In einer Welt der Zeichen nach der Wirklichkeit suchen

Im Abschlussband seiner Venedig-Trilogie entdeckt Gerhard Roth die Realität hinter den Fassaden

Von Heribert HovenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heribert Hoven

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Österreich liebt man bekanntlich die Berge, und wie Gebirge türmen sich die Werke der großen Schriftsteller des Landes vor uns auf, ob sie nun Doderer, Musil, Bernhard oder Handke heißen. Einen gewaltigen Bücherberg hat auch Gerhard Roth, der im nächsten Jahr den achtzigsten Geburtstag feiern kann, seinem Publikum geschenkt. Auf den siebenbändigen Zyklus Die Archive des Schweigens setzte er die fünf Bände des Orkus-Zyklus, schrieb weiterhin Essays und Theaterstücke, und nun beendet er, nach Die Irrfahrt des Michael Aldrian und Die Hölle ist leer – die Teufel sind alle hier, mit seinem vorläufig letzten Roman die Venedig-Trilogie. Damit aber genug der alpinen Analogien. Denn Roth dringt in seinen Büchern eher in die Tiefe als in die Höhe. Hier ist er dem Verborgenen auf der Spur oder dem, was verschüttet ist, ein Graben ohne ein genaueres Wissen um das Ziel. Roths Werke funktionieren dabei untereinander wie kommunizierende Röhren. Immer wieder tauchen bekannte Personen, Motive und Lokalitäten auf, oft jedoch in einem neuen Licht.

So auch im Abschlussband der Venedig-Trilogie. Erneut macht sich ein Protagonist auf die Reise von Wien in die Lagunenstadt, um dort geheimnisvollen Vorgängen nachzugehen. Und trotzdem ist alles anders. Die Hauptperson ist diesmal eine Frau, Lilli Kuck, Angestellte am Wiener Kunsthistorischen Museum. Sie will den rätselhaften Tod ihres Mannes Klemens aufklären, mit dem sie oft gemeinsam nach Venedig gefahren ist. In seinen letzten Tagen ist sie jedoch nicht bei ihm, sondern in Wien gewesen. Allerdings hat man ihr Aufzeichnungen ihres Mannes zukommen lassen, die über seine Wege Auskunft geben können. Beim Besuch des Markusdoms findet sie auf dem Boden ein kleines, mit Blattgold überzogenes Mosaiksteinchen, das aus dem Eingangsmosaik des Weltgerichtes herausgefallen ist und ihr fortan als Talisman dient. Zugleich ist das Steinchen die zentrale Metapher der gesamten Suche. Für sich genommen ist es wertlos und nur im Einklang mit den übrigen Steinen ergibt sich ein anschauliches Gesamtbild. Diesem Prinzip folgt auch Roths Erzählweise. Lilli stößt bei ihren Nachforschungen an diversen Erinnerungsorten auf mysteriöse Ereignisse, allesamt Zeichen, die sie nicht zu deuten weiß. Deshalb registriert sie zunächst ihre Umgebung wie eine Rundumkamera, emotionslos, oft ohne weitere Wirkung und ohne Bedeutung für den Fortlauf der Handlung, deren Rätsel sich am Ende eher beiläufig aufklären.

Obwohl Roth, wie schon oft, Genremerkmale des Krimis aufgreift und damit auch eine gewisse Spannung erzeugt, verfolgt er gänzlich andere Ziele und stellt dabei den Krimi geradezu auf den Kopf. Dieses Verfahren irritiert und hält einige Zumutungen für die Suspense-Fans bereit. Hier nämlich werden Polizisten zu Opfern eines Serienmörders und das gleich sechs an der Zahl. Es scheint, als wolle Roth auf nahezu parodistische Weise die Venedigmorde bekannter Autoren quantitativ übertrumpfen, was ihm mit den zahllosen Todesfällen der Trilogie auch mühelos gelingt. Weiterhin spielen unmotivierte Zufälle eine entscheidende Rolle. Koffer werden ohne ersichtlichen Grund vertauscht, Schreckschusspistolen können auch scharf sein, Spuren und Indizien münden im Nirgendwo. Zauberer und Comic-Zeichner geben entscheidende Hinweise. Klärungsversuche führen in die falsche Richtung, den spiegelverkehrten Aufzeichnungen von Klemens entsprechend, denen Lilli auf ihren Gängen folgt, oder spiegelsymmetrisch wie das menschliche Gehirn. Klemens selbst hat einen Doppelgänger, einen Zwillingsbruder, dem der eigentliche Mordanschlag gegolten hat, so dass also auch der Mörder letztlich einer Täuschung aufgesessen ist. Ein Unbekannter ohne Gesicht, der in einem Computerzentrum alle wichtigen Informationen sammelt und auswertet und im Hintergrund des mörderischen Geschehens wie Gottvater sämtliche Fäden in der Hand hält, entpuppt sich schließlich als ein Wohltäter für Kinder auf einem Fest. Ihm kommt der fragwürdige und nahezu absurde Einfall, an die Kleinen wahllos iPads zu verschenken.

Lilli selbst erlebt in der Lagunenstadt fast alle Aggregatzustände des Daseins. Verfolgt von existentieller Unsicherheit und Fluchtgedanken, empfindet sie „nur Leere in sich, aber das kam ihr noch besser vor als der Schmerz und die Trauer. Sie konnte sich gut vorstellen, mit der Leere zu leben. Im Augenblick erschien sie ihr sogar als das Nächstliegende, und sie hoffte, sich so zu retten.“ An anderer Stelle stellt sie fest: „Die Lüge gehörte zum Leben wie die Wirklichkeit und der Traum.“ Die Traumwelt, das wissen die eingefleischten Roth-Leser, wirkt nicht weniger real als die Wirklichkeit. Als überraschend für Liebhaber kriminalistischer Literatur entpuppt sich die Tatsache, dass Lilli erkennt, dass die Rätsel endlos erscheinen und „dass die Rätselhaftigkeit die einzige wahre Gewissheit auf Erden ist.“ Indem sie sich zurückbesinnt auf ihre Herkunft und auf Kindheitserlebnisse im fernen Hamburg, einer anderen von Kanälen durchzogenen Stadt, gewinnt sie eine gewisse innere Balance. Auch ihr Mann hat in Venedig nach der Vergangenheit und seinem Vater geforscht, der ihn in frühster Kindheit verlassen hat, dabei jedoch den Tod gefunden. Anders als Klemens findet Lilli am Ende zu sich selbst und damit ins Leben zurück. An die Stelle der Tätersuche ist die Selbstfindung getreten.

Venedig gleicht in Roths Roman einem Wimmelbild, in dem man sich verirren kann. Es ähnelt einem Labyrinth, in dessen Gängen sich als verlässliche Koordinate allenfalls noch das Inhaltsverzeichnis anbietet, das hier endlich einmal eine sinnvolle Funktion übernimmt. Bisweilen gelangt man auf Seitenwege und an Orte, an denen der Autor gerne seine enzyklopädischen Kenntnisse der Kunst- und Kulturgeschichte ausbreitet. Kulturelles Wissen bildet eine vertraute Komponente des Roth-Kosmos. Bei der Beschreibung von Museen und Kirchenräumen zeigt sich Roth als Fanatiker des Details. Überdies ist er ein ‚homo viator‘, wie er im Buche steht. Obwohl manches auch aus guten Reiseführern zu ermitteln wäre, überwiegen in Roths literarischem Vademecum immer recht eigenwillige Deutungen, wenn man z.B. erfährt, dass Aqua alta, das alljährlich wiederkehrende, winterliche Hochwasser in Venedig, einen antiken Marmorboden in Schwingung versetzen kann. Der Reiz des Romans liegt nicht in einem spannungsreichen Plot, sondern in der von Zufällen begleiteten Suchbewegung, die so etwas wie die Ansicht eines weltweiten Webteppichs evoziert. Tatsächlich erscheint Venedig, nach Roths Worten auf dem Umschlagtext, wie „eine steinerne Bibliothek, in der nachzulesen ist, wozu der Mensch fähig ist.“ Wobei natürlich auch diese Aussage durchaus doppelbödig ist. Schon der Titel „Es gibt keinen böseren Engel als die Liebe“, der einem Zitat von Shakespeare folgt, kündigt ein Vexierspiel an: Gewohntes wird in Frage gestellt, die Grenze zwischen Außen und Innen aufgehoben, die Fassade, deren Pracht es ja gerade in Venedig zu bewundern gilt, wird darauf hin überprüft, was sich wohl dahinter verbirgt – eine Bewegung, die das Wesen der Literatur berührt.

Dem entsprechen auch die zahlreichen Kippfiguren, die im Roman diskutiert und teilweise abgebildet werden, etwa das berühmte Gemälde „Du oder ich“ von Maria Lassnig („ein Innenbild, wie es aufrichtiger nicht sein konnte“) oder Giogiones geheimnisvolles „Gewitter“-Bild aus der Galleria dell´Accademia.

An dieser Stelle gilt es darauf hinzuweisen, dass Roth über ein umfangreiches und in großen Teilen veröffentlichtes Fotoarchiv verfügt. Man könnte geradezu meinen, dass der Roman zunächst einmal als photographisches Notizbuch konzipiert wurde und dann erst jene Bilder erzählt werden, die der Autor bei seinen Streifzügen durch die Inselwelt Venedigs geschossen hat. So klingt die folgende Passage auch wie das poetologische Programm des Autors oder wie ein autofiktionales Selbstbekenntnis, das die Kluft zwischen  Autor und Werk verwischt: „Wenn Lilli mit Bildern konfrontiert wurde, die sie bewegten, entstanden wie von selbst sprachliche Formulierungen in ihrem Kopf, Übersetzungsversuche vom Bild in die Sprache.“ Die Wahrheit steckt also in den Bildern selbst bzw. ist dann zu erahnen, wenn sich diese wie ein Mosaik zusammenfügen. Vielleicht aber auch erst, wenn man die Venedig-Trilogie als Ganzes liest oder gar das komplette Roth-Gebirge durchschreitet, weil sich doch allein von ganz oben aus der Blick weitet und größere Zusammenhänge zu erfassen sind.

Titelbild

Gerhard Roth: Es gibt keinen böseren Engel als die Liebe. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2021.
256 Seiten , 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783103972146

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