Im Zeichen des Nichts

In Jakob Noltes Roman „Kurzes Buch über Tobias“ wandelt ein scheinbarer Messias durch unsere digitale Gegenwart

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt in Ben Wheatleys 2012 erschienenen Film Kill List diese eine, gerade in ihrer scheinbaren Unauffälligkeit erschreckende Szene, welche die Geschichte plötzlich in eine andere Richtung lenkt: Bei einem alkoholbenebelten Abendessen zweier Pärchen verschwindet die neue Lebensgefährtin des Gastes, dem besten Freund des Hausherrn, in dessen Badezimmer, um sich frisch zu machen. Bevor sie es wieder verlässt, nimmt die zuvor unauffällige, schüchterne Frau den Spiegel von der Wand und malt jenes runenähnliche Zeichen, das auch das Filmplakat ziert, auf dessen Rückseite, bevor sie ihn wieder an die Wand hängt. Der zuvor als Beziehungsdrama angelegte Film wird urplötzlich zu dem, was er letztlich ist: ein Horrorfilm.

Eine ähnliche Szene begegnet uns in Jakob Noltes dritten Roman Kurzes Buch über Tobias. Auch hier zeichnet plötzlich eine Figur ein runenähnliches Zeichen, das gleichsam auf dem Buchumschlag abgedruckt ist. Es ist Jeanne, angeblich die Nichte der Freundin des Black Sabbath-Bassisten Geezer Butler, eine Figur zudem, die nur in einer einzigen Szene vorkommt, in der sie in Butlers Villa Geisterbeschwörungen und Schwarze Messen abhält:

Sie nahm Tobias‘ Hand und legte sie in ihre. Dann zeichnete sie ein seltsames Kreuz in seine Handfläche, das aus einem Y und einem umgedrehten T bestand, träufelte einige Tropfen Wachs darauf und schloss sie zur Faust. Plötzlich jauchzte Jeanne auf und verzog ihr Gesicht zu einer Fratze. Als sie Tobias‘ Hand wieder öffnete, sah es aus, als hätte das Wachs die Form einer Feder angenommen.

Tobias, der Protagonist, studiert zunächst Kreatives Schreiben in Hildesheim, steht erst auf Frauen, dann nur noch auf Männer, veröffentlicht einen gefeierten, experimentellen Debütroman, kehrt der Schrifstellerei den Rücken zu, als ihm kein Stoff für ein zweites Buch einfallen will, und wird nach einem religiösen Erweckungserlebnis in einer Kirche evangelischer Pastor. Nachdem die Gemeinde ihn aufgrund einer wirren Rede zum Christchurch Massaker ausschließt, wird er durch eine auf YouTube hochgeladene Rede zum erfolgreichen Fernsehprediger. Er vermag es, Wunder zu vollbringen (so verwandelt er seine Ex-Freundin in einen Hasen), verliert aufgrund einer Steuerschuld sein ganzes Hab und Gut, wird obdachlos, stirbt und steht schließlich nach drei Tagen wieder auf. Das Ende ist hierbei im strengen Sinne nicht verraten, denn der Roman ist nur ansatzweise linear erzählt und besteht aus einzelnen Episoden, die von Nolte scheinbar zusammenhanglos aneinandergereiht werden.

Bereits Noltes kontrovers diskutiertes Vorgängerwerk Schreckliche Gewalten verstörte mit drastischen Bildern und einer surrealen, traumgleichen Atmosphäre, aufgrund der man niemals sicher sein konnte, ob es sich bei den Schilderungen um Wahnvorstellungen oder die Realität handelte. Kurzes Buch über Tobias knüpft nahtlos an diesen Roman an, wirkt dabei aber deutlich durchdachter und strukturierter. Dies liegt an den Leitmotiven, die sich wie Rettungsanker durch das Buch ziehen; es erinnert in der Anordnung der immer wieder aufgegriffenen und erst gegen Ende auserzählten Geschichten nicht von ungefähr an Kurt Vonneguts Klassiker Slaughterhouse 5, auch der Roman eines Getriebenen, bei dem man nicht unterscheiden kann, was der Phantasie des Protagonisten entstammt, und was tatsächlich passiert zu sein scheint.

Auch arbeitet Nolte verstärkt mit den Mitteln der Spiegelung und – wie bereits in Schreckliche Gewalten – der Metamorphose, so dass man sich mit zunehmender Dauer wie in einem Spiegellabyrinth vorkommt. Überall Reflexionen, aber nirgends scheint es einen Ausgang zu geben; dazu die immer wieder auftauchende Frage, wo denn die Realität aufhört und der (Alp)traum beginnt. Und dann verwandeln sich Menschen, nehmen mal neue Identitäten an, mal verschmelzen sie miteinander. So heißt Tobias‘ Lebensgefährte nicht nur auch Tobias; die Art der Wiedergabe ihrer Dialoge machen ein Auseinanderhalten nahezu unmöglich. Ein weiterer verstörender Effekt ist die fehlende Gewichtung der in den einzelnen Episoden geschilderten Ereignisse. So bekommt eine Alltagsbanalität die gleiche Bedeutung wie eine lebensverändernde Entscheidung; der nüchterne, apathische Erzählton sorgt zudem für wachsendes Unbehagen, weil die unglaublichsten Vorgänge – die Verwandlung eines Menschen in einen Hasen über das Überleben eines Flugzeugabsturzes bis hin zur Widergeburt des Protagonisten – alltäglich erscheinen.

Selbstredend ist der Roman auch eine Auseinandersetzung mit dem Thema Religion in unserer aufgeklärten, globalisierten Welt, einer Welt, in der Wunder und Magie keinen Platz haben und, wenn sie doch vorkommen, ihren Weg in die Bevölkerung entweder als medialer Hype oder als unterstellte Scharlatanerie finden. Der atemlose Duktus des Romans, der natürlich auch der atemlose Rhythmus unserer Zeit ist, mitsamt ihrer digitalen Multiplikatoren, lässt keine Zeit zur Reflexion und zur Verinnerlichung zu, so dass ein neuer Messias, sollte Tobias denn einer sein, quasi unbeachtet durch die digitale Gegenwart spazieren kann. Eine sehr beunruhigende Erkenntnis, so wie der ganze Roman auf die Beunruhigung seiner Leser*innen abzielt, wie die eingangs geschilderte Szene eindrucksvoll unter Beweis stellt. Doch anders als in Kill List, wo sich das Symbol als Erkennungszeichen eines neoliberalen Opferkults herausstellt, bleibt es in Kurzes Buch über Tobias ein leeres Zeichen, das nur auf sich selbst und damit auf eine beliebig konstruierbare Bedeutung verweist.

Titelbild

Jakob Nolte: Kurzes Buch über Tobias. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.
231 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783518429792

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