Lesen in der Corona-Krise – Teil 14

Dichten in der Zeit des Virus: In seinem Gedichtzyklus „Abschied“ reflektiert Cees Nooteboom über das Ende vom Ende

Von Günter RinkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Rinke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Versuchung ist da, diesen Gedichtband von Cees Nooteboom so zu lesen, als schließe sich damit ein Kreis von Leben und Werk dieses Autors. Seinem ersten Roman Philip und die anderen (zuerst erschienen 1955) stellte er ein Motto von Paul Éluard voran: „Je rêve que je dors, je rêve que je rêve.“ („Ich träume, dass ich schlafe, ich träume, dass ich träume.“) Es könnte auch diesem aktuellen Buch voranstehen, vielleicht nur mit dem Unterschied, dass das Verb „träumen“ jetzt im Präteritum stehen müsste. Es ist viel Vergangenheit, wenig Gegenwart und nur eine Ahnung von Zukunft in den 33 Gedichten des Zyklus. Jeweils elf Gedichte sind in drei Abschnitten zusammengefasst. Jedes von ihnen umfasst drei Strophen à vier Verse und eine kurze Schlusswendung, die in einer extra Zeile abgesetzt ist. Dabei handelt es sich manchmal nur um ein Wort, dann wieder um einen kurzen Satz oder ein Satzteil. Das Buch ist also als Ganzes und in seinen einzelnen Teilen streng symmetrisch gebaut. Schemenhafte, zerfließende Inhalte werden in strenger Form gebändigt.

Wie schon im ersten Roman und in vielen anderen Büchern Cees Nootebooms geht es um das Reisen, die Flüchtigkeit von Eindrücken und Begegnungen und um die Reflexion dieser durch die vergehende Zeit bedingten Flüchtigkeit. In Frage steht wieder die Einheit des Ichs, wie es wohl am eindrücklichsten in dem Roman Die folgende Geschichte (1991) der Fall war. „Ein Bündel zusammengesetzter, sich ständig verändernder Gegebenheiten und Funktionen, das wir Ich nennen“, hieß es dort. Die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit verschwimmt in dieser verdoppelten Geschichte bis zur Unkenntlichkeit, das erzählende Ich nimmt das erlebende Ich im Spiegel eines Salons wahr und macht es möglich, dass dieses seinen Traum träumt, indem jenes an ihn denkt. 

Nun, im Gedichtband, ist das Doppelgängermotiv wieder da: „Er und ich, verwirrender Zwilling?“ Die Rollen sind vertauschbar, im „Er von meinem Ich, dem Ich von meinem Er“ erscheinen die Träume spiegelverkehrt (I, 10). Aber nun findet ein Abschied statt. Im vorletzten Gedicht des dritten Teils entfernt sich eine Gestalt, das andere Ich, ohne das es eigentlich nicht geht: „Dies durfte nicht sein / und es ist schon passiert“. Es darf nicht sein, denn mit dieser unentbehrlichen Gestalt verschwinden auch die Worte, in denen die auf vielen Wegen vorgefundenen Trugbilder „als Gedicht“ immer wieder zu einer festen Form geworden sind.

Bis zu diesem Vorgang des Verschwindens findet in dem Gedichtzyklus eine Entwicklung statt. Geschrieben wurden die Gedichte nach Angabe des Autors in San Luis (Menorca), November 2019, und im Hofgut Missen (im Allgäu), April 2020. Zwischen diesen Daten liegt der Ausbruch der Corona-Pandemie, die wirkliches Reisen weitgehend unmöglich gemacht hat. Die Reisen des lyrischen Ichs finden im Kopf statt, während der Autor in der Entstehungszeit seines Werks zumindest eine Reise noch gemacht haben muss. Im ersten Gedicht fragt sich „der Mann im Wintergarten“, was das Ende vom Ende sein könnte, und findet nur eine Antwort. Es müsse „ohne Kummer“ sein. Dabei blickt er hinaus in einen südlichen Garten, erkennbar am entblätterten Feigenbaum und einer uralten Mauer. Im Nachwort bestätigt er diese Situation.

Die Beobachtung der realen Gegebenheiten wird dann nicht fortgesetzt, sondern es entstehen Erinnerungen an den Krieg, den Abzug der geschlagenen Besatzungstruppen, die Umkehrung von deren Triumph in Demütigung und Not in der Niederlage. Geprägt von diesem Krieg hatte der Mann sich in jungen Jahren aufgemacht in die Welt, hatte Menschen getroffen und wieder verloren, einige durch den Tod, und war weiter gereist, „nie weit vom Meer“. Beim Gedanken an die Reisen drängen sich andere vor, deren letzte Fahrt an einer Rampe endet (I, 8). Der Krieg bleibt also gegenwärtig. 

Und noch etwas anderes drängt sich dazwischen: Köpfe. Drei schwarze Zeichnungen von schemenhaften Köpfen auf altweißem Grund von Max Neumann sind dem Band beigegeben. Es sind Zwischenwesen wie die, von denen der griechische Philosoph Empedokles annahm, sie seien eine Vorstufe zum Menschen. Im vierten Gedicht des ersten Teils nimmt Nooteboom Bezug auf diese „Spukgestalten“ aus einem Text des Philosophen – „viele Kinnbacken wuchsen heran / ohne Hälse, nackte Arme, ihrer Schultern // beraubt, irren hin und her, einsame / Augen ohne Stirne gehen um […]“. Intertextualität und dialogisches Schreiben sind nicht neu für Nooteboom. In dem Gedichtband Das Gesicht des Auges (1989) setzte er sich mit Bildern des spanischen Malers Miguel Ybañez und dem römischen Epikureer Lukrez auseinander. Während dort „das leere Auge zu streunen begann“ und ein Gesicht in eine Kaimauer ritzte, wird jetzt der Kopf zur Metapher für die Vielgestaltigkeit des wirklichen und des erdachten, vom Dichter herbeiphantasierten Lebens: „Jedem Kopf / seine eigene Geschichte, versteckt in den Falten // des Gehirns.“ (I, 11)

Hilfreich ist es, dass wir die Möglichkeit haben, neben der von Ard Posthuma übersetzten deutschen die niederländische Fassung der Gedichte zu lesen. Wer die wenigen Ausspracheregeln kennt, kann die originale Sprachmelodie dieser Texte nachempfinden oder laut nachsprechen. Die Sprachen sind nah verwandt, aber jede hat ihre eigene Melodie, und die ist gerade bei Gedichten wichtig: „De dichter slaapt. Dit is het uur van de tuinman.“ „Der Dichter schläft. Dies ist die Stunde des Gärtners.“ (I, 6) Der Jambus im ersten, die Daktylen im zweiten Satz entsprechen einander im Original und in der Übersetzung, aber die Vokalqualitäten sind doch sehr verschieden.

Zugleich gibt es Anlässe für semantische Spekulationen und Assoziationen, angefangen mit dem Wort „Kopf“, das im Niederländischen „hoofd“ heißt und mit dem deutschen ‚Haupt‘ verwandt ist. Ist „Haupt“ nicht viel bedeutungsvoller, elektrisierender, poetisch reicher als „Kopf“? Immerhin, Günter Grass schrieb einst ein Buch mit dem Titel Kopfgeburten, womit sowohl Gedanken als auch ausgebliebene Geburten gemeint waren. Aber ganz anders funkelt doch das Wort „Haupt“ etwa in Rilkes Sonett Archaischer Torso Apolls: „Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt, / darin die Augenäpfel reiften.“ Die „Köpfe“ in Nootebooms Gedichten sind in diesem Sinn „unerhört“, vertraut oder fremd, die individuelle Zuordnung zu einem Menschen oft transzendierend: „Wie oft ist derselbe Kopf jemand anderer?“ (II, 3) 

Ein zweites Beispiel ist die Wendung „het rumour van een krant“, die mit „Geräusch einer Zeitung“ übersetzt wird (I, 6). Es entsteht, ganz konkret, als die Zeitung in den Briefkasten am Gartentor geschoben wird: „Aan het tuinhek jengelt (quengelt) de wereld“. Das Wort „rumour“ bezeichnet hier auch, wie das deutsche (veraltete) Wort „Rumor“ in Botho Straußʼ gleichnamigem Roman von 1980, den Lärm (das Quengeln) öffentlicher Sprache, die in der Medienwelt heiß- und zugleich leerläuft. Lyrik lädt zu sehr genauer Lektüre ein.

Im dritten Teil des Zyklus zelebriert das lyrische Ich den Abschied, der ihm nicht leichtfällt. „Ich will ja noch / allerhand sehen, so wie ich es immer / getan hab.“ (III, 9) Im nächsten Gedicht heißt es: „Ich spüre, wie mein Verlangen / aus mir verschwindet. Dies durfte nicht sein / und es ist schon passiert.“ Und im letzten Gedicht „ist Stille“, die Stille, die im Mai 2020 auch in Großstädten herrschte. Schwer vorstellbar ist, dass dies Cees Nootebooms „Abschied“ vom Schreiben und auch vom Reisen ist. Auf die enge Verbindung von beidem hat er in einem der Gedichte noch einmal hingewiesen, aber vielleicht sind die Ortswechsel doch keine Voraussetzung für das Schreiben, das auch eine Erinnerungs- und Denkübung ist.

Nooteboom bemerkte einmal: „Ein Gedicht muß, ich kann es nicht anders ausdrücken, stimmen, doch die Kriterien dafür sind sowohl beim Schreiben als auch beim Lesen, ganz persönliche.“ Wer den Gedichtzyklus Abschied einmal oder mehrere Male durchliest, wird vermutlich feststellen, dass diese Gedichte „stimmen“. Obwohl es, wie noch einmal im Schlusssatz des Nachworts, um das Ende vom Ende geht, muss das Lektüreerlebnis kein düsteres sein, denn der Abschied verweist auf die Fülle dessen, was vorher gewesen und in Büchern aufbewahrt ist, die gelesen und wieder gelesen werden können.

 

Hinweis: Alle bisher erschienenen Teile unserer Reihe „Lesen in der Corona-Krise“ finden Sie hier

 

Titelbild

Cees Nooteboom: Abschied. Gedicht aus der Zeit des Virus.
Aus dem Niederländischen von Ard Posthuma.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.
100 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783518225226

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