Erinnerungslücken, Umdeutungsprozesse, Unschuldsattitüden

Michael Jung dokumentiert in „Eine neue Zeit. Ein neuer Geist?“ den Umgang der Technischen Hochschule Hannover mit der NS-Vergangenheit ihrer Professoren nach dem Krieg

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die deutsche Universität sei „im Kern gesund“. Diese Überzeugung äußerte 1919 nach Kriegsniederlage und Revolution der Orientalist und nachmalige preußische Kultusminister Carl Heinrich Becker. Gemeint war, dass die Fundamente und Traditionen der Hochschulen intakt seien, allenfalls einiger Reformen bedürften, um sich an gewandelte politische Verhältnisse anzupassen und neue Vitalität zu gewinnen. Diese Diagnose, die alsbald zum geflügelten Wort avancierte, erwies sich als außerordentlich zählebig. Vor allem nach dem durch die alliierten Kriegsgegner erzwungenen Zusammenbruch des NS-Regimes feierte sie fröhliche Urständ. Von ähnlichen Gewissheiten erfüllt, nun allerdings konfrontiert mit gänzlich anderen Gegebenheiten, attestierte im August 1946 Richard Finsterwalder, Professor für Vermessungswesen, seiner Alma Mater, der Technischen Hochschule Hannover, sie sei „innerlich gesund“, habe keine „Zugeständnisse“ gemacht und sei heil aus der „Finsternis der Dritten Reichs“ herausgekommen.

Wie tief solche Mentalitäten hier verankert waren und wie lange sich die darin schlummernden Erinnerungsbilder behaupteten, zeigte sich zehn Jahre später. Die TH feierte ihr 125jähriges Jubiläum. Wie sich das für dergleichen Anlässe gehört, erschien eine Festschrift, angereichert mit Geleitworten der niedersächsischen Prominenz, darunter der damalige Ministerpräsident Heinrich Hellwege. Der einleitende Beitrag stammte vom Historiker Wilhelm Treue, der die „Geschichte des technischen Unterrichts“ nachzeichnet, die mit dem Beginn der Weimarer Republik unerwartet früh endet. Der weiteren Entwicklung sind noch ein paar Sätze gewidmet, über die Zeit des Nationalsozialismus hüllt sich der Autor Schweigen. In den übrigen Aufsätzen war das nicht wesentlich anders. Von der Herrschaft der Nationalsozialisten und der Rolle der Hochschule sind bestenfalls Spurenelemente zu entdecken. Aus dem kollektiven Gedächtnis war dies offenbar getilgt. Als Zäsur galt nicht 1933, sondern der Krieg, namentlich dessen Ende. Das war das eigentliche Trauma, nicht die Jahre davor. Bezeichnend für das obwaltende Unschuldsbewusstsein war eine Feststellung im Essay über die Maschinenbauer. „Obwohl die Entwicklung der politischen Lage nach 1933 manchen Kummer und manche Sorge bereitete“, hieß es da, „gingen die wissenschaftliche Arbeit und der Unterricht planmäßig weiter.“ Von keinerlei Anfechtung berührt, wähnte man sich eher als Opfer denn als integraler und williger Bestandteil der braunen Diktatur. Business as usual war schon 1933 die Devise, und das wiederholte sich 1945.

Über die Schäbigkeit, mit der die Hochschule den streitbaren Philosophen Theodor Lessing gegen Ende der Weimarer Republik behandelt hatte, sind wir hinlänglich informiert. Nicht aber über das Ausmaß der NS-Belastung, der die dortige Professorenschaft unterlag. Es hat Jahrzehnte gedauert, ehe hier Remedur geschaffen wurde. Mit dem Segen der Hochschulspitze hat der Historiker Michael Jung nun die Ergebnisse seiner Forschungen publiziert und gefragt, ob und inwieweit der „neuen Zeit“ auch ein „neuer Geist“ entsprochen habe. Das Bild, das er zeichnet, war im Großen und Ganzen zu erahnen, und doch ist es, gestützt auf gründliche Recherchen in zwei Dutzend nationalen und internationalen Archiven, einigermaßen bedrückend: weniger die Tatsache, dass – wie zu erwarten – ein Gutteil der Professoren sich als opportunistische Mitläufer oder aktive Parteigänger auf die Seite des Regimes geschlagen hatte, als der verdruckste Umgang damit, das diskrete Beschweigen der Vergangenheit, der Mangel an selbstkritischer Reflexion und die Weigerung, über die eigenen Verstrickungen öffentlich Rechenschaft zu legen. 

Zur Illustration ein paar Zahlen: Der Studie liegt ein Sample von 284 Ordinarien, außerordentlichen und außerplanmäßigen Professoren zugrunde, die nach 1945 an der TH bzw. – seit 1968 – an der TU beschäftigt waren. Das Augenmerk richtet sich vornehmlich auf diejenigen mit Leitungsaufgaben, auf Rektoren und Senatoren. Die meisten anderen sind mit kürzeren oder längeren biographischen Informationen aufgeführt, gegliedert nach Funktion und Grad der Belastung. Von den erfassten 284 Personen waren 60 Prozent Mitglieder der NSDAP oder der angeschlossenen Organisationen. 15 Professoren hatten sich bereits vor 1933 der Partei angeschlossen, 21 der SS, 45 der SA. Von 1940 bis 1945 waren „fast alle Professoren“ in insgesamt 175 „kriegsbezogene Projekte“ mit „teilweise höchster Dringlichkeitsstufe“ involviert. In der Rangliste der Belastungen nahmen mit 74 Prozent die Angehörigen der Fakultät für Maschinenwesen den ersten Platz ein, gefolgt von der Fakultät für Gartenbau und Landeskultur mit 64 und der Fakultät für Bauwesen mit 62 Prozent. Unter den 20 Rektoren des Samples waren elf Parteigenossen. Ähnlich war die Belastungsquote bei den 109 Senatsmitgliedern: 46 von ihnen waren „substantiell“ und 20 „formal belastet“, 53 oder knapp die Hälfte Mitglieder der NSDAP.

Anschaulicher als die bloße Statistik sind die vom Verfasser ausgewählten biographischen Fallstudien. Konrad Meyer zum Beispiel, geboren 1901, Ordinarius für Landesplanung und Raumforschung, hatte sich bereits am 1. Februar 1932 der NSDAP angeschlossen, war Mitglied der SS, wo er es als Leiter des Planungsstabes im berüchtigten „Reichskommissariat für die Festigung deutschen Volkstums“ unter Heinrich Himmler bis zum Oberführer brachte, ein Rang zwischen Oberst und General. In dieser Eigenschaft war er maßgeblich beteiligt an der Ausarbeitung des „Generalplans Ost“, der eine Blaupause für die brutale ethnische Säuberungs- und Germanisierungspolitik in Ostmitteleuropa lieferte. 1945 ging er seiner zahlreichen Ämter verlustig, wurde interniert und im Nürnberger Prozess gegen das Reichssicherheitshauptamt zu einer zweieinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt. Beschäftigung fand er danach in einem Saatgutbetrieb, ehe er 1954 als Lehrbeauftragter und zwei Jahre später als ordentlicher Professor an die TH berufen wurde. Darüber, dass er ein Vorleben im Dienst des NS-Regimes hatte, wurde in der Hochschule, wie Jung notiert, „kein Wort verloren“. Wenig plausibel ist, dass man darüber nichts hätte wissen können.

Krasser noch war die Causa Klaus Wilhelm Rath. Dieser war ein in der Wolle gefärbter NS-Ideologe, ein rabiater Antisemit, der in Göttingen die Professur für politische Volkswirtschaftslehre und Finanzwissenschaft innegehabt und sich wiederholt über die vermeintlich schädliche Rolle der Juden in der Wirtschaft und der Wirtschaftswissenschaft verbreitet hatte. Nach dem Krieg verweigerte ihm die britische Militärregierung die Rückkehr auf seinen Lehrstuhl. 1957 lehnte die Fakultät für Natur- und Geisteswissenschaften in Hannover ab, ihn auf eine entsprechende Position zu berufen. Auf Wunsch des Kultusministeriums, das Rath auf Grund des Artikels 131 Grundgesetz zu versorgen hatte, wurde ihm jedoch die Rechtsstellung eines emeritierten Professors an der TH Hannover zugesprochen. Als solcher hatte er die Möglichkeit zur Abhaltung von Lehrveranstaltungen. Als er davon im Wintersemester 1959/60 Gebrauch machen wollte, nahm dies der Fakultätsausschuss „mit Befremden“ zur Kenntnis. Ein Kollege, dem die Nazis 1937 wegen seiner partiell jüdischen Herkunft die Lehrbefugnis entzogen hatten, nannte den Vorgang „eine Schande“. Der von ihm ausgelöste Protest und eine Intervention der Fakultät beim Kultusminister hatten Erfolg. Das war, schreibt Jung, „der einzige bekannte Fall, bei dem an der TH Hannover die Aufnahme einer Lehrtätigkeit durch einen NS-Aktivisten durch die Aufmerksamkeit eines Teils der Professoren verhindert wurde.“

Die Reihe der Belasteten und deren Werdegänge im Dritten Reich ließe sich beliebig verlängern. Ihnen steht nur eine verschwindend geringe Zahl von Unbelasteten gegenüber. Es ist das Verdienst des Autors, dies alles akribisch aufgeschlüsselt zu haben. Im Blick auf den Anteil von Professoren, die in dieser oder jener Form mit dem Regime verwoben waren, und das vergleichsweise hohe Maß an personeller Kontinuität drängt sich die Frage auf, wie es gelingen konnte, dass die TH Hannover nach dem Ende des Krieges überhaupt hineinfinden konnte in die sich rasch konsolidierende Ordnung der Bundesrepublik. Gewiss, mit dem Jahr 1945 war die innere Geschichte des Nationalsozialismus nicht vorüber. Mentalitäten ändern sich nicht über Nacht. Aber die Wege, sich mit den neuen Gegebenheiten einer sich demokratisierenden Gesellschaft zu arrangieren und eine vom Ungeist der braunen Machthaber infizierte Institution ohne ernsthafte Säuberungen in einen anderen Aggregatzustand zu überführen: dies bedarf weiterer Klärung, wäre ein willkommenes Folgeprojekt. Die Verweigerung, den NS-Professor Rath in ihren Reihen als Kollegen mit allen Rechten zu akzeptieren, gehört – auch – in diesen Kontext. Genügend Anstöße, davon in einem zweiten Untersuchungsschritt zu erzählen, bieten die Explorationen und Analysen des vorliegenden Buches ohne jeden Zweifel.

Titelbild

Michael Jung: Eine neue Zeit. Ein neuer Geist? Eine Untersuchung über die NS-Belastung der nach 1945 an der Technischen Hochschule Hannover tätigen Professoren unter besonderer Berücksichtigung der Rektoren und Senatsmitglieder.
Michael Imhof Verlag, Petersberg 2020.
310 Seiten , 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783731910824

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