ende dreißigjährige Cheol, inzwischen selbst ein verheirateter Ehemann und Vater, sich wieder an diese Kindheit zu erinnern samt den vielen Geschichten, traurigen und komischen Ereignissen und geheimnisvollen Geisterzeremonien, die diese begleiteten. In seiner Rückschau kehrt der Zauber dieses Lebensanfangs, seine Rätsel, Sehnsüchte und Hoffnungen noch einmal zu ihm zurück und lässt ihn fragen, wie aus ihm bloß ein solch „teilnahmsloser Mann mittleren Alters“ hatte werden können, „mit einem Gesicht, das gezeichnet war von Mühsal und Hass, […] Verzweiflung […] und Unzufriedenheit“.

Der bereits mit etlichen Werken auch ins Deutsche übersetzte südkoreanische Autor Lim Chul Woo, Jahrgang 1954, literarisiert in Die kleine Insel, die im Original bereits 1991 erschien, seine eigenen frühen Kindheitserlebnisse auf der Insel Wando, die er mit dem fiktiven Namen „Nagildo“ versieht. Während Lim in seinem autobiographischen Roman Das Viertel der Clowns. Eine Jugend in Südkorea (1993; dt. 2018) über seine von Armut und Hoffnungslosigkeit überschatteten Jugendjahre am Rande der Großstadt Gwangju zur Zeit der Militärdiktatur schreibt – der Ich-Erzähler heißt auch hier Cheol –, lässt er in diesem Vorgängerroman eine versunkene Welt wiederauferstehen, in der das Leben zwar ebenfalls hart und oftmals von Gewalt geprägt ist, das aber auch einen ganz eigenen kulturellen Reichtum besessen hat. Mit seiner ebenso lebendigen wie poetischen Hommage auf diese Welt seiner Kindheit hebt Lim alias Cheol einen lange vergessenen Schatz, der seinem literarischen Alter Ego neuen Lebensmut und ein Gefühl für seine Wurzeln zurückgibt und diesen Schatz zugleich für die nachfolgenden Generationen bewahrt. Darüber hinaus schenkt Lim mit seiner intrakulturellen Identitäts- und Spurensuche zwischen Tradition und Moderne auch einem internationalen Lesepublikum ein eindrucksvolles Zeugnis von den Eigenheiten einer Region und einer Epoche, die beide längst einem rasanten gesellschaftlichen Wandel anheimgefallen sind – und die doch verzaubern und dank Lims humanistischem Gestus auch heutige europäische Leserinnen und Leser tief zu berühren vermögen.

Wie für Lim typisch, werden alle Ereignisse stark episodisch erzählt und besitzen mit ihrer klaren, schnörkellosen Sprache häufig eine humorvolle, teils burlesk-derbe Note, die dem Geschehen ob ihrer Drastik etwas Komisches verleiht und so den oftmals leidvollen und tragischen Vorkommnissen zumindest einen Teil ihrer Schärfe nimmt. Gleichzeitig gibt es immer wieder sehr poetische Passagen, die eine ganz eigene Bildwelt und Metaphorik entfalten und dabei wiederholt auf schamanische Vorstellungen und Elemente des koreanischen Volksglaubens zurückgreifen. Gerahmt von einem Prolog und Epilog, die zusammen mit dem ersten Kapitel in der Jetztzeit des erwachsenen Cheol angesiedelt sind, werden die Geschehnisse auf Nagildo zumeist aus der kindlichen Perspektive des ca. 7- bis 10-jährigen Cheol geschildert, hinter der nur ab und an die wertende Stimme des erwachsenen Erzählers bzw. des Autors hindurchklingt.

Der kleine Cheol ist das jüngste von eigentlich sechs Kindern, von denen die drei ältesten bereits bei seinen Eltern in der Stadt auf dem Festland leben, während er mit Bruder und Schwester bei seinen Großeltern auf der Insel lebt und seine Mutter und seinen Vater nur selten sieht. Die geschilderten Kindheitserinnerungen beginnen mit seinem 7. Geburtstag, an dem ihm seine Großmutter zum ersten Mal von den Sternen als der ‚wahren Heimat’ der Menschen erzählt, und enden, als er mit 10 Jahren ebenfalls in die Stadt zieht. Staunend saugt dieser kleine Junge alles, was er hört und sieht, in sich auf. Erlebtes und Erzähltes, Gerüchte und Anekdotisches, Geschichten und tatsächliche Ereignisse fließen hierbei unmerklich ineinander und verbinden sich mit der Phantasie- und Vorstellungswelt des Kindes, was dem Ganzen etwas Märchenhaft-Magisches verleiht. Mit seiner ungefilterten Wahrnehmung ist der kindliche Erzähler somit alles andere als ein reflektierter und kritischer Zeitzeuge, auch wenn der erwachsene Erzähler – dieser Erzähllogik eigentlich zuwiderlaufend – subtil nachträgliche Kommentierungen und Einordnungen in dessen Schilderungen einflicht. Trotzdem berührt genau dieser unvoreingenommene und von eigenen Werturteilen weitgehend freie Blick, der eine ganz eigene Unmittelbarkeit suggeriert und den dörflichen Mikrokosmos wie in einem blanken Spiegel präsentiert.

Der offene Blick des Kindes lässt damit Vieles erträglicher erscheinen: Die Härte und Brutalität vieler Begebenheiten ebenso wie die allgemein harten Lebensbedingungen werden durch den ‚naiven Blick’ so immer wieder abgemildert. Gleichzeitig irritiert diese fehlende Wertung aber auch und erscheint nicht nur aus Geschlechterperspektive manchmal doch als etwas zu beschönigend und affirmativ – was wohl auch der Nostalgie des Autors geschuldet ist, der mit diesen Erinnerungen an das verlorene Kindheitsparadies erklärtermaßen eine „Liebesgeschichte“ erzählen will, auch wenn dies keineswegs idyllisch war. Dennoch sind es eben seine frühesten und prägenden Erfahrungen, die in Lims Augen seine größten Schatz darstellen oder wie es im „Wort des Autors“ heißt: „Für mich haben sie eine große Bedeutung“.

Und so versetzen uns Lims Schilderungen an einen Ort und in eine Zeit, in der ein kleiner Junge versucht, die Welt zu verstehen, in die er hineingeboren wurde, und sich in ihren Koordinaten zurechtzufinden. Bei diesen Einordnungsbemühungen haben die Geschichten und moralischen Unterweisungen seiner Großmutter einen ebenso großen Anteil wie die vielfältigen Gerüchte und widersprüchlichen Interpretationen der anderen Dorfbewohner, in die sich zudem zahlreiche Gebote und Tabus mischen. Besonders virulent zeigt sich die Wirkmacht dieser Deutungen und Verhaltensregeln dabei am Schicksal der Frauen.

Zwar von einer rigiden Geschlechterdichotomie und -hierarchie gekennzeichnet, ist die soziale Ordnung auf der Insel jedoch nicht nur eine patriarchale, sondern weist zum Teil durchaus noch (versteckte) matriarchale Züge auf, insbesondere in spiritueller Hinsicht. So glauben die Inselbewohner etwa an einen weiblichen Schutzgeist für die Insel, es gibt in Gestalt der „Mudang“ auch weibliche Schamaninnen, die mit ihren besonderen Kräften eine anerkannte Autorität darstellen, und auch sonst finden die Frauen bei aller haarsträubenden Unterdrückung durch das männliche Geschlecht durchaus eigene Mittel und Wege, um sich und ihre Ziele durchzusetzen. – Wozu allerdings auch gehört, dass es immer wieder gerade die Frauen selbst sind, die hier die patriarchalen Strukturen aufrechterhalten. – Das Leben der Kinder jedenfalls spielt sich vorrangig in einer Welt der Frauen ab, zumal die Männer größtenteils abwesend sind: entweder aus beruflichen Gründen, weil sie die Familie verlassen haben oder weil sie infolge der widrigen Lebensumstände vorzeitig gestorben sind. Cheols Erinnerungen nach sind viele von ihnen so eher lächerliche Gestalten und schlechte Charaktere, bequeme und besitzergreifende Männer, die ihre Frauen ausbeuten und misshandeln und dabei fest von ihrer ‚naturgegeben Überlegenheit’ überzeugt sind (allen voran der cholerische Schürzenjäger Gang oder der brutale Nam, der seine Frau halbtot prügelt).

Diesen entweder negativen oder schlicht absenten männlichen Figuren steht in Lims Text eine Vielzahl weiblicher Figuren gegenüber, die einen viel stärkeren Eindruck bei dem Jungen hinterlassen und deren Geschichten auch für die Erwachsenen einen weit faszinierenderen Gesprächsstoff abgeben. Zumal einzelne Frauen deutlich gegen die traditionellen Geschlechterrollen verstoßen. So lernen wir neben Cheols kluger Großmutter eine ganze Reihe starker Frauenfiguren kennen: die verruchte Beoldeongnyeo, die den Männern den Kopf verdreht und auf Moralvorstellungen pfeift, die einsame Witwe Oma Yaksan, die jede Nacht von ihrem verstorbenen Mann heimgesucht wird, oder die geistig behinderte Oknim, die sich standhaft gegen alle sexuellen ‚Avancen‘ wehrt und lieber ohne Mann bleibt. Und ganz besonders Eopsunne, die es nach 20 Jahren häuslicher Gewalterfahrung schafft, sich mittels einer eindrucksvollen Geisterbeschwörung endlich gegen ihren brutalen Ehemann zu wehren und zur neuen Dorfschamanin aufsteigt. Einzelne Passagen ihrer Geschichte lesen sich fast wie ein feministisches Manifest, wenn es heißt:

Ach, unter was für einem schlimmen Karma haben Frauen in dieser Welt zu leiden! Nur weil wir ohne diese Stange zwischen den Beinen geboren sind, müssen wir bis zu unserem Lebensende all diesen Bestien zu Diensten sein. Zu was für einem Schicksal wir Frauen geboren sind! […] die Männer auf dieser Insel haben kein Herz. Sie behandeln ihre Frauen wie Dienerinnen oder, schlimmer noch, wie Schweine oder Hunde.

Manchmal allerdings gibt es zwischen den beiden Geschlechtern doch ein Happy End, wie die anrührende Geschichte des hinkenden Fahrkartenverkäufers Bongmuk und der tapferen Barfrau Geumok zeigt, der es einmal bitter entfährt: „Niemand kümmert sich um uns Frauen, wenn wir uns nicht selbst um uns kümmern.“

Die Frauen und Männer, die Lim hier porträtiert, sind einfache Menschen, die trotz ihres mühseligen Alltags dennoch eine besondere „Gelassenheit“ und „Großzügigkeit“ besitzen. Es sind Geschichten kleiner Leute, denen Lim dabei mit feinen Strichen eine ganz eigene Individualität verleiht, auch wenn sich ihre Stimmen immer wieder im kollektiven Chor der Dorfgemeinschaft auflösen. Die geschilderten Episoden wirken so einerseits entrückt wie aus einer weit entfernten, fast archaisch anmutenden Vergangenheit, mit Begebenheiten, die in ihrer teilweisen Grausamkeit und düsteren Melancholie den Grimm’schen Märchen oft in nichts nachstehen (wie etwa die Geschichte vom an Lepra erkrankten fünfjährigen Mädchen, das von seiner Mutter lebend in ein Grabloch gelegt wird und darin mit einem Strauß blutroter Kamelien in seinen Händchen stirbt), und lassen sich andererseits doch sehr spezifisch in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren Südkoreas verorten. Was nostalgisch anmutet, erweist sich so dennoch als präzise Beobachtung der sozialen Lebenswirklichkeit.

Gerade die vielen Dialogsequenzen bilden dabei eine lebendige Mehrstimmigkeit ab. Ob es sich nun um die möglichen Botschaften ihrer Träume handelt, die vielen Klatschgeschichten und derben Späße oder um ernste Entscheidungen: Der Erzähler zeichnet darüber immer wieder diskursive Prozesse der gemeinsamen Meinungsbildung nach, die das Wertesystem und die Zusammengehörigkeit der Dorfleute stärken. Und die dem jungen Cheol einen Kompass für dessen eigene Entwicklung mitgeben, lebt dieser doch von Anfang an mit und in den Geschichten seines Dorfes. Auch wenn ihm manche davon Albträume bescheren, verbürgen erst sie ihm eine Identität, binden ihn sozial ein und geben ihm in dieser Welt einen Platz. So ruft das Geschilderte eine Form der kulturellen Identität in Erinnerung, die Lim in seinem Epilog einer durchkapitalisierten, hochtechnologischen, digitalen Gegenwart diametral gegenüberstellt und aus der sein literarisches Alter Ego schließlich eine erstaunliche Lebensbejahung und unverhoffte Selbstvergewisserung schöpft.

Der „ungeratene Enkel“, der seiner Großmutter später so viel Kummer bereitet hat, findet mit seinen wieder ausgegrabenen Erinnerungsschätzen somit endlich ein Stück weit zu sich selbst zurück. Wenn Cheol im 7. Kapitel „Der bucklige Stern“ unter der leitmotivischen Frage „Woher kommen wir?“ die Geschichte seiner Geburt nicht nur vom Hörensagen schildert, sondern diese geradezu aus der Warte eines quasi schon ausgebildeten Bewusstseins seiner selbst erzählt („Als ich aus dem mütterlichen Bauch herausgerutscht war […], muss mir klar gewesen sein, dass ich in meine alte Heimat im Himmel oben für lange Zeit nicht mehr zurückkommen würde.“), dann schafft er damit seinen eigenen Ursprungsmythos und bringt sich durch seine Narration indirekt noch einmal zur Welt, auch wenn er die Umstände dieser Geburt als Ursache für seine spätere Bitterkeit und Traurigkeit deutet. Und so wird aus dem „dummen Stern“ am Ende innerlich doch zumindest ein klein wenig wieder ein Stern, der trotz allem noch immer glänzt. Die besondere Kraft dieses Gedankens versucht Cheol schließlich auch seiner kleinen Tochter mitzugeben. Ist er in seiner (vorläufigen) Lebensbilanz doch zu dem Schluss gelangt, dass wir alle einmal an eine solch „schöne Geschichte“ wie die von unserer vergessenen Sternenherkunft glauben sollten, die uns in einer Welt „voll von Leid [und] Betrübnis“ an den Wert jedes Menschen erinnert.

Abschließend noch ein Wort zur deutschen Ausgabe: Der sorgfältig edierte Band enthält neben der lebensnahen Übersetzung sowohl zentrale Wort- und Sacherläuterungen als auch Erläuterungen zur Aussprache der koreanischen Namen und Begriffe. In ihrem Nachwort geben die beiden Übersetzer Youngsun Jung und Herbert Naumann weitere wertvolle landeskundliche wie biographische Hinweise und nehmen zudem eine eigene literarische Einordnung von Lims Text vor. Neben Lims weiteren Werken, darunter die Erzählbände Das rote Zimmer (dt. 2003) und Die Erde des Vaters (dt. 2007) sowie sein Roman Abschiedstal (dt. 2015) zur Problematik der „Trostfrauen“ während der japanischen Besatzung, sei hier außerdem noch Teil 2 einer fünfteiligen ARTE-Dokumentation über Südkorea empfohlen, in der Lim Chul Woo seine Heimatinsel Wando vorstellt und in die Gedankenwelt seiner Bewohnerinnen und Bewohner einführt (Südkorea – Das Land der vielen Wunder. Die Inseln Jeju und Wando, F/ARTE 2015, 45 min., Regie: Jacques Debs).

Titelbild

Chul Woo Lim: Die kleine Insel.
Aus dem Koreanischen von Jung Youngsun und Herbert Jaumann.
Iudicium Verlag, München 2020.
187 Seiten , 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783862056354

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