Die Pakete von Mutters Lieblingsonkel aus Amerika

Gesine Schmidt begibt sich auf Spurensuche nach Leszno und thematisiert zentrale Aspekte der deutsch-jüdisch-polnischen Beziehungen in der Neuzeit

Von Karl BachsleitnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karl Bachsleitner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Erich Metz war der Schwager von Gesine Schmidts Großmutter mütterlicherseits, der Lieblingsonkel ihrer Mutter. Erich und seine Frau Anna waren bei den Verwandten wegen ihrer Herzensgüte sehr geschätzt und geliebt. Schmidt hat ihren Großonkel, der 1940 noch nach Amerika auswandern konnte, nie persönlich kennengelernt. Sie erinnert sich aber noch sehr gut an seine Pakete, zuerst vor allem mit Lebensmitteln, in den 50er und 60er Jahren dann mit Kleidung und vielen hübschen Sachen, die für die Verfasserin und ihre jüngere Schwester sehr interessant waren. Dass Erich Metz Jude war, war der Familie der Autorin bekannt, gleichwohl kein Thema intensiver Familiengespräche oder gar von Nachfragen. Erich Metz ist 1971 in den USA gestorben.

Die Selbstreflexion der Autorin führt zu einer für viele der ‚1968er‘ zutreffenden Einsicht, dass ihre intensive Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus doch sehr theoriebezogen war und konkrete Recherche und Spurensuche keine große Rolle spielten. Das änderte sich vor gut zehn Jahren, als sie beschloss, die Biografie von Erich Metz und seiner Familie zu erforschen.

Im ersten Teil ihrer Untersuchung schildert Gesine Schmidt recht anschaulich die Stationen ihrer Recherche, die Besuche in mehreren deutschen Archiven, die Arbeit mit Akten. Schließlich entscheidet sie sich, nach Leszno (bis 1920 Lissa, in der preußischen Provinz Posen gelegen) zu reisen, dem Geburtsort ihres Großonkels, und in dortigen Archiven nach Informationen zu suchen. Viele ausgezeichnete Fotografien und Skizzen von ehemaligen Wohngebäuden und Stadtansichten veranschaulichen ihre Besuche in Leszno und helfen, sich ein Bild von der Stadt und ihrer Entwicklung zu machen. Die Akten des dortigen Staatsarchivs erweisen sich als sehr ergiebig und, da auf Deutsch verfasst, ohne Übersetzung erschließbar. Die Autorin kann eruieren, dass die Eltern ihres Großonkels, Abraham und Johanna Metz, geb. Sachs, und deren Vorfahren seit Generationen in Leszno/Lissa gelebt hatten und dort überwiegend als Kürschner tätig waren. Sie gehörten zu den im 16. Jahrhundert angesiedelten deutschen Juden. Nach dem Ersten Weltkrieg und der Gründung des polnischen Nationalstaates (1920), zu dem auch die ehemalige preußische Provinz Posen gehörte, verlassen die Mitglieder der Familien Metz und Sachs ihre Heimatstadt und ziehen ins Deutsche Reich, überwiegend nach Schlesien und nach Berlin. Wer nicht schon vor 1941 gestorben war oder aus Deutschland emigrieren konnte, etwa in die USA, nach China bzw. Schanghai oder ins spätere Israel, starb bei der Deportation, in den Ghettos und den Konzentrations- und Vernichtungslagern im Osten – Schicksale, die für Juden in Deutschland und Europa typisch waren.

Im zweiten Teil der Untersuchung beleuchtet die Autorin den historischen Kontext des Schicksals der jüdischen Familien Metz und Sachs an ausgewählten Aspekten. Von besonderem Interesse sind dabei das alltägliche und religiöse Leben im Spannungsfeld von Traditionalismus und Reformjudentum und die komplizierten deutsch-jüdisch-polnischen Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert, einschließlich der nationalsozialistischen Eroberungs- und Vernichtungspolitik gegenüber Juden und Polen. Ihr erkenntnisleitendes Interesse wird von der auch in der Gegenwart zentralen Frage bestimmt, wie ein friedliches Miteinander von Mehrheitsgesellschaft und ethnischen und religiösen Minderheiten dauerhaft gelingen kann.

Im Hinblick auf Gegenwartsprobleme erscheint Gesine Schmidts Charakterisierung der Stadt Leszno in der Frühen Neuzeit als „Stadt der Andersgläubigen“, der Offenheit für Fremde, der religiösen und ethnischen Vielfalt und Toleranz besonders interessant. Sie nahm alle damaligen Glaubensflüchtlinge auf: Böhmische Brüder, Lutheraner, Reformierte und Juden. Zu den böhmischen Flüchtlingen gehörte der Theologe und Pädagoge Jan Amos Komensky (Comenius), der von 1628 bis 1656 in Leszno lebte und lehrte, als Erfinder der Didaktik und der Idee der allgemeinen Bildung gilt und als solcher den meisten Lehrkräften bekannt sein dürfte. Die Autorin zeigt, dass diese Aufgeschlossenheit für Bildungsfragen auch für die jüdische Gemeinde von großer Bedeutung war. Leszno galt im 17. und 18. Jahrhundert wegen seiner Talmudschulen als Zentrum jüdischen Glaubens und jüdischer Wissenschaft, das schon bald von der jüdischen Aufklärung und dem Reformjudentum beeinflusst wurde und den Gedanken der religiösen Toleranz in der Gemeinde verankerte. Bekanntester Vertreter war im 19. Jahrhundert der Rabbiner Samuel Baeck, der gute Kontakte zu den christlichen Gemeinden hielt. Sein Sohn Leo, später ebenfalls Rabbiner und 1933 Präsident der „Reichsvereinigung der deutschen Juden“, der die verschiedenen Strömungen von Traditionalisten und Reformern im deutschen Judentum zu vereinen suchte, war von dieser Leszno kennzeichnenden Atmosphäre toleranter Gelehrsamkeit geprägt.

Auch stellt Gesine Schmidt heraus, dass sich in der preußischen Zeit der Reformen von oben und der begrenzten Emanzipation die Juden in der Provinz Posen mehrheitlich nicht mehr als polnische, sondern als deutsche Juden verstanden, was sie allerdings bei zunehmendem Nationalismus von Deutschen und Polen in Gegensatz zur polnischen Bevölkerung brachte. Dies führte gegen Ende des Ersten Weltkriegs, als diese gegen die deutsche Herrschaft aufstand und dann im Versailler Vertrag die Provinz Posen an den neuen Staat Polen überging, dazu, dass die Mehrheit der jüdischen Deutschen – unter ihnen auch die Familien Metz und Sachs – zusammen mit den christlichen Deutschen auswanderten. Über die Umstände dieser Auswanderung und das weitere Leben der in Leszno verbliebenen Juden hätte man gerne noch mehr von der Autorin erfahren. Denn schon im Nationalismus des 19. Jahrhunderts liegt eine Ursache der historischen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts, die aus dem multikulturellen Leszno eine heute religiös und ethnisch homogene polnische Stadt gemacht haben.

Ein abschließendes Kapitel widmet die Autorin der Umwandlung der ehemaligen Provinz Posen zu einem Teil des „Reichsgaus Wartheland“ (Warthegau) nach dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939. Hier geht es um die Umsetzung der rassistischen Eroberungs- und Vernichtungspolitik, deren Kern Hitler schon am 3. Februar 1933, wenige Tage nach der Machtübertragung, vor den Generälen der Reichswehr so formulierte: Eroberung neuen Lebensraums im Osten und dessen rücksichtslose Germanisierung. Der Warthegau sollte in eine NS-Musterprovinz umgewandelt werden. Dies bedeutete die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung und der polnischen Elite. Der verbleibenden polnischen Bevölkerung war die Deportation nach Osten und ein Dasein als Arbeitssklaven zugedacht. Das Kapitel verdeutlicht, zu welch mörderischen Konsequenzen eine Politik geführt hat, die nicht auf Vielfalt und Toleranz, sondern auf der rassistischen Wahnidee vom arischen Herrenmenschen beruhte.

Gesine Schmidt hat eine berührende und sorgfältig recherchierte Familiengeschichte vorgelegt, die sich aber nicht in Episoden und Details verliert, sondern den Bezug zum historischen Kontext und zur Gegenwart im Blick behält. Besonders lesenswert wird ihre Untersuchung für Menschen sein, die sich für die komplizierte und leidvolle deutsch-jüdisch-polnische Geschichte interessieren. Andere könnte sie darauf neugierig machen.

Titelbild

Gesine Schmidt: Jüdisches Leben in Lissa/Leszno. Das Schicksal der Familien Metz und Sachs aus der Provinz Posen.
Hentrich & Hentrich Verlag, Berlin/Leipzig 2018.
150 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783955652968

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