Was stimmt da nicht?

Ein Sammelband aus der Wuppertaler Schule dreht und wendet ‚Postfaktisches Erzählen‘

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Postfaktisches Erzählen beginnt mit einer Story. Äsop erzählt in seiner 530. Fabel, wie Prometheus, als er gerade eine Statue der Wahrheit (Aletheia) formte, von Zeus wegberufen wurde. Sein nach dem Dämon der Täuschung benannter Schüler Dolus versuchte sich in der Zwischenzeit an einem Double, musste aber seine Arbeit abbrechen, weil er keinen Ton mehr für die Füße hatte und weil sein Lehrer zurückkam. Prometheus war von beiden Geschöpfen so angetan, dass er ihnen Leben einhauchte. Aletheia konnte gemessenen Schrittes gehen, die Kopie der Wahrheit aber nicht. Sie ist postfaktisch, weil sie dem Ursprung unvollkommen nachgebildet, in ihrer Dynamik eigengesetzlich und in Gestalt wie Wirkung manipulativ ist. Mit solchen Phänomenen in Theorie, Politik, Medien, Film und Literatur beschäftigen sich die 16 Beiträge eines Sammelbandes über Postfaktisches Erzählen. Sie sind aus einem Workshop des Zentrums für Erzählforschung (ZEF) im Februar 2018 an der Bergischen Universität Wuppertal hervorgegangen. 

Das 2007 begründete ZEF gilt als harte Schule der Narratologie, hier wird auf hohem Theorieniveau geforscht, aktuell über „Kollektiverzählungen in Zeiten der Pandemie“ und „Ecocriticism as a Current Trajectory in Narrative Research“. Das Eisen, das der vorliegende Band schmiedet, ist noch heiß. Postfaktisches Erzählen – soviel ist sicher – polarisiert. Es nivelliert traditionelle Grenzen (res factae – res fictae). Es führt zur Diffusion von narratologischen Kriterien, an die wir uns lange zu halten gewöhnt haben: stabile Glaubwürdigkeit des Erzählers, fester Fiktionsvertrag mit dem Leser, Überprüfbarkeit des Erzählten. Und es artikuliert die Sehnsucht nach einem neuen Narrativ. „Post-Truth“ wurde vom Oxford English Dictionary zum Wort des Jahres 2016 gekürt, „alternative Fakten“ wählte eine deutsche Jury zum Unwort des Jahres 2017. Die Herausgeber Antonius Weixler, Matei Chihaia, Matías Martínez, Katharina Rennhak, Michael Scheffel und Roy Sommer erinnern in ihrem souverän zusammenfassenden Entrée zu dem Sammelband an die aristotelische Einsicht, dass die Literatur immer schon an der Herstellung jener Instrumente mitgearbeitet hat, mit denen die Differenzen zwischen Dichtung und Wahrheit, eigener und fremder Rede darstellbar sind. Insofern sind alle Texte, wenn sie fallweise unter postfaktischem Anspruch gelesen werden, Erzählungen.

Darunter fällt sogar ein Tweet wie der Kreuzerlass des bayerischen Ministerpräsidenten vom 24. April 2018: 

Klares Bekenntnis zu unserer bayerischen Identität und christlichen Werten. Haben heute im Kabinett beschlossen, dass in jeder staatlichen Behörde ab dem 1. Juni ein Kreuz hängen soll. Habe direkt nach der Sitzung ein Kreuz im Eingangsbereich der Staatskanzlei aufgehängt. 

Raphael Zähringer liest den politischen Text aus narratologischem Blickwinkel als Mythos-Affirmation („Bayern als (k)ein Gottesstaat“) und als gute Geschichte einer medialen Konvergenzkultur, in deren maximal 280 Twitterzeichen sich Markus Söder zum Erzähler und zugleich zum Stifter einer Erzählgemeinschaft mache; er spreche „sozusagen in postfaktischem Modus über das Volk, zum Volk, und für das Volk“. 

Das ist nur ein – zugegeben: das Gras wachsen hörendes, aber dafür schlagendes – Beispiel unter vielen, mit denen dieser Band das Verhältnis des Postfaktischen zu Gerüchten, Halbwahrheiten, Hoaxes, Tweets, Filmen, Romanen und Gründungslegenden beleuchtet. „Presidential lies“ aus den USA kommen natürlich vor (in Roy Sommers Analyse), aber auch die Relation von Nation und Narration in der BrexLit, der fiktionalen Literatur nach dem Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union (in Janine Hauthals Überlegungen), ferner die Falschmeldungen und Verschwörungslegenden aus der Pandemiezeit (so im Aufsatz von Ulrich Tückmantel). Leitend bei der Beurteilung des Phänomens ist dabei, was Matías Martínez eingangs über ein wahrheitsfähiges Erzählen schreibt: Es gebe ein narratives Wissen, das der kausalen oder konfigurativen Ereigniserklärung diene, die sich ihrerseits entweder mit einem referentiellen (Explikation) oder einem rhetorischen Wahrheitsanspruch (Suggestion) legitimiere.

Zwei Beobachtungen fallen bei der Querlektüre der Beiträge, die im Übrigen sehr verständlich und übersichtlich verfasst sind, ins Auge: einmal, dass der Anspruch auf Wahrhaftigkeit im postfaktischen Erzählen immer auf einer Diskurshoheit beruht und in einem wilden Denken liegt, jenseits von binären Sicherheiten. Zweitens: Postfaktisches Erzählen entpflichtet sich selbst von der Autorität einer Tatsachenwahrheit. Damit wird es zur spiegelverkehrten Figur des präfiktionalen Erzählens der Aufklärungsepoche, in der eine „Thatsache“ nicht das Faktum im heutigen Sprachgebrauch meinte, sondern die Erzählung davon (so Nicola Gess mit Berufung auf Breitingers Critische Dichtkunst, 1740). Es ist leicht, postfaktisches Erzählen zu identifizieren, aber umso schwerer, es im Kreuzungspunkt von Historiographie, Publizistik und Narratologie zu situieren. Das gelingt den Beiträgen dieses Sammelbandes auf exzellente, man möchte fast sagen: fabelhafte, Weise. Denn postfaktische Evidenz hat ja schließlich auch die Moral von Äsops Fabel: Lügen haben kurze Beine.

Titelbild

Antonius Weixler / Matei Chihaia / Matias Martinez / Katharina Rennhak / Michael Scheffel / Roy Sommer (Hg.): Postfaktisches Erzählen? Post-Truth − Fake News − Narration.
De Gruyter, Berlin 2021.
VII, 331 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110692730

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