Über die Ursprünge des Antisemitismus

Vorwort zur April-Ausgabe von literaturkritik.de

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 12. Februar 2021 fand an der Evangelischen Akademie Frankfurt ein interdisziplinärer Workshop zu den Wurzeln antijüdischer Stereotype statt, gefördert von der Philipps-Universität Marburg (UMR vernetzt). Organisiert und moderiert wurde die Veranstaltung von Lukas Bormann, Professor für Evangelische Theologie in Marburg, Susanne Maurer, Professorin für Sozialpädagogik im Marburger Institut für Erziehungswissenschaft, und Jan Süselbeck, Marburger Privatdozent für Neuere deutsche Literatur.

Diese Ausgabe von literaturkritik.de macht die Vorträge der hybriden Veranstaltung, die zugleich in der Evangelischen Akademie am Frankfurter Römer und im Internet zu verfolgen war, in überarbeiteter Form digital bzw. in gedruckter Form zugänglich. Die Frankfurter Veranstaltung wurde im Februar live über YouTube gestreamt und ist dort nach wie vor komplett abrufbar.

Die Geschichte des Antisemitismus dauert bereits seit Jahrtausenden an und fand selbst nach der Shoah kein Ende. Diese tatsächlich unvergleichliche Dauer und Kontinuität des Judenhasses verlangte immer wieder neu nach Erklärungen bzw. nach Konzepten der Aufklärung und der Abwehr. In seinem Standardwerk Vom Vorurteil bis zur Vernichtung. Der Antisemitismus 1700-1933 erinnert der Historiker Jacob Katz daran, dass bereits nach der deutschen Reichsgründung 1871, als die rechtliche Gleichstellung der Juden nach fast einem ganzen Jahrhundert schwieriger Debatten mit vielen Rückschlägen endlich erreicht wurde und zugleich mit einer neuen, nunmehr offen rassistischen Welle eines modernisierten Antisemitismus einherging, grundsätzliche neue Versuche zur Definition und Erklärung des Phänomens unternommen wurden. Eine der Schlussfolgerungen auf jüdischer Seite war die „zionistische Hypothese“, geboren aus der „Verzweiflung darüber, daß die Juden niemals als Gleiche in die nichtjüdische Gesellschaft integriert werden würden“.[1] Doch auch die Gründung des Staates Israel im Jahr 1948, nach der Vernichtung von sechs Millionen Juden durch die Deutschen in ganz Europa, brachte keine Entwarnung.

Kaum ein Problem sorgt seit jeher für so große öffentliche Aufmerksamkeit und so erregte Debatten wie der Antisemitismus – bis heute. Wissenschaftliche Erklärungsmodelle kommen und gehen. Schon allein an der Frage der Definition des Phänomens scheiden sich die Geister. An der gewiss nicht perfekten, aber von vielen Ländern und Institutionen weltweit adaptierten und hilfreichen „working definition“ des Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) entzündeten sich zuletzt insbesondere in Deutschland wieder hitzige Diskussionen. Ende März 2021 erschien nun eine von etwa 200 Spezialist*innen der internationalen Holocaust- und Antisemitismusforschung unterzeichnete Alternativ-Definition, die Jerusalem Declaration of Antisemitism (JDA). Es bedarf keiner hellseherischen Fähigkeiten, um vorauszusehen, dass auch diese Definition weitere Debatten herausfordern und in der Sache nicht das letzte Wort behalten wird. Die ersten Reaktionen folgten auf dem Fuße. Kaum war die JDA erschienen, folgten wütende Proteste aus verschiedensten politischen Richtungen. Dabei wurde der JDA zuletzt sogar jede Wissenschaftlichkeit und Empathie für Opfer von Antisemitismus abgesprochen.

Unser Themenschwerpunkt bei literaturkritik.de tritt hier einen Schritt zurück. Er versucht, Aufschluss über die Ursprünge jener Stereotype zu geben, die historisch den Kern antisemitischer Überzeugungen bildeten und durch permanente Umarbeitungen und Aktualisierungen hindurch bis heute stabil geblieben sind. Die Ausgabe liefert dazu interdisziplinäre Perspektiven aus Deutschland und Israel. Dabei geht es neben aktuell besonders heiß diskutierten Fragen der Intersektionalität, also der möglichen Verflechtung rassistischer, geschlechtlicher und antisemitischer Diskriminierungen bzw. der grundlegenden Unterschiedlichkeit von Rassismus und Antisemitismus, um die in Deutschland immer noch in den Kinderschuhen steckende Analyse des literarischen Antisemitismus seit dem 18. Jahrhundert.

Dabei beschäftigt sich der Schwerpunkt auch mit den ältesten Wurzeln antijüdischer Stereotype, die religiöser Natur sind und u.a. in der Heiligen Schrift des Christentums, namentlich dem Neuen Testament, erstmals formuliert wurden. Dass das Christentum seit den judenfeindlichen Kirchenvätern, den Pogromen des Mittelalters und auch dem fanatischen Judenhass des späten Martin Luther einer der maßgeblichen Multiplikatoren des Antisemitismus war, ist bis heute ein Tabuthema geblieben. 

Das unterstrich kürzlich auch der Politikwissenschaftler und Antisemitismusbeauftrage des Berliner Senats, Samuel Salzborn, anlässlich des diesjährigen Osterfestes in der taz

Nur ein Beispiel: Die Luther-Übersetzung der Bibel, die für das evangelische Christentum eine große Relevanz hat, sehe ich weiterhin als Thema, das nicht ausdiskutiert ist. Als vor einigen Jahren eine „Bibel in gerechter Sprache“ erschien, wurde noch einmal deutlich, wie viele antijüdische Stereotype Luther in seine Übersetzung eingeschrieben hat. Ich habe das Gefühl, dass hier immer noch viel Laisser-faire herrscht. Auch im „Lutherjahr“ 2017 veröffentlichte die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) am Anfang eine klare Erklärung und sagte auch am Ende noch einmal etwas – aber dazwischen ist relativ wenig passiert.

Laut dem Literaturwissenschaftler Norbert Mecklenburg, der bereits 2016, passend zum Jubiläumsjahr 2017, eine ganze Monografie über Martin Luther als „Prophet der Deutschen“ im „Spiegel der Literatur“ publizierte, kann der Reformator nicht etwa nur als „peinlicher Störfall, als Ausnahme“ gelten, sondern müsse vielmehr als „markanter Normalfall“ gesehen werden, der „für den gesamten christlichen Antisemitismus“ stehe.[2] Schon beim Apostel Paulus, der aus einer innerjüdischen Sekte eine neue Religion gemacht habe, sei „der historische Jesus zugunsten eines mythischen Gottessohns und Erlösers verdrängt“ und seine „Religion, die jüdische also, abgewertet“ worden: „In den paulinisch-christlichen Mythos sind die realen Juden überwiegend negativ eingebaut, keineswegs nur, aber vor allem mit der mörderischen folgenreichen Lüge des Paulus, sie hätten Christus ermordet (1. Thess. 2,15), und der infamen, auf Projektionen beruhenden Nachrede, sie verstünden ihre eigene Bibel nicht.“[3] 

Den „besten Schlüssel zur Erklärung des perennierenden christlichen Hasses auf Juden“ aber liefert laut Mecklenburg der folgende „Streit um die Bibel“, also deren vielfach verzerrte spätere Rezeption und Fortschreibung durch die verstockten Christen: „Dass jeder beliebige bibelkundige Jude das Fundament des christlichen Dogmen- und Gedankengebäudes spielend leicht umstoßen“ könne, bilde, wie man „nirgendwo besser als bei Luther exemplarisch“ sehe, die „tiefste Hassquelle im christlichen Antisemitismus“.[4] Es handele sich, mit anderen Worten, um einen „Geburtsfehler der christlichen Religion selbst“, der „weder von gestrigen noch heutigen Theologen behoben werden“ könne.[5]

Die hier versammelten Beiträge liefern neue Materialien zu diesem zeitlosen Thema und seinen weiterhin unabsehbaren Folgen:  Die selten expliziten poetischen und dramatischen Vermittlungsformen antisemitischer Ressentiments lassen sich unter anderem an kanonischen literarischen Texten der Romantik oder auch an Kinderbüchern der Nachkriegszeit studieren, aber auch bis hinein in die Gegenwartsliteratur nachweisen, wo ihnen weiterhin ein starkes affektives Wirkungspotenzial beim Lesepublikum zukommen kann. 

Den Beiträgerinnen und Beiträgern sei an dieser Stelle herzlich für ihre Artikel gedankt. Lukas Bormann gebührt der Verdienst, die Beantragung der UMR-Vernetzt-Förderung an der Philipps-Universität Marburg angeregt zu haben, deren Unterstützung den Workshop überhaupt erst möglich gemacht hat. Die Zusammenarbeit mit Susanne Maurer, der hier ebenfalls für ihre interdisziplinäre Bereicherung und umsichtige Co-Moderation der Tagung zu danken ist, war in unseren vielen Webex-Meetings seit Anbeginn von großer fachlicher Offenheit geprägt. Zunächst als Präsenzveranstaltung für den November 2020 in Marburg geplant, mussten wir die Tagung aufgrund der Covid-19-Pandemie letztes Jahr noch einmal verschieben, um sie in der technisch ideal ausgestatteten Evangelischen Akademie Frankfurt neu planen. Die Entscheidung entpuppte sich als ausgesprochener Glücksfall: Dank dem dortigen Studienleiter für Religion und Politik, Eberhard Pausch, der als Gastgeber mit durch die Veranstaltung führte und mit seinem professionellen Team für einen reibungslosen Ablauf sorgte, konnten Zuschauer*innen in der ganzen Welt den Workshop verfolgen und dabei via Chatfunktion mitdiskutieren bzw. dem Podium vor Ort Fragen stellen. Last but not least gilt der Dank dem literaturkritik.de-Herausgeber Thomas Anz und unserer Mainzer Redaktion für die gemeinsame Vorbereitung der vorliegenden April-Ausgabe, der alle Beteiligten viele Leser*innen wünschen.

[1] Jacob Katz: Vom Vorurteil bis zur Vernichtung. Der Antisemitismus 1700-1933. Aus dem Englischen von Ulrike Berger. München: Verlag C.H. Beck 1989, S. 15.

[2] Norbert Mecklenburg: Der Prophet der Deutschen. Martin Luther im Spiegel der Literatur. Stuttgart: J.B. Metzler Verlag 2016, S. 287.

[3] Ebd., S. 288.

[4] Ebd.

[5] Ebd., S. 289.

Titelbild

Norbert Mecklenburg: Der Prophet der Deutschen. Martin Luther im Spiegel der Literatur.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2016.
313 Seiten, 59,95 EUR.
ISBN-13: 9783476026842

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