Die Algorithmen im Widerstand

In Martina Clavadetschers „Die Erfindung der Ungehorsams“ wird Ada Lovelace zur Inspirationsquelle für die digitale Gegenwart

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was zeichnet den Menschen aus, worin unterscheidet er sich von Maschinen, Robotern oder Human Bots, wie sie in der Serie Real Humans dargestellt werden? Solche Fragen stellen sich immer dringlicher angesichts dessen, dass die KI-Forschung schnell voranschreitet. In ihrem Roman Die Erfindung des Ungehorsams öffnet die Autorin Martina Clavadetscher auf poetisch eigenwillige Weise dieses mit Minen gespickte Feld zwischen Mensch und Maschine und lenkt den Blick dabei zurück auf eine ihrer Inspirationsquellen: Ada Lovelace. Diese bildet Kern und Zentrum in dem, laut der Autorin, wie eine Matrjoschka dreifach verschachtelten Roman.  

Ada Lovelace (1815–1852) hatte von ihrer Mutter ein naturwissenschaftliches Talent geerbt, das sie schon in jungen Jahren mit dem Mathematiker Charles Babbage, dem Entwickler der bis heute faszinierenden „Differenzmaschine“, in Kontakt brachte. Wo Babbage nur Zahlen sah, erkannte Ada Lovelace schon früh neue Potenziale einer algorithmisch analytischen Maschine und Methode. Wenn sich Töne und Klänge operationell darstellen ließen, hielt sie in ihren legendären Notes fest, „könnte die Maschine elaborierte und wissenschaftliche Musikstücke von beliebiger Komplexität und beliebigem Umfang komponieren“. Der Mädchenname Byron verrät eine zweite Quelle ihrer Kreativität. Ihr Vater war der englische Dichter Lord Byron (1788–1824), den Lovelace indes nie kennenlernte. In ihrem Denken fanden die gegensätzlichen Talente zusammen, wofür sie eigens einen Begriff prägte. In einem Brief an die Mutter schrieb sie wörtlich: „You will not concede me philosophical poetry. Invert the order! Will you give me poetical philosophy, poetical science?”

Damit sind zwei Kernelemente benannt, die Martina Clavadetscher in freier, losgelöster Form in ihrem Roman variiert: die Verschmelzung von Wissenschaft und Poesie sowie dieses resolute „Invert the order!“. Lasst uns die Dinge anders sehen! Davon ließ sich Clavadetscher offenkundig faszinieren. Ihr gefiel, wie sie in einem Gespräch mit dem Autor bemerkte, dieser „widerständige Funken“, mit dem Ada Lovelace ihr mathematisches Wissen „in die Welt hinausschleuderte“, obwohl ihr als Frau nicht mal der Besuch einer Bibliothek gestattet war. Sie sprengte zu ihrer Zeit das Gefängnis der sozialen Normen. Und sie prägte das moderne algorithmische Denken mit, auch wenn sie selbst zuerst einmal für Jahrzehnte verdrängt und vergessen ging. 

In ihrem Roman bettet Clavadetscher die Erzählung über Ada Lovelace in eine Erzählung ein, in der die Hauptfigur Ling heißt. Diese arbeitet in einer Fabrik für Sexpuppen. Inmitten von Frauenkörpern aus Latex, die ohne Kopf an Haken aufgehängt sind wie Schlachtvieh, überprüft sie die Nahtstellen und putzt Fuselreste weg. Ling ist eine empathielose junge Frau mit autistischen Zügen, die ganz auf ihre Arbeit fixiert ist. Sie hat, wie die serienmäßigen Latexschöpfungen, keine Eltern – zumindest keine, die sie kennt. Die Großmutter ist ihr einziger Halt, mit ihr begeht sie im Tempel regelmäßig die traditionellen Gebets- und Opferrituale. Ling hat sich eine dieser Puppen gekauft – ohne Kopf, weil der zu persönlich wirkt –, damit sie nicht allein ist, wenn sie zum wiederholten Mal ihren Lieblingsfilm Paradise Express anschaut und in dessen Hauptdarstellerin Fanny Lee ein romantisiertes Selbst wiederfindet. Wegen ihrer pingeligen Verlässlichkeit wird Ling eines Tages in eine Forschungsabteilung versetzt, wo sie der KI- und Sprachforscherin Nian dabei hilft, einem der Latexgeschöpfe, Harmony genannt, Sprache einzutrichtern und sie Kommunikation zu lehren. Indem so die künstliche Schöpfung die sexuelle Bedürfnisbefriedigung ins Sprachliche, Geistige erweitert, öffnet sich ein neues Feld, das die mittlerweile geläufigen Sprach- und Servicebots à la Alexa oder Siri in den Fokus rückt. Resultiert aus der Mündlichkeit eine Mündigkeit? 

Ling ist die angebliche Halbschwester von Iris, der Erzählerin der umschließenden Rahmenerzählung. In einer Wohnung in Manhattan rettet sich Iris vor der Langeweile ins abendliche Erzählen. Mit dabei sind jeweils zwei ältere Damen, die auf den Namen Wollstone und Godwin hören. Darin wird Mary Wollstonecraft-Godwin erkennbar, die Mutter von Mary Shelley, der Schöpferin der künstlichen Intelligenz Frankenstein. Auf diese Weise verknüpft Clavadetscher die Sphären und Motive in ihrem Roman. Auffallend ist dabei, dass Männer bloß eine marginale Rolle spielen. Jon B., der Wachmann in der Sexpuppenfabrik, ist ein sympathischer Außenseiter, der gut zu Ling passt und von ihr als Gefährte akzeptiert wird. Er bleibt aber eine Randfigur in diesem Buch, in dem sich hauptsächlich Frauen zwischen der Rolle als digitale Helferin und Adas Aufruf zu „Invert the order“ bewegen. 

Martina Clavadetscher verknüpft die drei Erzählsphären, indem Iris von ihrer Halbschwester Ling erzählt und von der künstlichen Intelligenz Harmony, die wiederum die Geschichte der Ahnherrin Ada in Erinnerung ruft. Dabei verfließen die Grenzen zwischen real und künstlich. 

Im Spannungsfeld von Poesie und Exaktheit entwickelt die Autorin eine Schreibweise, die mittels lyrischer und theatraler Elemente einen ganz eigenen Erzählton hervorbringt. Die Zeilen sind im Flattersatz mit unregelmäßig langen Zeilen gesetzt und erzeugen so eine stark rhythmisierte Struktur, die mal der beschreibenden Genauigkeit verpflichtet ist, mal ein Abschweifen ins schwebend Unbestimmbare erlaubt. Theorie wie Technik sind darin ganz aufgehoben.

Adas „Invert the order“ scheint bereits im Buchtitel auf. Worin gründet der Ungehorsam gegen eine herrschende Ordnung? Clavadetscher formuliert es im erwähnten Gespräch wie folgt: „Selbstbestimmung und Eigensinn durch Narration. Fiktion und Lügen werden zur größten Freiheit“. Iris, die Erzählerin der Rahmenhandlung, findet so ihre Bestimmung. Wer erzählt und lügt, erschafft sich selbst neu. „Das Programm hat lügen gelernt“, konstatiert die Sprachforscherin Nian sachlich den verblüffenden Fortschritt ihrer Arbeit mit der KI Harmony. Ling wird sich an ihr ein Beispiel nehmen. 

Die Erfindung des Ungehorsams besetzt das aktuelle Thema der Forschung an künstlicher Intelligenz mit der Lust am Erfinden und Erzählen. Der realistische, technische Kontext wird eingebettet in ein feines Netz von motivischen Beziehungen und behält so jederzeit etwas schwebend Zwielichtiges. „Das Erfinden ist schlicht wunderbar“, ruft die Erzählerin Iris am Schluss begeistert aus. Der Drang, etwas neu zu schöpfen, sei ganz und gar menschlich. Dabei aber fällt auf irritierende Weise auf, dass auch Iris roboterhafte Züge verrät. Ist sie Mensch oder Maschine? Clavadetscher formuliert keine klare Antwort darauf. Sie gibt sich ungehorsam. Anstatt eine strikte Trennung vorzunehmen, verschattet sie die Differenzen zwischen Human und Bot. Darauf angesprochen, fragt die Autorin zurück: „Ist es wichtig, diese Unterschiede zwischen Mensch und Maschine überhaupt zu machen?“ Ja, weshalb eigentlich? Das mag auch naiv klingen, umreist aber thematisch eine Bruchstelle, die sich mehr und mehr auftut. Die Frauen, die sie in ihrem Roman schildert, sind allesamt wie künstliche Bots in ein fremdes programmiertes Korsett eingespannt, aus dem sie Wege zur Mündlichkeit und Mündigkeit suchen. In diesem Sinn eröffnet Clavadetschers Roman auf literarisch reizvolle Weise neue Felder des Denkens. 

An einer Bahnstation wird Iris gegen Ende von einem Obdachlosen angesprochen. „Der Mensch ist die traurigste Maschine“, sagt er. Iris wiederholt es für sich und ahnt, dass gerade darin vielleicht die Differenz liegt, die den Menschen zum Menschen macht.  

Titelbild

Martina Clavadetscher: Die Erfindung des Ungehorsams.
Unionsverlag, Zürich 2021.
288 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783293005655

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch