Lesen in der Corona-Krise – Teil 15
Corona-Republik Deutschland? Heribert Prantl diskutiert in „Not und Gebot“ über die Einschränkung von Grundrechten
Von Thorsten Paprotny
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseJournalistische Leidenschaft verfügt über eine besondere Schwungkraft, mitunter über eine akzentuierte Schärfe, aber auch über eine sorgfältige Nuancierung. Die Corona-Pandemie hat Politik, Gesellschaft und Kultur auf vielfältige Weise an die Grenzen der Belastbarkeit geführt. Die befristete Aussetzung sowie Regulierung von Grundrechten – der Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit – wurde und wird in sehr außergewöhnlichen Zeiten nahezu widerspruchslos hingenommen. Auch über das Prinzip der Verhältnismäßigkeit – die Einschränkung von Grundrechten ist nur befristet statthaft – berichtet der vor allem durch seine zeitdiagnostischen Kommentare in der „Süddeutschen Zeitung“ bekannte Publizist Heribert Prantl in dem vorliegenden Buch. Dieses sei, so bekräftigt er energisch wie plakativ, ein „Kernsatz des Rechts“ und „kein Wischi-Waschi-Satz“. Ebenso seien Grundrechte „kein Larifari“. Zugleich stellt er fest: „Wer die Grundrechte verteidigt, darf nicht in einen Topf geworfen werden mit obskuren Verschwörungsideologen.“
Mit ungeschmeidigen, ja unzeitgemäßen Betrachtungen meldet sich Heribert Prantl zu Wort – mitten in der noch immer anhaltenden Corona-Krise –, pointiert, prägnant und mahnend. Er schreibt mit Verve, beflügelt von aufklärerischer Gesinnung. Bisweilen appelliert er mit Pathos, wenn er emphatisch darlegt, dass die „Gesellschaft von den Medien, von den Journalisten“ erwarte, dass ein jeder, der sich publizistisch äußere, als „Zeuge der Wahrheit“ erscheine. Er versteht darunter nicht Enthüllungen, die für Empörung sorgen, sondern nüchterne und klarsichtige Analysen:
Aufdeckung geschieht nicht um der Erregung willen, sondern um der Treue zu Demokratie und Rechtsstaat willen. Die journalistische Wahrheitssuche muss mit Neugier, Urteilskraft und Integrität betrieben werden, sie muss in Zuverlässigkeit, Vertrauenswürdigkeit und Vertrauen eingebettet sein.
Die Sprachmelodie mutet feierlich, präsidial und abgeklärt an, erhaben und distanziert. Doch Prantl selbst spitzt zu, allein schon, weil der Untertitel des Bandes nachfragt, ob die Grundrechte derzeit in Quarantäne gehalten würden. Sind diese also virologisch-politisch vorübergehend oder, im Slang der Gegenwart gesprochen, bis auf Weiteres auf einer Isolierstation beherbergt? Prantl schreibt: „Die Wahrheit soll ans Licht.“ Zugleich legt er dar:
Der Graben zwischen Befürwortern, Kritikern und Verweigerern von Schutzmasken und sonstigen Anti-Corona-Maßnahmen zieht sich tief durch die Familien. Und jeder redet von Wahrheit. Jede Seite nimmt für sich in Anspruch, die Wahrheit zu sagen und sie auf seiner Seite zu haben.
Heribert Prantls Buch enthält eine Reihe von Wiederholungen. Er bekräftigt zweimal, dass die Presse „nicht Lautsprecher der Virologie, sondern der Demokratie“ sei. Das klingt vordergründig plausibel wie plakativ, die Frage aber nach einer differenzierten und sorgfältigen Analyse in einer sehr außergewöhnlichen Zeit bleibt offen. Die kritische Reflexion wissenschaftlicher Meinungen, aber auch die Diskussion publizistischer Kommentare scheint unerlässlich zu sein – wer bestreitet das ernsthaft? In den Medien scheint die Dominanz der Covid-19-Berichterstattung ungebrochen zu sein. Prantl benennt darum, was für alle unvorstellbar gewesen sei, von der Kontaktkontrolle bis zur Maskenpflicht. Er beschreibt dies anschaulich, aber nicht nüchtern:
Wir haben erlebt, wie dekretiert wurde, ob und wo man sich mit wem treffen darf. Wir haben erlebt, dass man sterbende Angehörige nicht mehr besuchen, nicht einmal mehr sehen durfte. […] Die Alten in den Pflegeheimen wurden isoliert, die Kranken in Krankenhäusern auch. Wir haben erlebt, wie Ostern entfestlicht und Weihnachten entweihnachtet wurde – weil strenge Kontaktregeln das gewohnte Feiern unmöglich gemacht haben.
Diese und viele andere Maßnahmen, die mit dem Infektionsschutz begründet wurden, stießen oft auf Zustimmung. Dass besonders anfangs selten Widerspruch artikuliert wurde, mag daran liegen, dass auch die Angst vor den Dimensionen und Folgen einer weithin unbekannten Viruserkrankung sehr präsent war. Heute werde, so Prantl, der „Präventionsstaat“ als „Freund und Partner“ wahrgenommen:
Wir haben erlebt, dass das Sichere nicht mehr sicher ist und das Sichergeglaubte nicht mehr hält, und dass Grundrechte als Ballast und als Gefahr gelten im Kampf gegen Covid-19. Was eigentlich Irrsinn ist, galt und gilt, wenn es um Corona-Prävention geht, als sinnhaft, als geboten, als alternativlos, als absolut notwendig, als lang noch nicht ausreichend.
Prantl spricht von einem „Ausnahmezustand“ und einer „untergesetzlichen Parallelrechtsordnung“, die durch exekutive Rechtsordnungen entstanden sei.
Die dargelegten Ausführungen mögen für sich genommen nachvollziehbar sein, mit Leidenschaft vorgebracht sind sie. Prantls entschiedene Kritik am Diskussionsverzicht über die Maßnahmen ist berechtigt. Die Parlamente bleiben bis heute an den „vertraulichen Beratungen der Kanzlerin und der Ministerpräsidenten“ unbeteiligt. Also spricht Prantl – zugespitzt – von einer „coronalen Verzwergung der Parlamente“. In dem Buch bleibt der öffentliche Sprachwandel, der die Pandemie begleitet – von „AHA-Regel“ über „Mindestabstand“ bis zum „Impfangebot“ –, bedauerlicherweise unberücksichtigt. Prantl konzentriert sich darauf, aufzuzeigen, dass die Beziehungen von Menschen untereinander und das Verhältnis zur Welt in der Corona-Zeit nachhaltig erschüttert und verändert worden sei: „Werden die Entfremdungsregeln künftig bei jedem neuen Virus von Neuem aktiviert? Der permanente politische und mediale Alarmismus hat der Gesellschaft nicht gutgetan.“ Erwägenswert bleibt die substanziell fundierte Kritik am Besuchsverbot in Senioreneinrichtungen: „Alte Menschen sterben früher; an Isolation.“ Zudem sei die Aufregung über „Verschwörungsphantasten“ größer als die „notwendige Diskussion über die Einschränkung von Grundrechten“.
Die Grundrechte, so Prantl, stünden nicht unter „Pandemievorbehalt“. Was werde bei künftigen Pandemien geschehen, die „noch gefährlicher als Corona“ seien? „Wird es dann zackig heißen: Maske auf, Klappe halten?“ Vielleicht sind diese Hinweise auf einen neuen postmodernen Untertanengeist im Zeichen von Covid-19 übertrieben, ganz abwegig müssen sie deswegen noch nicht sein.
Corona sei die Geschichte einer „Entheimatung“. Die Gesellschaft brauche darum in der „Corona-Wirklichkeit“ auch das „Licht der Zuversicht“. Stattdessen scheint es, als habe das Infektionsschutzgesetz das Grundgesetz gegenwärtig ersetzt. Es seien „wachsame Demokraten“ so notwendig wie „gute Virologen“. Eine Frage begleitet Prantl seit Beginn der Corona-Zeit: „Wann wird aus der Demokratie eine Virolokratie?“ Besorgt macht ihn, im März 2020, die gespenstische Leere auf den Straßen. Zugleich stellt er irritiert fest, dass fast alle Zeitgenossen den „virologisch-politisch-publizistischen Rigorismus gut“ finden. Er fordert:
Virologen dürfen radikal, ja maßlos denken. Politiker aber müssen Maß halten und über die Verhältnismäßigkeit der Mittel nachdenken. Dieses Maß der Mittel wird im demokratischen Rechtsstaat vom Recht bestimmt, nicht von Stimmungen und auch nicht von der Virologie. […] Das Beharren auf Grundprinzipien ist nicht pedantisch, sondern rechtsstaatlich.
Der Staat gewinne durch Corona wieder an „Autorität“. Darüber hinaus werde dieser zur „Obrigkeit“, erscheine wie eine „fürsorgliche und strenge Instanz“. Zudem vermehre sich die Neigung, „Freiheit gegen Gesundheit zu tauschen“. Prantl zeigt wiederholt – und fast immer mit denselben Worten – eine problematische Entwicklung auf: „Der Bürger gewöhnt sich daran, dass heftige Einschränkungen der Bürgerrechte zu den Bewältigungsstrategien einer Krise gehören.“ Die „umfassende Aussetzung der Grundrechte“ gehe damit einher, dass „Kritik und Protest“ verschwinden würden: „Das Virus hat nicht nur Menschen befallen, sondern auch den Rechtsstaat. […] Eine demokratische Gesellschaft darf nicht nur auf Virologen hören.“
Die neue Obrigkeitshörigkeit erwähnt Prantl mehrfach. Immer wieder appelliert er daran, dass die „Verantwortung für die Demokratie“ nicht delegiert werden dürfe, weder an einzelne Experten bestimmter Fachwissenschaften noch an die Regierung noch an Behörden: „In einer Demokratie darf man unzufrieden, unbequem, auch aufsässig sein – solange, solange man sich dabei nicht strafbar macht.“ Heribert Prantl bekennt sich energisch zur Pressefreiheit:
Es gilt heute, die Freiheit gegen das Coronavirus zu verteidigen. Die Verteidigung besteht heute darin, die Grundrechte zu schützen – zu schützen davor, dass das Virus und die Maßnahmen gegen das Virus von den Grundrechten nur noch die Hülle übriglassen. […] Es ist Aufgabe der Presse, unverhältnismäßige Grundrechtseingriffe anzuprangern und nicht als Beitrag zur Volksgesundheit schönzureden.
Prantl fordert eine Neubelebung von öffentlicher Kommunikation und Diskussion.
Eine rechtstheoretische Debatte über die Einschränkung von Grundrechten wird stattfinden und geführt werden. Die Rechtsprechung lässt Heribert Prantl in seinem Buch unberücksichtigt, denn bestimmte unklare und bedingt plausible Einschränkungen aus den Verordnungen wurden durch Gerichte bereits aufgehoben. Auch die weitreichenden Befugnisse, die der Bundesgesundheitsminister durch das neue Infektionsschutzgesetz in Pandemien erhält, dürften juristisch diskutiert und verfassungsrechtlich geprüft werden. Prantl weist auf Defizite in den gegenwärtigen Diskussionen hin und verteidigt glaubwürdig den Geltungsanspruch der Grundrechte. Er argumentiert widerborstig, freimütig und entschlossen, auch mit rhetorischem Geschick. Prantl mangelt es nicht am Gespür für Akzente, jedoch an der Sensibilität für Nuancen. Seine lesenswerten Darlegungen wirken immer authentisch, aber nicht immer hinreichend begründet.
Hinweis: Alle bisher erschienenen Teile unserer Reihe „Lesen in der Corona-Krise“ finden Sie hier.
|
||