Zeiten der Narren?

Stefan Hannes Greil und Martin Przybilski stellen in einer umfangreichen Publikation die Nürnberger Fastnachtsspiele des 15. Jahrhunderts vor

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Zeiten wie den gegenwärtig herrschenden erscheint die Vorstellung von karnevalistischer Geselligkeit nachgerade blasphemisch, ist doch augenblicklich alles, was über zwei oder drei Personen hinausgeht, nicht mehr lediglich eine unangemeldete Versammlung, sondern wird über das Generieren eines Hotspots schnell zur gesellschaftsgefährdenden Bedrohung.

Dass im Unterschied zu 2020 – wobei berücksichtigt werden sollte, dass die pandemische Gefahr zwar eigentlich schon erkennbar war, aber gleichwohl übersehen wurde – die Narren heuer auf größere Spektakel verzichteten, ist ein Vernunftphänomen, das so wohl kaum im Spätmittelalter vorstellbar gewesen wäre. In einer, in diesen Zeiten der Postmoderne kaum mehr nachvollziehbaren, engen Verflechtung von ‚amtlicher Religiosität‘ mit Bräuchen und Gebräuchen der laikalen Welt konnten Fastnachtsspiele in den real existierenden Lebenswelten der städtischen Gesellschaft des späteren Mittelalters eine wesentliche Rolle spielen, die in gewisser Hinsicht einer mehrdimensionalen Verdichtung von realpolitischen Verhaltensmustern gleichkam. Und wesentlich stärker als das in Gegenwart und unmittelbarer Vergangenheit der Fall ist, stellten diese Fastnachtsspiele immer oder zumindest oft genug auch eine Subversion durch Affirmation dar.

Dabei scheinen Dimensionen auf, die sich in der heutigen Zeit, die geprägt ist von einer ein- respektive zweidimensionalen Auffassung des Karnevalistischen als grundsätzlich eher sozialem Unterhaltungselement, kaum mehr greifen lassen. Wenn im heutigen Karnevalstreiben allenfalls politische Aspekte eine sichtbare Rolle spielen, die sich optisch als Umzugswagen, akustisch als kritisches Reden fassen lassen, und die, wenn es um kirchenkritische Ansätze geht, durchaus auch das klerikale Element berücksichtigen, fehlt die Dimension des Religiösen scheinbar zumindest in klarer Ausformung. Die Närrinnen und Narren der Gegenwart sind, selbst wenn nicht ohnehin kirchenfern verortet, kaum in einer Weise religiös motiviert, wie dies den Menschen des späteren Mittelalters und der Frühen Neuzeit implizit zugesprochen werden kann.

In diesem Kontext ist das vorliegende Werk kaum hoch genug einzuschätzen, bringt es doch nicht nur eine die urbane Lebenswirklichkeit nachhaltig durchdringende karnevalistische Umsetzung vor Augen, die so nicht (mehr) fassbar ist. Gleichzeitig legt es den bloßen literarischen Wert der sogenannten Fastnachtsspiele Nürnberger Provenienz dar, allein schon dadurch, dass diese Werke einer wissenschaftlichen Untersuchung als würdig erwiesen werden. Hier wird – wieder – der Blick auf eine literarische wie historische Ebene gelenkt, die für die Entwicklung hin zu einer politischen Emanzipation städtischer Bevölkerungsgruppen, welche letztlich entsprechende politische Phänomene der Moderne nach sich zog, zumindest nicht uninteressant ist.

In diesem Zusammenhang ist es von größter Relevanz, das Konvolut dieser Nürnberger Fastnachtsspiele editorisch auf- und ausgearbeitet zu haben, wobei der Fokus auf eine wertneutrale, aber gegenüber den Texten wertschätzende Herangehensweise gelegt wird. Es geht darum, Vergessenes und bei mancher Vertrautheit auch sehr Fremdes Gegenwärtigen wieder vor Augen zu führen und in einen erweiterten Kontext zu stellen. Wichtig in diesem Zusammenhang ist die folgende, zu Beginn der Einleitung getroffene Aussage: „Die Spiele sind trotz ihrer robusten Schlichtheit als literarisch-dramatische Kunst- und Ausdrucksformen zu verstehen.“

Wesentlich für das weitere Vorgehen ist in diesem Kontext auch der Verweis auf die Disparatheit der Texte, die es mitunter nicht unbedingt einfach machen, die gattungsbezogene Zuordnung eben als Fastnachtsspiel auch in jedem Detail als inhaltlich konsistent erkennbar zu machen. Gerade aber diese vermeintliche Indifferenz, die über die auf einer Metaebene erkennbaren Gemeinsamkeiten dann eben doch die Einordnung in die literarische Kategorie möglich macht, deutet auf die Produktivität beziehungsweise in erster Linie auf die Vitalität dieser Werke in der Zeit ihrer Entstehung hin. Fastnachtsspiele waren demgemäß Elemente der gesellschaftlichen Lebenswirklichkeit und saisonale Marker städtischen Seins.

Diesen formulierten Vorgaben entspricht auch die Umsetzung der vorliegenden editorischen Mammutarbeit. Unternommen wurde ja nichts weniger als eine umfangreiche (Neu-)Edition der Texte aus der Hans Folz’schen Feder beziehungsweise aus dem Kreis seiner Epigonen. Dieser Leistung ist bereits der erste Großabschnitt adäquat, in der in die Thematik eingeführt und der grundsätzliche Rahmen gezogen wird. Die breit angelegte Einleitung, die sowohl das Phänomen der Fastnachtsspiele im Grundsätzlichen vorstellt als auch Fragen der Umsetzung dieser Texte in die Aufführungspraxis hinein und deren Kontextualisierung in den städtischen Zusammenhang bietet, kann kaum hoch genug geschätzt werden. Dies umso mehr, als eben nicht nur das Essenzielle knapp dargelegt wird, sondern zugleich auch andere Gattungen vorgestellt und verglichen sowie die Funktionsaspekte der Fastnachtsspiele ausführlich erörtert werden. Selbstverständlich ist ein umfangreicher Teil dieser Einleitung auch der Person des Hans Folz gewidmet, der – ursprünglich aus der Salierstadt Worms stammend – in Nürnberg dann gewissermaßen seine künstlerische Erfüllung suchte und fand.

Zwischen der eigentlichen Einleitung und dem dann in den editorischen Bereich führenden sprachlichen Bereich wird ein knapper Einschub zur Überlieferung der fraglichen Texte geliefert, der einen knappen Überblick zur Tradierung der thematisierten Fastnachtsspiele liefert und es dadurch zumindest tendenziell ermöglicht, eigenständiges Arbeiten an den überlieferten Fastnachtsspielen zu realisieren. Der dritte Großblock widmet sich der „Sprache der Nürnberger vorreformatorischen Fastnachtsspiele“. Dabei wird weit über den engeren linguistischen Bereich hinausgegangen, denn neben etwa Lexik, Morphologie, Graphemik und Phonologie wird der Blick auch weiter gelenkt. Hier geht es etwa um die besondere Nürnberger Stadtsprach- und Überlieferungslandschaft. Durch diesen in positivem Sinne verdichteten thematischen Abschnitt wird es nochmals möglich, spezifisch überlieferungs- sowie aufführungsrelevante Aspekte in einen umfassenderen Zusammenhang einzubinden, der nicht nur facettenreich genug ist, um damit auch zumindest Elemente einer Metabetrachtung zu ermöglichen, sondern durchaus stringent in den eigentlichen editorischen Hauptteil überleitet.

Zuvor freilich wird eine Konkordanz zur Adelbert von Keller’schen Ausgabe der Fastnachtsspiele geliefert, was den Vorteil eines unmittelbaren Vergleichs zwischen der klassischen und der neuen Edition ermöglicht. Passend hierzu wird unmittelbar anschließend der umfangreiche bibliografische Teil geliefert, der allein schon einer intensiven Beschäftigung würdig ist. Hier ist es tatsächlich so, dass die in breitem Umfang nachgewiesene Literatur, der es selbstverständlich nicht an der notwendigen Tiefe mangelt, zum ‚Spazierenlesen‘ einlädt – sowohl von der Bibliografie als auch von der ausgewiesenen Literatur selbst. Auch dies ist ein positiver Aspekt, der bei vielen Bibliografien keinen Automatismus darstellt. Hiermit wird, wenngleich an ungewohnter Stelle, eine wertvolle und solide Basis gelegt, von der aus Expeditionen auch in Themenbereiche, die nicht unmittelbar mit den Fastnachtsspielen Nürnberger Provenienz zu tun haben, ermöglicht werden. Angesichts bereits dieses soliden Bestandteils innerhalb der auch ansonsten bemerkenswerten Publikation bleiben, so abgegriffen sich das auch lesen mag, keine Wünsche offen.

Nach all den berechtigterweise angesprochenen positiven Aspekten wird es nun doch Zeit, auch Kritisches anzumerken. Der sich nach Einleitung und Übergang anschließende Part wird – reichlich unglücklich – als „Werkeverzeichnis“ überschrieben, was definitiv nicht der Realität entspricht. Unter diesem Begriff (der dann überdies vor den Fastnachtsspielen als Überschrift gar nicht mehr auftaucht) ist gemeinhin eine Auflistung der entsprechenden Dichtungen, Dramen oder allgemein gesprochen eben der Texte zu verstehen, denen im besten Falle noch eine paraphrasierende Inhaltsangabe beigegeben ist. Und das ist hier nicht der Fall, werden doch die gelisteten Werke tatsächlich vollumfänglich wiedergegeben. Und mehr als das: Den Texten sind – zusätzlich zum ergiebigen Fußnotenapparat – umfangreiche Kommentare angehängt, die auf die Ausgaben verweisen, im Zweifelsfalle die Autorenschaft zum Thema machen, eine Datierung und strukturelle Arbeitshilfen bieten und das Ganze überdies in einen größeren Zusammenhang stellen.

Insgesamt dreißig dieser Fastnachtsspiele sind in vorliegendem Band herausgegeben und in der erwähnten sorgfältigen Art zugänglich gemacht. Da diese Rezension gerade kein
Werkeverzeichnis ist, soll auf eine Auflistung der Texte verzichtet werden, deren Reihenfolge übrigens trotz anders angelegter Nummerierung im Weiteren der Keller’schen Vorgabe folgt und somit durchaus in einer Art editorischer Traditionslinie stehend gesehen werden mag. Interessant wäre es zu erfahren, ob die durch die editorische Reihung in gewisser Hinsicht generierte ‚Dramaturgie‘ dieser Fastnachtsspiele auch nur ansatzweise zur Zeit ihrer Entstehung intendiert worden war.

Der Editionsteil beginnt mit der auch an anderen Stellen vollzogenen und aus heutiger Sicht recht fragwürdigen konfliktgeladenen Gegenüberstellung von Synagoge und Ecclesia, in der selbstverständlich die Letztere als Repräsentantin des neuen und wahren Glaubens siegreich besteht. Ausgangspunkt ist offenbar die Unzufriedenheit eines Juden mit den obwaltenden Verhältnissen, sprich der Diskriminierung und Benachteiligung. Umgesetzt wird dies in einer Reihe von Dialogen, die seltsamerweise gesplittet sind: So treten zum einen im quasi institutionalisierten Rahmen „Kirch“ und „Synagog“ in den Disput, der dann jedoch zwischen „Doctor“ und „Rabj“ fortgesetzt wird. Dass derlei ausgerechnet zu Beginn des Fastnachtsspielreigens steht, mag nur auf den ersten Blick überraschen – es handelt sich um das reichlich platte und derbe „Präludium“, das auf die Passionszeit hinweisen soll.

Nach diesem gewissermaßen ‚hochkulturellen‘ Einstieg wird ein wenig später mit dem Herzog von Burgund auch noch ein definitiv politisches Sujet verarbeitet und es werden Themenbereiche dargeboten, die auch in heutigen Sitzungen gerne zum Besten gegeben werden. Hierunter fallen etwa ‚das böse Weib‘, der ‚Ehestreit‘ oder auch die ‚Heilung des kranken Bauern‘. Die Darstellung des jeweiligen Handlungsverlaufes ist mehr oder oft auch minder unterhaltsam, folgt grundsätzlich aber durchaus einer in sich stimmigen Struktur und einem schlüssigen Aufbau, sodass ungeachtet der inhaltlichen wie auch ethischen Wertung ein den Anforderungen an solcherlei Stoffe genügender Standard konstatiert werden kann. Die Fastnachtsspiele von Folz beziehungsweise aus dem Folz’schen Umfeld waren ebenso wenig hohe Kunst wie das Ohnsorgtheater, erfüllten aber wie dieses den erwarteten Zweck.

Und auch vor derb Anstößigem wurde ganz offenkundig nicht zurückgeschreckt, wie ein Beispiel zeigen soll. Für gängige, letztlich oft von romantisierenden Mittelalterbildern geprägte Vorstellungen kaum nachvollziehbar, wird hier ein harter Schnitt gemacht. Obwohl wir Heutigen doch oft genug der Ansicht sind, Provokation, Tabubruch und Grenzüberschreitung erst in vollem Umfang erfunden oder doch zumindest durchgesetzt zu haben, wird die brutale Direktheit in Entwurf und Durchführung zumindest einiger der vorgestellten Fastnachtsspiele so Manchen vor den Kopf stoßen.

Exemplarisch sei das sicher Hans Folz zuzuweisende Stück Das Spiel vom Dreck hervorgehoben, das eindeutig weniger, das heißt: gar nichts, mit dem Anprangern von häuslicher Unordnung und den darauf folgenden entsprechenden moralischen Verwerfungen zu tun hat, als vielmehr mit einem Feld, das heute – zumindest oberflächlich betrachtet – getrost in die Niederungen analer Comedy einsortiert werden würde. Der thematisierte „Dreck“ ist der Kot des tumben Bauern, der sich nicht zu erklären vermag, was da aus ihm herausgekommen ist. Aber das Ganze kreuzt insofern auch in die Gewässer urbaner Subversion, als städtisch-ständische Anspielungen erfolgen, die keineswegs dazu gedacht erscheinen, die obwaltenden Verhältnisse gutzuheißen. Interessant ist hier nicht zuletzt die Arzt-Metaphorik, die immer wieder in den Fastnachtsspielen aufgegriffen wird – nicht zuletzt wohl auch, um mittels des individuellen Krankheitsfalles Defizite der (städtischen) Gesellschaft anzuprangern und zumindest sinnbildhaft Wege zu deren Bekämpfung zu weisen.

Was lässt sich nun zum Abschluss grundsätzlich sagen? Zunächst einmal: Es ist schwer, von diesem Buch zu lassen, das heißt, selbst ein Aus-der-Hand-Legen ist – so die eigene Erfahrung – nur von kurzer Dauer; es reizt einfach zum Weiter- oder auch Immer-wieder-Lesen. Vermutlich selbst vom Herausgeberkollektiv so kaum intendiert, definitiv auch nicht von Hans Folz, macht es durchaus Spaß, Parallelen zur Gegenwart zu suchen und immer wieder auch zu finden. Bestimmte soziale Muster sind auch heute noch zu beobachten, überschaubare Gesellschaften wie kommunale funktionieren auch zu unserer Zeit noch nach Grundstrukturen, die denen spätmittelalterlich-frühneuzeitlicher Urbanität mitunter irritierend ähneln. Für die sachbezogene (Be-)Wertung des Buches spielen dennoch freilich andere Faktoren eine gewichtigere Rolle.

Es gilt: Diese Edition besticht durch die erkennbar herausragende Sorgfalt, mit der das Herausgeberteam sich der Fastnachtsspiele angenommen hat. Es ist allein schon dankenswert, dieses einerseits geschlossene, andererseits in sich äußerst divergierende Konvolut an zur Aufführung gedachten Texten zusammengestellt zu sehen. Nicht zuletzt der bereits angesprochene umfangreiche editorische Apparat – und hier insbesondere die erweiterten Informationen, die im Kommentarteil gegeben werden – machen die wissenschaftliche Qualität aus.

In Zeiten von Internet-Flatrate und ähnlich ‚Unabdingbarem‘ wirkt der Preis des Ganzen natürlich erst einmal einschüchternd. (Das bleibt übrigens auch so!) Allerdings ist bereits die rein herstellungstechnische Qualität, vom geistigen Aufwand ganz zu schweigen, derart hoch, dass das Buch, so wünschenswert es für seine Verbreitung auch wäre, zum Discounterpreis eben nicht zu haben ist. Gerade bei solchen Projekten wäre es daher mehr als lobenswert, von Seiten der Politik statt wohlfeiler Sonntagsreden zur absoluten Notwendigkeit von Kultur breite und nachhaltige Förderung in grundsätzlicher Tiefe und Breite angestoßen zu sehen. Aber das wird wohl ein frommer Wunsch bleiben müssen …

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

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Martin Przybilski / Stefan Hannes Greil (Hg.): Nürnberger Fastnachtspiele des 15. Jahrhunderts von Hans Folz und seinem Umkreis. Edition und Kommentar.
De Gruyter, Berlin 2020.
CXXXIII, 685, 149,95 EUR.

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