Die große Liebe zum Kleinen

Ein neuer Sammelband würdigt die journalistische Prosa Milena Jesenskás

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Milena Jesenská war „eine Adresse“, schreibt Rainer Stach im zweiten Band seiner Kafka-Biographie (2008). In der Kafka-Forschung rangiert sie als die Intellektuelle unter Kafkas Geliebten und die erste Übersetzerin seiner Werke in eine andere Sprache. Kafka warb um sie als Schreibende, ihm „verwandt an Entschlossenheit, Leidenschaft, Lieblichkeit und vor allem einer hellsichtigen Klugheit“ (Brief an Milena, 29. Mai 1920). Abseits von solchem auktorialen Eigenlob aber ist die eigene Autorschaft von Milena Jesenská (1896–1944) erst spät gewürdigt worden. 1966 schrieb der tschechische Germanist Eduard Goldstücker, der als Gymnasiast seinen ersten Zeitungsbeitrag bei der Redakteurin Milena Jesenská ablieferte, anlässlich von deren 70. Geburtstag eine erste Rehabilitierung; 1996 wurde sie, zum 100. Geburtstag, von Libuše Moníkova als Widerstandskämpferin entdeckt. Doch es sollte dauern, bis von den bis heute rekonstruierten Prosastücken (über tausend!), die Milena Jesenská während ihrer zwanzigjährigen Arbeit als Journalistin publizierte, Teile wiederveröffentlicht wurden: 41 in einer deutschen Ausgabe (1984) und 355 in der tschechischen Edition Křižovatky (Kreuzungen) von 2016, besorgt von der böhmischen Forscherin Marie Jirásková. Der Sammelband der deutsch-tschechischen Kulturpublizistin Alena Wagnerová stellt 79 Reportagen, Essays und Feuilletons aus diesem Fundus vor, eine kleine Auswahl von großem Gehalt, ein Querschnitt durch Milena Jesenskás hellsichtiges Schreiben.  

Ihre journalistische Karriere begann bei der tschechischen Tageszeitung Tribuna 1920–21; dort übersetzte sie Romain Rolland, Charles Péguy, Paul Claudel, auch Gorkij und Tolstoj, und schrieb Artikel über Wiener Milieus und Pariser Modephänomene. Später verfasste Milena Feuilletons für die größte tschechische Tageszeitung Národní listy und die Illustrierte Pestrý týden (Bunte Woche), 1929/30 Reportagen für die in Brünn begründete politische Tageszeitung Lidové noviny, ab dem Herbst 1937 für die unabhängige politische Zeitschrift Přítomnosk (Gegenwart). Doch so gut der Ruf war, den ihre Arbeiten bei der jeweiligen Redaktion und Stammleserschaft hatten, so sehr galt sie der bürgerlichen Presse als zu links und der kommunistischen als nicht links genug. 

Auf dem Höhepunkt der journalistischen Moderne schreibt Milena Jesenská weniger als Flaneurin denn als Erzählerin mit sozialkritischem Gewissen. In einem Artikel vom 7. November 1926 heißt es über die eigene Rolle:

Ein Journalist, würde ich sagen, ist wie die Resonanz einer Linse im Geschriebenen. Er ist ein Miniaturzeichner, aber in seinen Details trifft er die Wirklichkeit. Er interessiert sich für unauffällige Kleinigkeiten, und auf einmal zeigt sich deren große Wichtigkeit. […] Aufmerksamkeit für das Detail macht aufmerksam für das Große, und die Liebe zum Kleinen befreit uns vom Kleinlichsein.

Sie schreibt über den Großstadttypen des geizigen Machers, der nicht den Genuss des Neureichen verlangt, sondern stumpfe Sicherheit („Der Mann, der alles kauft“), und über Sonntagsvorstädte, die auf so „verzweifelte Weise unerhört“ scheinen wie in Kafkas Roman Der Proceß. Ihre Feuilletons gelten Mode, Design, Architektur, Kino. Sie überlegt zum Unglück vieler Ehen, dass es sich die Eheleute mit ihrem Glück zu leicht machen. Sie nimmt mit der „Unabhängigkeitshysterie“ des zu Wohlstand gekommenen Großstädters das aufs Korn, was heute fear of missing out genannt wird. Ihre Zeitungsartikel berichten über die Situation der Tschechen in Grenzgebieten, über die 3.500 deutschen Emigranten in Prag 1937 und über die Juden, die nach dem Anschluss in Wien bleiben wollen: „Ahasver hat Halt gemacht“. Sie setzt sich für eine Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs ein und für die Patronate, die damals Arbeitslosen und Flüchtlingen mit Nahrungsmitteln, Schlafstätten und Minijobs halfen.

Nach der Okkupation am 15. März 1939 und dem Verbot der illegalen Zeitschrift V boj (Auf in den Kampf), für die Milena Jesenská schrieb, wurde sie am 12. November von der Gestapo verhaftet und vom Volksgerichtshof Dresden wegen Verdachts auf Hochverrats angeklagt, konnte aber aus Mangel an Beweisen nach Prag zurückkehren. Ende Oktober 1940 wurde sie aus Prag ins Frauenkonzentrationslager Ravensbrück überführt, dort ist sie am 17. Mai 1944 gestorben. 

Der Sammelband, den die deutsch-tschechische Kulturpublizistin Alena Wagnerová herausgegeben hat, stellt eine brillante Journalistin der 1920er und 1930er Jahre vor, international und investigativ, urban und modern. Milena Jesenskás Reportagen sind couragierte Zeitzeugnisse. Und ungeschminkte Lebenszeugnisse: „Von Briefen erwarten wir keine Kunst, von Briefen erwarten wir Menschliches“, schreibt sie in einem Feuilleton vom 15. August 1920. Diese Publikation von Milena Jesenskás Prosastücken macht sie zu einer der ersten journalistischen Adressen ihrer Zeit.

Titelbild

Milena Jesenská: Prager Hinterhöfe im Frühling. Feuilletons und Reportagen 1919-1939.
Herausgegeben von Alena Wagnerová.
Aus dem Tschechischen von Kristina Kallert.
Wallstein Verlag, Göttingen 2020.
336 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783835338272

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