Lyrik lesen

Zwei Bände mit Essays von Werner Hamacher zu Hölderlin und Celan

Von Gerhard PoppenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gerhard Poppenberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer das glückliche Privileg hatte, den Philologen Werner Hamacher (1948–2017) in seinen Seminaren zu erleben, wird ganz besonders seine Gabe des Lesens in Erinnerung haben. Mir jedenfalls ist seit der Zeit, als ich Anfang der Achtzigerjahre an seinen Kursen am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft – heute Peter Szondi-Institut – der Freien Universität Berlin teilnahm, kaum je wieder ein Leser mit einer derartigen hermeneutischen Kraft begegnet; die Erfahrung war prägend. Seine Lektüren erschlossen auch Texte, die im Ruf opaker Hermetik standen – beispielsweise von Gertrude Stein oder Antonin Artaud, Stéphane Mallarmé oder Georg Trakl – mit immer wieder erstaunender Luzidität. Dazu kam eine theoretische Grundlegung dieser Lesepraxis, die den Studierenden die stärksten Autoren der Tradition sowie der Gegenwart zumutete, um den hermeneutisch vermittelten Aufstieg zu den Texten mit der Arbeit am Begriff zu sichern, ohne doch je die literarische Dimension der gelesenen Werke auf wohlfeile philosophische Erkenntnis abzuziehen.

Es ging ihm um die eigene Wirklichkeit der Literatur im Horizont der Philosophie. Das stand in der Linie von Jacques Derrida und Paul de Man, Martin Heidegger und Walter Benjamin, die den Erkenntnisanteil von Literatur und Dichtung sowie den dichterischen Anteil der Philosophie zu erklären begonnen hatten. Das Thema seiner Dissertation – und ihre Art, die an Derridas Glas orientiert war – ist exemplarisch: Hegels dialektische Hermeneutik. Als er nach seinen Jahren in den USA 1998 eine Professur für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Frankfurt innehatte, lud er bisweilen zu Arbeitstreffen ein, die unter der leitenden Frage standen: „Wie denkt Literatur?“

Zu Lebzeiten hat Hamacher seine zahlreichen Aufsätze über einzelne Werke, Autoren und literaturtheoretische und philologische Grundsatzfragen weitläufig verstreut publiziert und nur sehr wenige davon in dem einen oder anderen Buch gesammelt veröffentlicht. Deshalb ist es sehr zu begrüßen, dass nun postum – nachdem 2018 der noch vom ihm selbst vorbereitete Band Sprachgerechtigkeit erschienen war – zwei Bände mit Aufsätzen vorgelegt werden, die herausragende Zeugnisse der Lesekunst Hamachers sind. Sie bieten jeweils Texte zu Friedrich Hölderlin und Paul Celan. Das ist nicht nur deshalb verdienstvoll, weil in den beiden Bänden die zum Teil schwer oder bislang nur in französischer oder englischer Übersetzung zugänglichen Texte versammelt sind, sondern auch, weil sie um bislang unveröffentlichte Arbeiten ergänzt wurden. Dafür sind allerdings einige Aufsätze nicht aufgenommen worden. Zwei Texte zu Celan findet man zwar in anderen Büchern von Hamacher, man hätte sie aber doch der Vollständigkeit halber auch in diesen Band aufnehmen können. Einen Aufsatz zum späten Hölderlin muss man weiterhin in den Hölderlin-Studien nachlesen. Zu wünschen ist aber, dass solche Sammlungen fortgesetzt werden. Zumal die Essays des Literaturtheoretikers Hamacher, der sich zeitlebens auf höchstem Niveau mit Autoren wie Benjamin und Heidegger auseinandergesetzt hat, der Schüler von Szondi, Derrida und de Man war und in ihrer Bahn weitergedacht und ihre sprachtheoretischen Implikationen konsequent und radikal freigelegt hat, sollten bald in einem Band gesammelt werden.

Hamachers Lesekunst wird geleitet von dem hermeneutischen Imperativ, das Verstehen sei wesentlich das des Fremden. Der Wunsch, „die eigene Rede des andern“ (Hölderlin) zu verstehen, ist der Sinn des hermeneutischen Zugriffs, der in dem Maß ein Übergriff wird, wie er diese fremde Rede durch Projektion des Eigenen überlagert und verfälscht. In der deutenden Auseinandersetzung mit der gern als ‚hermetisch-dunkel‘ klassifizierten Lyrik Hölderlins, vor allem der aus der Spätzeit, und Celans wird der eulenartige hermeneutische Blick Hamachers besonders deutlich. Der Band zu Hölderlin macht die seinerzeit in Photokopien kursierende Magisterarbeit Version der Bedeutung. Studie zur späten Lyrik Hölderlins allgemein lesbar, mit der 1971 der Dreiundzwanzigjährige bereits in voller Rüstung aus dem Haupt der Athene in den akademischen Raum getreten war. Die kaum anderthalb Seiten umfassende Bibliographie, die neben ein paar Arbeiten der Schulgermanistik eine bedeutsame Auswahl großer Texte der Tradition von Hesiod, Heraklit und Platon, Kant, Fichte und Hegel bis zu Heidegger, Adorno und Szondi anführt, zeigt sein eminentes Selbstbewusstsein. Souverän würdigt er in seinen Ausführungen die Deutungen Heideggers und Adornos, lässt aber auch die Schwächen und Unzulänglichkeiten ihres deutenden Zugriffs erkennbar werden. 

Die Arbeit hat auch fünfzig Jahre nach ihrer Entstehung nichts von ihrer erschließenden Kraft für das Spätwerk Hölderlins verloren. Ihr radikaler Ernst gründet auch darin, dass Hamacher seinerzeit bereits als einer der ersten im deutschen akademischen Raum die kurz zuvor publizierten Arbeiten Derridas aufgenommen hatte. Der starke Begriff des Differentiellen und der Geist der Dekonstruktion haben ihm die Augen geöffnet für bestimmte Schreibstrategien des späten Hölderlin. Nicht nur der Begriff der Dekonstruktion findet sich im Text, vielmehr sind die leitenden Motive Derridas methodisch maßgebend für Hamachers hermeneutisches Denken. Die Kritik der Selbstpräsenz, die Derrida in seinen Schriften der späten Sechzigerjahre entwickelt hat, führt zur Kritik einer Semantik und Hermeneutik des eindeutigen und „synthetisierenden“ Sinns. „Die differentiale und dadurch Erkenntnis ermöglichende, aber auch einschränkende, – sie als Erkenntnis eines Identischen, also als Erkenntnis verunmöglichende Struktur des Zeichens bildet bis für die späten Gedichte Hölderlins eines der bedeutendsten sujets von Hölderlins Produktion.“

Wenn Bedeutung an die Identität eines Sinns und eines Selbst, das ihn vernimmt, gebunden ist, also „bedeutungsvolle, ihrer selbst gegenwärtige Rede“ ist, dann sind die poetischen Bildungen Hölderlins solche, in denen die „Bedeutung von ihrer Sehnsucht nach Erfüllung so getroffen ist, dass sie, zum Moment der Artikulation geworden, allein das Eingeständnis der Unerreichbarkeit dessen, was sie erstrebt, darstellt“. Die Sätze deuten auch die theoretische Tonhöhe und reflexive Dichte der Arbeiten Hamachers an. Aus dem Umfeld der Magisterarbeit werden auch zwei Passagen einer geplanten Dissertation zu Hölderlin publiziert, die Hamacher zu Gunsten der Hegel-Studie nicht weitergeführt hat. Sie zeigen, wie stark er Hölderlin im Horizont der philosophischen Tradition und im Kontext des deutschen Idealismus liest. Ein wirklicher Verlust ist es, dass Hamacher nicht mehr dazu gekommen ist, mit den gereiften und radikalisierten Einsichten seiner späten Jahre noch einmal eine große Hölderlin-Studie zu schreiben. Ein Aufsatz zu Heideggers Hölderlin-Deutung wird ebenfalls aus dem Nachlass zugänglich gemacht. Die Auseinandersetzung mit Heideggers Dichtungskonzeption führt Hamacher zu grundlegenden Reflexionen über das Wesen der Dichtung, die tiefe Einsichten in die Frage „Wie denkt Literatur?“ vermitteln.

Auch Celans Gedichte bilden in Hinsicht auf „die eigene Rede des andern“ eine große Herausforderung, denn sie gründen in einer wesentlichen Dimension in der eigenen Lebensgeschichte und sind aus ihr entwickelt und geschaffen worden. Er konnte und musste das tun in der Annahme, dass seine eigene Geschichte – seine jüdische Herkunft und die Vernichtung eines großen Teils seiner Familie durch die Deutschen während der Shoa – nicht nur seine Privatsache, sondern in einem starken Sinn Teil der allgemeinen Geschichte war: ein wesentliches Moment des Politischen im 20. Jahrhundert. Hamachers fünfzigseitiger Kommentar zum Gedicht Todtnauberg, das Celan nach seiner Begegnung mit Heidegger geschrieben hat, sollte nicht nur in der marktgängigen Celan-Philologie Epoche machen. Er deutet das Gedicht als ein Ereignis im starken Sinn: als Zeugnis der „epochalen Begegnung zwischen dem Dichter und dem Denker einer Epoche“.

Dieser epochale Charakter ist nicht durch biographisches Hintergrundwissen über den realen Besuch Celans in Heideggers Hütte bei Todtnauberg zu erschließen, sondern im Gedicht selbst. Es geht ihm darum, „das Gedicht zur Deutung seiner biographischen Anstöße“ zu lesen, statt „die Biographie zur Deutung des Gedichts heranzuziehen“. Nicht das „historisch kontingente Treffen“, sondern das Gedicht hat epochalen Charakter. Der besteht darin, dass Celan die Begegnung von Dichten und Denken – deren „Gespräch“ ein leitendes Motiv Heideggers ist – von der Seite des Dichtens eröffnet und das Gedicht „als ein selber eminent denkendes“ vorstellt. Hamacher wendet sich nicht gegen die Erforschung von Celans – oder anderer Dichter – Leben sowie der Umstände und Kontexte, in denen die Gedichte entstanden sind, sondern gegen die nach wie vor grassierende Annahme, damit sei irgendetwas über die Dichtung gesagt. Die Umstände der Entstehung sind bedeutsam, aber das Gedicht – falls es nicht autobiographischer Bericht sein soll – geht darüber hinaus. Und Hamacher will dieses Darüber-hinaus des Gedichts erkennen und so die Erkenntnis des Gedichts selbst als eines „selber eminent denkenden“ erkennen. 

Auf solche Weise bewährt sich Hamachers hermeneutische Kraft immer wieder an diesen opaken Texten. Die Akribie, mit der er jeder Spur nachgeht, die in den Gedichten selbst, in den aus Celans Nachlass publizierten Materialien, seinen Briefen und seinen poetologischen Reflexionen gelegt ist, erschließt die Gedichte deutend, ohne ihr dunkles Leuchten im triumphalen Licht eindeutiger Erkenntnis aufzulösen. Die Exerzitien des dekonstruktiven ‚close reading‘ schlagen aus einer Textstelle in immer neuen Wendungen neue Erkenntnisfunken und zeigen, wie das Denken der Literatur, dessen Erforschung Hamacher sein philologisches Leben gewidmet hat, im schwarzen Licht eines aufgeklärten Nichtwissens erstrahlt. 

Titelbild

Werner Hamacher: Studien zu Hölderlin.
Herausgegeben von Shinu Sara Ottenberger und Peter Trawny.
Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2020.
186 Seiten , 21,80 EUR.
ISBN-13: 9783465044246

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Werner Hamacher: Keinmaleins. Texte zu Celan.
Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2019.
256 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-13: 9783465043768

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