Ein echter Kracht

Christian Krachts sechster Roman „Eurotrash“ überrascht mit einer ungewohnten Mitteilsamkeit

Von Christian DingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Dinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Alles begann mit einem Jever aus der Flasche bei Fisch-Gosch auf Sylt und endete dann nach knapp 160 Seiten mitten auf dem Zürichsee. Als Christian Krachts Debüt Faserland 1995 erschien, ließ es die literarische Öffentlichkeit nach der Lektüre mit einer Menge Fragen zurück, die noch jahrelang nachhallten: Hat der namenlose Protagonist Suizid begangen? Sieht dieser wohlstandsverwahrloste Snob in der Barbourjacke nicht dem Autor zum Verwechseln ähnlich? Und was sollen die ganzen Markennamen im Roman?

Ein Vierteljahrhundert und einen Kanonisierungsprozess später legt Kracht seinen sechsten Roman vor. Er trägt den Titel Eurotrash und kaum liest man den ersten Absatz, in dem der Ich-Erzähler bemerkt, er habe vor 25 Jahren einen Roman namens Faserland geschrieben, beginnen wieder die Fragen: Christian Kracht goes Autofiktion? Was soll dieses Kokettieren mit dem Echtheitssiegel bei einem, der als undurchschaubar gilt? Was soll diese Selbstreferentialität bei einem Autor, der sich jahrzehntelang jeder Kommentierung seines Werks enthalten hat?

Tatsächlich bleibt der Protagonist dieses Mal nicht namenlos, sondern heißt Christian Kracht. Und wie man es von autofiktionalen Texten mittlerweile kennt: Auch die Gattungsbezeichnung „Roman“ und die vorangestellte Erklärung, die Figuren und Handlungen in diesem Roman seien rein fiktiv, können an der auf diese Weise provozierten Gleichsetzung von Autor und Erzähler nicht mehr rütteln. Sollen sie vielleicht auch gar nicht. Denn jenseits dieser paratextuellen Klarstellungsgesten lässt der Roman keine Zweifel, um wen es sich beim Protagonisten handeln soll: Um das Faszinosum der Feuilletonwelt. Um den Dandy, der keiner sein will. Um den Globetrotter mit ständig wechselnden Wohnsitzen auf unterschiedlichen Kontinenten.

Dieser Christian Kracht verlässt also jetzt seinen gerade aktuellen Wohnsitz und fährt nach Zürich, „dieser Stadt der Angeber, Aufschneider und der Erniedrigung“, um dort pflichtschuldig und etwas widerwillig seine Mutter zu besuchen. Diese lebt seit Jahrzehnten alleine in ihrer Wohnung am Zürichsee, umgeben von Schmerztabletten, Wodkaflaschen und Klatschmagazinen. Das Einzige, wozu sie noch in der Lage zu sein scheint, ist Anschuldigungen, Ressentiments und Bitterkeit zu versprühen. Für den Erzähler ist die Sache klar: Der geistige und körperliche Zerfall seiner Mutter ist nur die Fortsetzung einer epigenetischen Degeneration, die sich in seine Familiengeschichte eingeschrieben hat. Seine Gedanken kreisen um den seelenlosen Reichtum, in dem er aufgewachsen ist, um den Vater, der Zeit seines Lebens nur darum bemüht war, seine armutsbefleckte Herkunft zu verschleiern, und um seinen Nazi-Großvater, den Vater seiner Mutter, der in der Reichspropaganda-Abteilung der NSDAP tätig war und sich nach dem Krieg in seinem Haus auf Sylt mit nordischen Runen, SM-Spielzeug und alten SS-Kameraden umgab.

Um endlich aus diesem unheilvollen Kreislauf auszubrechen, überredet Kracht seine Mutter zu einer Reise. Mit drei Flaschen Wodka, diversen Psychopharmaka und einer großen Plastiktüte voller Geld im Gepäck geht es los. Diesmal nicht durch das zerfaserte Deutschland der 1990er Jahre, sondern kreuz und quer durch die Schweiz. Die Mission: Die 600.000 Schweizer Franken aus der Plastiktüte zu verschenken, die – wie könnte es anders sein – vorher in Aktien für deutsche Waffensysteme angelegt waren, um sich endlich vom drückenden Familienerbe zu befreien. 

Was klingt wie ein irrwitziges Roadmovie, ist tatsächlich eines. Aber nur zum Teil. Denn das erste, was Kracht-Kenner*innen auffällt, ist das Bekenntnishafte dieses Romans, das sich fast zwangsläufig als Ausdruck einer werkpolitischen Wende liest, die mit der Frankfurter Poetikvorlesung im Sommersemester 2018 ihren Anfang genommen hat. Damals hat Kracht, der in Interviews immer nur einsilbig und am liebsten gar nicht über sich und sein Schreiben gesprochen hat, nicht nur seine literarischen Einflüsse offengelegt, sondern auch erstmals öffentlich über den Missbrauch gesprochen, den er als junger Schüler in einem kanadischen Internat erfahren musste.

Und nun ist da plötzlich dieser autofiktionale Roman, in dem nicht nur Krachts Missbrauchserfahrung als Kind thematisiert wird, sondern so vieles mehr, das sich als autobiographischer Schlüssel zum vielbesprochenen, vielkritisierten und mittlerweile auch vielbeforschten Werk anbietet: Das kühle Verhältnis zum Vater und sein Hang zum Luxus. Das Kindheitstrauma elterlicher Abwesenheit. Die Scham, die der Erzähler für die Nazi-Vergangenheit seiner Familie empfindet. Und gleichzeitig stellt sich beim Lesen immer wieder die Skepsis gegenüber der ungewohnten Mitteilsamkeit des Romans ein, die Angst, dem Autor auf den Leim zu gehen. Dass auch hier scheinbar alles, was Kracht erzählt, von einem großen Augenzwinkern begleitet wird, macht es nicht einfacher. Die ewige Frage der Autofiktion, „Ist er’s oder ist er’s nicht?“, hat in Eurotrash eine ganz andere Dimension, denn es geht um die Bewertung des Gesamtkunstwerks Christian Kracht.

Manch eine*r mag unangenehm berührt sein von so viel scheinbarer oder tatsächlicher Offenherzigkeit. Andere sind vielleicht ermüdet von dem ewigen Versteckspiel mit dem Autor, das in der Gegenwartsliteratur gerade so beliebt ist. Und tatsächlich ist der Roman immer dann am schwächsten, wenn er den Bogen der Selbstreferentialität überspannt. Wenn Krachts Mutter ihrem Sohn zuraunt: „Wußtest du, daß wir gerade in einem Buch beschrieben werden?“ – dann verkommt das Kracht’sche Augenzwinkern zu einer Nebelkerze, der es an jener Subtilität mangelt, die der Autor sonst so brillant beherrscht.

Für diese Schönheitsfehler werden die Leser*innen von Eurotrash jedoch reichlich entschädigt. Neben bernhardesken Schimpftiraden über die Schweiz und Deutschland kann man sich an Szenen voller Komik erfreuen, wenn der Erzähler in einer völkischen Kommune für Daniel Kehlmann gehalten wird oder wenn Kracht sich daran erinnert, wie er als betrunkener Jungautor versuchte, den damaligen Außenminister Joschka Fischer zu Boden zu ringen, was jedoch am Widerstand seiner Personenschützer scheiterte. Und immer wieder liest man Beobachtungen, die so treffend sind, dass sie in wenigen Sätzen eine Figur aufs Schärfste charakterisieren. So etwa die Anekdote, Krachts Vater, der Generalbevollmächtigte der Axel-Springer-AG, habe „zeit seines Lebens zu einem kleinen Viereck gefaltete Zwanzigfrankenscheine in der rechten Handfläche parat gehabt, um sie beim Händedruck dem jeweiligen Personal verschwörerisch zu überreichen.“ Mit dieser gönnerhaften Geste habe er, der Parvenü und Aufschneider, versucht, sich noch mehr Unterwürfigkeit zu erkaufen.

Man mag von der autofiktionalen Wende in der Inszenierungspraxis des Autors halten was man will – die geschliffenen Sätze in Eurotrash zu lesen, ist ein kurzweiliger Genuss.  Und wer die früheren Bücher von Kracht verschlungen hat, kommt auch dieses Mal auf seine Kosten, denn dieser Roman ist vor allem eines: ein echter Kracht. Ein Roman nämlich, der auf gekonnte Weise die bekannten Motive aus Krachts Oeuvre in eine neue Form gießt: Der Protagonist auf Sinnsuche, die Erbschuld der Deutschen, das verlorene Paradies jenseits von Europa. Und er lässt einen nach der Lektüre – wie jeder Kracht-Roman – mit einem verstörenden Gefühl zurück und mit einer Menge Fragen, die noch lange nachhallen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Christian Kracht: Eurotrash.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021.
210 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783462050837

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