Ein spätes Mädchen entdeckt die Wollust

In ihrem Roman „Kein Feuer kann brennen so heiß“ erzählt Ingrid Noll, wie es sich anfühlt, nie die Eine zu sein

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Schriftstellerin wie Ingrid Noll muss man nicht vorstellen. Die Grande Dame des deutschen Kriminalromans hat bereits in 15 Romanen unkonventionell, subtil, mit dem ihr eigenen schwarzen Humor und in verschiedensten Gesellschaftsschichten töten, meucheln und morden lassen. Alle (zwei) Jahre wieder erscheint ein neuer Noll. Der aktuelle heißt Kein Feuer kann brennen so heiß und lässt den erwartungsvollen Leser in weiten Teilen dennoch kalt.

Wieder ist eine mehr oder weniger gewöhnliche Frau mit sehr individuellem Hintergrund die Hauptfigur. Nicht nur, dass sich die Eltern von Lorina Miesebach, kurz Lori, sehnlichst einen Jungen, eben einen Lorenz, gewünscht haben, sie vergreifen sich beim ersten Blick in ihre kreisrunden Glubschaugen auch noch an ihr, indem sie sie Plumplori rufen. Mit der Anleihe bei einem kräftig gebauten Feuchtnasenprimaten beginnt das Mobbing bereits im Elternhaus und geht in der Schule weiter. Lori fügt sich mit der Zeit ihrem vermeintlichen Schicksal und akzeptiert sich selbst als unscheinbarer, ungeschickter Trampel. Schließlich sucht sie sich auch einen Beruf, bei dem sie zwar ihrem Wunsch entsprechend mit Menschen arbeiten kann, ihre kräftigen Arme und Beine aber wichtiger sind, als ein konventionell weibliches Erscheinungsbild: Sie wird Altenpflegerin.

Schnell findet sie bei der reichen, an den Rollstuhl gefesselten Viktoria Alsfelder die perfekte Arbeitsstelle. Weil sonst niemand bereit war, zur ständigen Verfügbarkeit bei der Dame einzuziehen, genießt nun Lori das große Balkonzimmer und die Abgeschiedenheit vom Leben. Der Physiotherapeut Boris, der immer morgens in die Villa kommt und sich nach getaner Arbeit mit einem geträllerten „Kein Feuer, keine Kohle kann brennen so heiß, als heimliche Liebe, von der niemand nichts weiß“ verabschiedet, findet alsbald den Weg in Loris Gemächer. Um bei ihr zu landen, reicht ihm – wie bösartig soll es noch werden? – das erste Kompliment in ihrem 30-jährigen Leben. Ist das Feuer entfacht, wird er schnell zum Pascha und lässt sich von ihr lediglich sein Frühstück servieren. Als er nach einem Autounfall verstirbt – denn was wäre ein Roman von Noll ohne mindestens einen Toten? – muss ein neuer Masseur her. Ruben Crauth beeindruckt mehr durch seine Gabe, Balladen im Nu auswendig zu lernen, als durch seine physiotherapeutische Kompetenz. Sogar das Pudelmädchen Europa, das der Neffe Christian seiner Tante vor einiger Zeit erfolgreich ans Herz und vors Bett legte, mag ihn.

Der viel zu lange, zähe Mittelteil des Romans wird mit Spaziergängen, (Eu-)Ropi und Kaffeeklatsch gefüllt. Fahrt nimmt die Geschichte erst vor dem Schluss wieder auf, als Loris schwangere Schwester ihr Kind anlässlich eines Besuchs in der Villa unerwartet zur Welt bringt. Der kleine Junge hat zudem überraschend asiatische Gene, schlägt damit seine Mutter in die Flucht und sorgt auch sonst für ein heilloses Durcheinander.

Dass der Spannungsbogen der Geschichte ausschließlich durch die Erwartungshaltung des Lesepublikums und der Fangemeinde an die Autorin aufrechterhalten wird, ist eher bedauerlich. Nach allem, was man aus früheren Werken der Autorin weiß, müssten doch zumindest dem Tod des Physiotherapeuten eine ins Leere laufende Ermittlung oder aber weitere ähnlich mysteriöse Dinge folgen. Stattdessen wird der Text durch Minnesang, Balladen, Märchen und Lieder sowie einen feinen Sprachwitz angereichert: Ruben soll „Schillers ellenlangen Handschuh“ rezitieren, für Loris Vater ist „das Bauernfrühstück die abendliche Leibspeise“ und Ruben „zieht“ mit der Hündin beim Eintreffen des wütenden Neffen „schleunigst Leine“. Loris „Schaufeln“ werden von ihrem Vater den Händen auf Dürers Betende Hände und denen auf Michelangelos Gemälde Erschaffung Adams gegenübergestellt. Ruben wiederum, der unter dem Dach logiert, erinnert Lori an Spitzwegs Gemälde Der arme Poet. Ja, das klingt nach einer umfassenden Bildungsreise und Noll nimmt ihre Leserschaft genüsslich auf diese mit.

Was nach der Lektüre tatsächlich in Erinnerung bleibt, ist die Geschichte einer eigenwilligen Selbstfindung der Noll‘schen Art. Der Tollpatsch oder „Dabbes“, wie Ingrid Noll ihre Protagonistin abwertend-hessisch-kurpfälzisch bezeichnet, durchläuft eine zweifelhafte Entwicklung: Sie steigt als Abenteuerin, Affaire und ausgenutztes Dienstmädchen in die Welt der Liebe ein, hat mit Ruben danach ein „Bratkartoffelverhältnis“, bei dem sie ein Muttersöhnchen aufpäppelt, bis es gestärkt zur großen Liebe weiterziehen kann, ohne dabei zu vergessen, sie auch noch als „niedere Minne“ zu diskreditieren. Und doch scheint Lori sich trotzdem ein ganz eigenes Selbstbewusstsein entwickelt zu haben. Die eigenen Bedürfnisse selbst in die Hand zu nehmen, ist allerdings keine Emanzipation, sondern Schadensbegrenzung.     

Der 16. Roman von Ingrid Noll ist weder eine makabre Moritat, bei der Frauen Männer ins Verderben stürzen, noch ein Märchen, bei dem Aschenputtel zur Königin wird. Die Hauptfigur bleibt in ihrem bescheidenen Rahmen genau das, was sie immer war. Zwar hätte auf ihre diffamierende, rabenschwarze und bitterböse Beschreibung zum Auftakt des Romans eine wendungsreiche Geschichte folgen können, doch auch im richtigen Leben bleiben die Unscheinbaren oft einfach nur allein und unauffällig. Der Roman wirkt unter diesen Umständen wie Lorinas einmaliges, pompöses Ausgeh-Outfit – „aus der Zeit gefallen“. Wer Ingrid Nolls klassische literarische Unterhaltung, ihre Wortspiele und skurrilen Figuren mag, der kommt auch bei Kein Feuer kann brennen so heiß durchaus auf seine Kosten, wer von der finsteren kriminellen Fantasie und Genialität der Schriftstellerin mitgerissen werden möchte, sollte lieber eines der früheren Werke wählen.

Titelbild

Ingrid Noll: Kein Feuer kann brennen so heiß.
Diogenes Verlag, Zürich 2021.
304 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783257071153

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