Von Ängsten, Hoffnung und Lebensfreude

Elena Ferrante versammelt 52 Kolumnen – „Zufällige Erfindungen“ – in einem Buch

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Elena Ferrante hat Angst. Angst vor dem Versagen, Angst vor Übertreibungen und Angst vor dem Ende eines rundum lebenswerten Lebens. Sie sorgt sich um ihre Gesundheit. Sie hat Angst, sich gehenzulassen, und immer wieder das Gefühl, „unzulänglich“ sowie einer Aufgabe nicht gewachsen zu sein. Vor allem von diesen Ängsten handeln 52 Kolumnen, welche Elena Ferrante im Jahr 2018 schrieb. Der britische „Guardian“ gab ihr ein Jahr lang Listen mit Themen, aus denen die Autorin sich Woche für Woche eines aussuchte und einen kurzen Text verfasste. Die 52 entstandenen Texte hat der Suhrkamp Verlag nun unter dem Titel Zufällige Erfindungen in einem Buch versammelt und mit surrealen, klaren und sinnlichen Illustrationen von Andrea Ucini versehen.

Schon als Kind habe Ferrante beim Tagebuchschreiben „panische Angst davor [gehabt], dass jemand einen Blick auf meine Texte werfen könnte“. Sie beruhigte sich, indem sie auch erfundene Geschichten niederschrieb und das Tagebuch selbst somit zur Erfindung wurde und ihr Distanz ermöglichte. Das Schreiben sieht sie gerne als das Herumstöbern im scheinbar Gewöhnlichen. Sie möchte unbequeme Geschichten erzählen und zugleich Fiktionen erschaffen, welche helfen, „das menschliche Dasein ohne allzu viele Filter anzuschauen“. Später beruhigte sie sich außerdem mit vielen Zigaretten. Sie vergleicht den Nikotinschleier mit einer getönten Brille, die ihr half, Abstand zu halten, weil sie „Angst davor hatte, die Welt in ihrer messerscharfen Klarheit zu sehen“. Zugleich betont sie, es gebe nichts, worüber sie nicht schreiben würde. Und noch immer jagt es ihr Schauer über den Rücken, sichtbar zu machen, was sonst im Kopf verborgen bleibt. Sie fürchtet sich vor Terminen und davor, öffentlich auftreten zu müssen. 

Elena Ferrante hatte sich mit dem Erscheinen ihres Debütromans im Jahr 1992 für die Anonymität entschieden. Insofern ist es nicht möglich, diese Gedankengänge und Erzählungen als dem realen Leben der Italienerin hinter dem Pseudonym entnommen zu sehen. Zwar behauptet die Verfasserin, die Kolumnen stellten „Bruchstücke“ von ihr aus. Die wenigen, vor allem aus Interviews bekannt gewordenen Details über die reale Person, ihre Öffentlichkeitsscheu und ihre Überzeugungen decken sich mit dem Inhalt der Kolumnen. Allein die Annahme, man könne in diesem Buch viel über die Romanautorin erfahren, wird die Verehrer ihrer Kunst anziehen. Die den Buchtitel stellende Aussage, es seien zufällige Erfindungen, legt hingegen nahe, dass den Kolumnen keine authentischen Erinnerungen zugrunde liegen. Ob es die Erlebnisse der unbekannten Italienerin, einer fiktiven Autorin oder einer anderen Person sind oder ob sich Realität und Fiktion mischen, ist dabei gar nicht wichtig. Bedeutender ist, dass die Kolumnen einen überaus hohen Identifikationswert haben. Sie eröffnen neue Blickwinkel auf bekannte Probleme. Beinahe in jeder Kolumne wird eine Form der Angst thematisiert und so behandelt, dass nicht zuletzt Mut und Lebensfreude gewonnen werden kann.

Es sind die bunten Themen der Welt, „in die wir geraten sind“, über welche sie schreibt – Glauben und Freude am Lernen, Klimawandel und Nationalismus, die Liebe zu Büchern und die Bedeutung von Auslassungspunkten, Freundschaft, Sex und Schwangerschaft. Ihre Schwangerschaft war für Ferrante „vor allem eine ängstliche Anstrengung des Geistes“, weil es eine Störung ihres fragilen Gleichgewichts war. Schlaflosigkeit raubte ihr die Lebensfreude. In der „Zittern“ überschriebenen Kolumne berichtete Ferrante drei Wochen nach dem Osterfest 2018 vom Ende ihres religiösen Glaubens. Das Übernatürliche überzeuge sie nicht, es erschrecke sie. Von ihrer jugendlichen Annäherung an die Religion sei ihr nur die Angst der Marien im Markusevangelium geblieben. Glaubensvorstellungen, so fasst sie es an anderer Stelle zusammen, „helfen lediglich, Ordnung in das Chaos unserer Ängste zu bringen.“ Verbote machten Elena Ferrante stets Angst. Und sie hat den Eindruck, „dass unsere Ängste und die der anderen gezielt geschürt“ werden und Sprache gezielt genutzt wird, um sich abzugrenzen und Chauvinismus zu stärken. Ferrante ereifert sich immer wieder über die zermürbende Unterdrückung der Frauen, die „Jahrtausende männlicher Dominanz“. „Alles, wirklich alles, ist strikt auf die Bedürfnisse der Männer zugeschnitten, sogar unsere Unterwäsche“. Ohne Männer geht es aber auch nicht, berichtet sie und gesteht ihre Schwärmerei für den britischen Schauspieler Daniel Day-Lewis. Begegnen möchte sie ihm nicht: „Der Wirklichkeit gelingt es nicht, in den eleganten Formen der Kunst zu bleiben, sie schlägt immer flegelhaft über die Stränge“.

Die Kürze der Kolumnen bedingt Klarheit ohne Umschweife und bequeme Ellipsen. Der Suhrkamp Verlag ließ den Texten Raum und schuf neben den großartigen Illustrationen von Andrea Ucini leere Räume – zum Innehalten und Denken. Das Schweigen in den Bildern und in den Leerräumen des Buches ist ebenso wichtig wie die verdichteten Gedankenströme Ferrantes. So hallen ihre Fragen nach, die sie den Lesern stellt: „Wer erläuterte die Fakten und wer verdrehte sie?“ Oder: „Verfügen wir heute noch über die Voraussetzungen, um weit vorauszuschauen?“

Natürlich konnte Elena Ferrante die Veränderung der Welt nicht vorhersehen. Ihre Gedanken zu den Auswirkungen von Unsicherheit und Isolation können aber als Hilfe während der einsamen Wochen im Lockdown dienen. Angst empfinden auch die meisten während der Corona-Pandemie. Es gibt Hoffnung, denn mit jeder Impfung wird ein wichtiger Schritt auf dem Weg in eine neue Normalität getan. Gleichzeitig wächst die Angst vor Virus-Varianten mit Immun-Fluchtmutationen sowie Nebenwirkungen der Vakzine. Ferrante betont den Wert des Lernens, des sich mit Weltanschauungen und wissenschaftlichen oder soziologischen Fakten Beschäftigens. „Alles in der heutigen Zeit bereitet mir Sorgen“, resümiert sie in der letzten Kolumne. Doch als größtes Problem bezeichnet sie die Folgen der Ungleichheit in der Welt, denn sie führe zu einer immensen Verschwendung von Intelligenz, welche doch gebraucht werde „zur Behebung der von uns angerichteten Schäden oder wenigstens zur Kontrolle ihrer Auswirkungen“. Wenig später verlor die Menschheit die Kontrolle über das neuartige Coronavirus. Es bleibt zu hoffen, dass sich die Krawalle nach Protesten gegen Corona-Beschränkungen in Schweden und Österreich nicht fortsetzen und Gewalt – wie sie schon 2020 auf dem Frankfurter Opernplatz aufflammte – ausbleibt. Eine eindringliche Mahnung von Ferrante hallt in diesem Zusammenhang besonders laut nach: „Am meisten fürchten müssen wir uns vor der Raserei verängstigter Menschen.“ 

Titelbild

Elena Ferrante: Zufällige Erfindungen.
Aus dem Italienischen von Karin Krieger.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.
130 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783518429150

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