Zwischen Politik und Literatur
Jürgen Brokoff untersucht den Einfluss von literarischer Autorschaft auf die öffentlichen Meinungsdeutungen seit der Wiedervereinigung
Von Marieluise Labry
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWelche Gemeinsamkeit hat ein Spiegel-Artikel aus dem Jahr 2015 über die Arbeit bei der Flüchtlingshilfe mit einem Spiegel-Artikel von Botho Strauß aus dem Jahr 1993, der eine der großen Literaturdebatten nach der Wiedervereinigung auslöste? Die Texte teilen sich sehr ähnliche Titel: Aus Botho Strauß‘ Anschwellender Bocksgesang wurde im Spiegel Artikel von 2015 Abschwellender Bocksgesang. Der Journalist Cordt Schnibben, der 2015 für seine Spiegel Reportage die Hamburger Flüchtlingshilfe begleitete und sich später selbst dort engagierte, stellt sich mit dem Titel gegen den vermeintlich rechten Autor Botho Strauß. Jürgen Brokoff hingegen ist davon überzeugt, dass diese Lesart des „rechten Mainstreams“ grobe Polemik gegen den Autoren Strauß ist. Was versucht uns Brokoff also damit zu zeigen?
Brokoffs vorgelegte Analyse Literaturstreit und Bocksgesang widmet sich den Fragen der literarischen Autorschaft und öffentlichen Meinung nach 1989/90 und deren Auswirkungen auf aktuelle Debatten. Ziel seiner Studie ist es, die teilweise polemisch geführten Debatten über Christa Wolfs Text Was bleibt, der 1990 den ersten Literaturstreit im wiedervereinigten Deutschland verursachte, und den bereits erwähnten Anschwellenden Bocksgesang von Strauß befreit von polemischen Lesarten zu analysieren. Laut Brokoff treiben die Debatten um diese beiden Texte einen „tiefgreifenden Wandel der politischen Diskussionskultur in Deutschland heute noch um“.
Bevor Brokoff zu seinen Analysen kommt, beschreibt er auf nur 50 Seiten die Geschichte der literarischen Autorschaft und öffentliche Meinungsbildung in Deutschland von 1947 bis heute. In der BRD werden nach dem Krieg Begriffe wie Öffentlichkeit und öffentliche Meinung neu verhandelt und es erfolgt die Aufhebung der Trennung von Politik und Literatur. Die Gruppe 47 und das erste deutsche Meinungsforschungsinstitut in Allensbach wurden gegründet. Nahtlos an diesen Geschichtsabriss schließt Brokoff die Wiedervereinigung und den Literaturstreit um die DDR-Autorin Christa Wolf an. Der Text Was bleibt wird von Brokoff kompakt und schlüssig analysiert und auf die darauffolgenden Debatten bezogen. Der Begriff des linken Intellektuellen und seine Versäumnisse durch Schweigen und Fehlverhalten werden angeführt. So haben sich, laut Brokoff, linke Intellektuelle aus der DDR in der Idee des Dritten Weges verrannt und die westdeutschen Intellektuellen hingegen sich nicht genug für die Wiedervereinigung eingesetzt. Hinzu komme ein Medienwandel, der in den 90er Jahren zunehmend von sich einbrennenden Fernsehbildern (man denke nur an die Bilder vom 9. November 1989 von der Berliner Mauer) dominiert würde. Und was kam nach 1990? Brokoff beobachtet, dass der rechte den linken Intellektuellen ablöst, was ihn damit direkt zu Strauß‘ Bocksgesang führt.
Im gesamten zweiten Teil des Buches wird Strauß‘ Text mit all seinen verschiedenen Versionen auseinandergenommen und analysiert. Brokoff ist davon überzeugt, dass Strauß fälschlicherweise in die rechte Ecke gestellt werde. Zwar benutze Strauß das Vokabular rechter Intellektueller, jedoch habe das nicht zum Zweck, eine rechte politische Agenda zu vertreten, sondern auf die „in Hypokrisie umgeschlagene Aufklärung und eine mit aufklärerischen Mitteln fortzusetzende Kritik“ aufmerksam zu machen. Kurz gesagt kritisiert Strauß die übertriebene Kritik im Sinne der Aufklärung. Brokoffs Argumentation in Hinblick auf diese Lesart ist zwar schlüssig, erfordert aber eine Menge Kompetenz und Hintergrundwissen in politischer Philosophie. Und dennoch – der schale Beigeschmack der Inszenierung Strauß‘ als rechten Außenseiter mit einer Prise Geschichtsrelativismus unter dem Stichwort der „Totalherrschaft der Gegenwart“ bleibt bestehen. Fakt ist, dass Strauß‘ Text von der Szene der Neuen Rechten instrumentalisiert wurde und wird und der Anschwellende Bocksgesang dort zum neurechten Schlagwort geworden ist. Die Frage bleibt, warum Strauß sich nicht dagegen gewehrt hat. Oder ist genau das die Krux an der Sache mit der Autorschaft und öffentlichen Meinungsmache?
Brokoff setzt sich aber trotz der letzten Zweifel vehement dafür ein, Strauß aus der rechten Ecke zu befreien und ihn in Schutz zu nehmen. Dabei versucht er so wertfrei wie möglich zu bleiben, indem er sich auf seine Textanalyse und Belege bezieht. In seinem Fazit wirft er dann noch einen kurzen Blick auf den aktuellen Stand der Beziehung von Literatur und Öffentlichkeit und hält sich dabei an Jürgen Habermas‘ Text Warum nicht lesen aus dem vergangenen Jahr. Dabei geht er sehr kurz auf die „neuen“ sozialen Medien ein, die einen Rollentausch von AutorIn und LeserIn verursachen würden.
Die vermeintlich vorausgesetzte Autorität literarischer Autorschaft und deren Reputation in der öffentlichen Meinung ist spätestens seit 1990 angekratzt. Das stellt Brokoff am Ende seiner Analysen fest. Die Debatten werden polarisierender und vielschichtiger und der Meinungsbildungsprozess komplexer. Die Trennlinien zwischen Politik und Literatur sind verschwommener denn je, was die zunehmende Anzahl von Literaturskandalen in den letzten Jahren zeigt.
Brokoffs präzise und gleichzeitig kompakte Analysen sind überzeugend und einleuchtend. Kritisch zu betrachten sind jedoch zwei Punkte: Zum einen ist es schade, dass die Thematik Autorschaft und Öffentlichkeit in der DDR mit dem Argument abgehandelt wird, dass es in der DDR keine Öffentlichkeit gab und man daher auch nicht weiter darüber sprechen müsse. Ja, der Begriff der Öffentlichkeit passt nicht zur DDR, deren politisch gelenkte Öffentlichkeit wenig mit freier und offener Partizipation zu tun hatte. Und dennoch sollte man sich bei der Beschäftigung mit dem Thema Autorschaft und Öffentlichkeit vor und nach der Wiedervereinigung nicht nur mit der BRD beschäftigen, sondern auch mit der DDR. Auch hier gab es Verstrickungen von Autorschaft und Meinungsbildung, die vielleicht bisher wenig erforscht wurden, aber dennoch nicht nach guter westdeutscher Manier unter den Tisch fallen gelassen werden sollten.
Zum anderen ist es schade, dass Brokoff seine Analyseergebnisse nicht noch mehr auch auf aktuelle Tendenzen bezogen hat. Wie verändern denn die (gar nicht mehr so neuen) Medien wie Twitter die literarische Autorschaft und Öffentlichkeit? Auch eine Einschätzung der in den sozialen Medien ausgetragenen Konflikte zwischen linken und rechen Intellektuellen wäre interessant gewesen. Schließlich bleibt Botho Strauß nicht der letzte Autor, der in die Szene der Neuen Rechten (ob beabsichtigt oder nicht) gezogen wurde, wie unlängst im Literaturskandal um Monika Maron zu beobachten war.
Vielleicht folgt auf den schmalen Band von Brokoff selbst noch eine größer angelegte Arbeit zu dem spannenden und gerade sehr aktuellem Thema nach literarischer Autorschaft und Öffentlichkeit. Genügend offene Fragen gibt es dazu.
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