Wie Goethe Regie führte

Gerhard Bauer zeigt in „Gesprächskünste“ eine neue Sicht auf „Die Wahlverwandtschaften“

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Patina hatte Johann Wolfgang Goethes Roman Wahlverwandtschaften zwar noch nicht angesetzt, doch in der literaturwissenschaftlichen Diskussion fanden sich in letzter Zeit eher selten anregende, neue Sichtweisen eröffnende Beiträge über das Sujet, die Figuren und ihr komplexes, mitunter einfach kompliziertes Beziehungsgeflecht. Der Literaturwissenschaftler Gerhard Bauer denkt in dieser konzisen, souverän erarbeiteten Studie über die Kunst der Konversation und des beredten Schweigens nach, was Goethe nicht weniger gekonnt inszeniert und gestaltet hat als die Szenerie in seinen Dramen. Der früher an der FU Berlin lehrende Germanist lässt viele der heute vertretenen Methoden, postmoderne Deutungsansätze und neuere diskurstheoretische Interpretationsstrategien zur Literatur weitgehend unberücksichtigt. Auch Bezüge zu Gendertheorien bleiben außen vor: „Die Gestalten stehen sich vielmehr durchweg so gegenüber, wie sie von Natur bestimmt sind, in erster Linie als Mann und Frau.“

Was lässt sich heute also über Die Wahlverwandtschaften sagen? Unbekümmert bleibe Goethe, so stellt Gerhard Bauer fest, gegenüber einem ständischen Denken, das äußerlich, trotz eingeübter Rollenmuster, zwar bestehe. Die inwendig bestimmenden emotionalen Regungen ließen sich weder von einer bürgerlichen Gesellschaft noch von einem konventionellen Regiment der Stände einhegen. Der Germanist zeigt auf, beobachtet und berücksichtigt den historischen Kontext, in dem der Roman entstanden ist. Das wird auch daran deutlich, dass Bauern und das Gesinde in dem Roman zwar auftreten, aber allesamt nicht zu Wort kommen. Der „sozialen Welt“ werde von den Akteuren „alles Mögliche“, aber „nur wenig Gutes“ nachgesagt. Einleitend spricht Gerhard Bauer über den „Spätabsolutismus auf deutschem Boden und seine Auswirkungen bis in die Köpfe und Nerven der handelnden Figuren hinein“: „Die Härten dieses Absolutismus und trotzdem die Gewöhnung daran kommt, scheint mir, im historischen Abstand schärfer heraus, als sie sich den Zeitgenossen dargestellt haben.“ Die Reflexion der „höfischen Werte“ findet in diesem Roman nicht statt. Die „brutale Seite des Absolutismus“ sei in der Weimarer Klassik zwar gegenwärtig, doch worüber tauschen sich Goethes Figuren aus? Gerhard Bauer legt dar:

Statt mit allem Möglichen, was bei Hofe weiter passiert, beschäftigen sich die Figuren des hier versammelten Quartetts mit ihrem Innenleben und mit einander: mit allem, was sie einander unterstellen und voneinander erwarten. Als handelnde Personen treten sie nicht besonders hervor, unerschöpflich aber sind sie im Austausch von Worten.

In dem Roman gebe es Formen des Redens, aber auch des bedeutungsvollen Schweigens, etwa im Fall von Ottilie. Beständig seien bei den übrigen Beteiligten die „Zungen“ in Bewegung, insbesondere beim redseligen, ausnehmend geschwätzigen Mittler, der sich ohne Unterlass mitzuteilen weiß. Diese Gestalt stabilisiert bornierte Moralvorstellungen durch ausschweifende Reden. Anspielungsreiche Dialoge finden statt zwischen Eduard, Charlotte, Ottilie und dem Hauptmann. Über die Kunst der Konversation schreibt Gerhard Bauer:

Mit dem Reden schafft der Dichter Leben, spezifisch menschliches Leben mit allen Äußerungen des Fühlens, Wollens, Denkens, des Mit- und des Gegeneinanderhandelns. […] Reden ist Leben, oder schafft die Illusion, dass es Leben hervorruft.

Die „Dialogizität“ der Dramen sei eine andere als die des Romans. Bei Goethe erscheine das menschliche Leben in der „Form von Leben-im-Roman“ somit „als in Wörtern errichtete Simulation von Existenz(en)“. Er präsentiere unterschiedliche Gesprächskonstellationen, ebenso eine Reihe von „Handlungs- und einige Redesequenzen“, variierende Akzente, wie das „werbende, ja vereinnahmende Sprechen des reifen Hausherrn mit der jungen Geliebten“. Ottilie wisse sich oft nur durch „völliges Verstummen“ Eduard zu entziehen:

Die letzten immer noch zahlreichen Gespräche drehen sich um den (vergeblichen) Versuch, dieses Schweigen aufzulösen, und um den Umgang mit der sich mehr und mehr entziehenden, schließlich der toten Ottilie. Viele Worte werden in allen Phasen dieses dramatischen Geschehens aufgeboten, aber das Leben dieser liebenswürdigsten von allen Romanfiguren Goethes lässt sich weder durch Reden noch durch sonstige Fürsorge retten.

Soviel auch die Figuren einander mitteilen oder miteinander teilen, so bezeugt der Romancier zugleich die Ohnmacht der Sprache und der Gesprächskunst derselben, wie Gerhard Bauer am Beispiel von Ottilie herausstellt. Auch Worte können sie vor dem Tod nicht bewahren. Ottilies Beziehung zu Eduard schenkt der Germanist besondere Aufmerksamkeit. Er sei „von Adel“ und bemühe sich, „edel zu denken“. Eduard gelte als tapferer, „resoluter Mensch“:

Als das bedeutendste Erlebnis seines Lebens wird herausgestellt, dass er sich, obgleich schon beträchtlich in den Jahren, hemmungslos in die junge frische Ottilie verliebt. Diese Liebe und die Art, wie Ottilie sie ihrerseits erwidert, füllt den Roman bis an den Rand.

Eduard begehrt, strebt nach Kontakt und einer Verbindung. Ottilie, sehr jung und schüchtern, trete als „Schweigsame“ auf, die ihm zuhöre. Bauer zufolge genüge ihm ein Zuhören als Gespräch. Das könnte sein, es lässt sich aber – die Deutung erweiternd – auch erwägen, ob der von Ottilies bloßer Erscheinung betörte Eduard überhaupt noch etwas geordnet wahrzunehmen weiß oder nicht längst, inwendig verzückt, wie von Sinnen ist. Ottilie ist da, und der verheiratete Eduard erliegt ihrem Reiz unmittelbar, was seine spröde, klarsichtige Gattin Charlotte analytisch klar erkennt.

Knapp und souverän schildert Bauer die emphatischen Überreizungen, die „regelrechte Genießer“, ob Leser, Kritiker oder Literaturwissenschaftler, für die Liebesbeziehung von Eduard und Ottilie äußern: „Sie berufen sich auf die Interessantheit dieses schon uralten und neuerdings besonders verbreiteten Phänomens, auch auf seine Ergiebigkeit für alle Literatur, für den Roman an erster Stelle.“ Gerhard Bauers Deutungen indessen bleiben, im Unterschied zu den zuvor genannten Zugangsweisen, wohltuend sachlich wie realistisch. Zu Schwelgerei und Schwärmerei lädt Goethe nicht ein. Er habe klug erzählt, die Charaktere deutlich vorgestellt:

Nüchtern betrachtet kann man nur feststellen, dass Eduard heilfroh sein kann, dass ihm Ottilie erspart geblieben ist. Die Diskrepanz zwischen ihren Ansprüchen an das Leben, an andere Menschen und nicht zuletzt an sich selbst war und blieb so gravierend, dass nur ein unaufhörlicher Frust herausgekommen wäre.

Bauers Analyse ist ein wichtiges literaturwissenschaftliches Korrektiv. Plastisch, anschaulich legt er dar, dass die „Gedanken-Liebe Eduards zu Ottilie“ in allem „hochgradig dezent“ bleibe: „Nur: Die Sprache und die Gedanken, die sprachlichen Bilder, ohne die er nicht auskommt, die sprechen eine andere Sprache.“ Mit der „Sprache der dezenten Verhüllung“ umkleidet Eduard sein Begehren: „In der nächsten Nähe der Geliebten zu sitzen reicht ihm schon. […] Von Ottilies Seite ist die Annäherung sowieso nur rein geistig.“ Goethe habe „seine ganze Kunst aufgeboten, sie so attraktiv wie möglich zu gestalten“. Allgemein fügt er an: „Die Liebe als solche macht interessant und versöhnt die Leser auch mit bestehenden Härten der Figurenzeichnung. Liebe ist das erste und vornehmste Thema der Literatur, ein wahrhaft unerschöpfliches Thema.“ Das mag sein, in jedem Fall vermehren gut erzählte, unsentimentale Liebesgeschichten niemals die Langeweile in der Welt.

Bezogen auf Gespräche trete Eduard als der „führende Initiator und Rhetor“ auf:

Mit seiner Frau Charlotte hat er eine gute und persönliche, aber etwas oberflächliche und nicht sehr belastbare Beziehung aufgebaut; sie verringert sich, je entschiedener er sich der neu aufgehenden Sonne Ottilie zuwendet.

Charlotte sei zuständig für die „Aufrechterhaltung der Ordnung“: „Sie ist klug, aber verständnislos; manche ihrer Einschätzungen der Lage verraten deutlich einen Mangel an Empathie. Sie ist eng mit ihren moralischen Ansichten.“ Diese konstatierte Enge könnte aber darauf hindeuten, dass Eduards Gattin von Verlustängsten geplagt ist. Als besonders fromm oder sittlich integer wird sie von Goethe nicht vorgestellt. Sie ist in dem Sinne also kein weibliches Pendant zum lästigen Mittler, sondern eher illusionslos und veränderungsscheu. Charlotte äußere sich, so Bauer, „befremdlich steif und gestelzt“. Ihre „Selbstsicherheit“ könne dennoch nicht die „ausgemachte Angst vor dem, was kommen könnte“, verbergen. Sie sei die „Sparkasse der wirtschaftlichen Einheit Gut, Haushalt und Park“, betreibe aber näher besehen eine „Schuldenwirtschaft“. Ihr Bekenntnis zur „Intimität der streng auf zwei Menschen begrenzten Beziehung“ und zur Ehe erweise sich als „Bekundung und vergebliche Verarbeitung der Einsamkeit“. Charlotte leide „vermutlich stärker … als die übrigen Figuren im Roman“, mit Eduard bis zu seinem Tod verbunden, „auch wenn das zentrale Paar sich immer weniger einig ist“. Sie befinden sich in einer „stabilen wie ausgeleierten Paarbeziehung“:

Wenn Eduard mit Charlotte zu zweit ist, ist sie ihm offensichtlich überlegen in der Aussprache auch des Peinlichen, im Zureden zur Vernunft. Sie muss geradezu für sie beide denken und das Resultat in passende Worte bringen. Die Erhaltung ihrer Ehe ist bei ihr zu einer Art Mantra geworden. Sie kommt wieder und wieder darauf zurück. Dabei weiß sie eigentlich schon (könnte es wenigstens wissen), dass sie damit ihren Noch-Ehemann eher jagen als umstimmen kann.

Die Szenerie des Romans charakterisiert Bauer summarisch wie folgt: „Der Mensch in den Kapiteln dieses Romans ist ein (zumeist) vernünftiges, selbstbewusstes, sich selbst gebietendes, aber auch selbstzentriertes und selbstzufriedenes Wesen.“ Eine rationale Ordnung der Dinge und eine vorausschauende Planung streben alle an:

DerSinn für offene Alternativen, das Spiel mit Prognosen mit durchweg bösem Ausgang gibt diesem Roman etwas Geheimnisvolles, passagenweise Unheimliches. Die Figuren erwarten nichts anderes als den allmählichen Fortgang der Zeit, aber nicht mal auf das, was der nächste Moment bringt, können sie sich verlassen.

Eine wesentliche Pointe der Wahlverwandtschaften könnte auch darin liegen, dass die Ausrichtung auf eine stabile, fortdauernde Lebensgestaltung nicht gelingt, auch weil die besten Absichten zwar beredt artikuliert werden, aber nicht von Dauer sind. Die einfühlsame Ottilie etwa entdecke die scheinbar konstitutive „Unfestgelegtheit und Unzuverlässigkeit der Menschen“: „Gleichbleibendes Merkmal des Menschen: er mag und kann immer auch anders.“ Mehr als alle in Gespräche verstrickte Figuren dominiere der souveräne Erzähler, der Regie führe: „Der Erzähler ist die führende und dirigierende Instanz, für die Handlungen wie für die Reden seiner Figuren. Er schreibt in den Roman hinein, wie ein Sprecher etwas gemeint hat, und nicht selten, was die Leser denken sollen.“ Über Goethe sagt Gerhard Bauer: „Selbst auf kleine Details verwendet er alle Sorgfalt.“ Das ist treffend formuliert und fern der Monumentalisierung ein präziser Ausdruck, um die Romankunst Goethes exakt zu kennzeichnen. Die Wahlverwandtschaften besäßen ein „eigenes Flair“: „Der dies geschrieben hat, denkt über die engen Verhältnisse im damaligen Deutschland hinaus. Wer es liest, soll ebenfalls seinen Horizont ausweiten, auch sprachlich.“

Wer Goethes Roman heute erstmals oder wieder für sich entdecken möchte, findet in Gerhard Bauers ausgezeichnetem Band neue Perspektiven und Zugänge, um sich mit Freude auf den Pfad der Lektüre zu begeben. Anregend könnte dieses Buch zugleich für künftige literaturwissenschaftliche Studien über Goethe und seine Kunst sein, für Forscherinnen und Forscher, die abseits der etablierten methodischen und literaturtheoretischen Wege das Terrain der Weimarer Klassik erkunden möchten.

Titelbild

Gerhard Bauer: Gesprächskünste. Goethes »Wahlverwandtschaften« neu erwogen.
Transcript Verlag, Bielefeld 2020.
208 Seiten, 45 EUR.
ISBN-13: 9783837655407

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