Ein verfremdetes Großstadtmärchen

Hans-Peter Fischers Konjekturen zu Kafkas letztem Lebensabschnitt, „,Franz heißt die Kanaille‘ oder: Schwarzer Prinz in Steglitz“

Von Ulrich KlappsteinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Klappstein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Schriftsteller Franz Kafka tritt im Juli 1923, nach einem Zwischenstopp in Berlin, einen Erholungsurlaub im Ostseebad Müritz an und macht dort die Bekanntschaft von Dora Diamant. Er zieht anschließend zu ihr nach Berlin, zunächst nach Steglitz, dann nach Zehlendorf, bevor er sich infolge seines labilen Gesundheitszustands auf seine letzte Lebensstation ins österreichische Lungensanatorium Hoffmann in Kierling bei Klosterneuburg begibt, wo er am 3. Juni 1924 stirbt. Die Rückkehr in das stereotype Leben nach Prag zu seinen Eltern war nicht mehr geplant, eigentlich hatte er ein neues Leben anfangen wollen, hatte sogar angefangen, bei der Palästinenserin Puah Ben-Tovim Hebräisch zu lernen und erwogen, gemeinsam mit Dora nach Palästina überzusiedeln.

Das Großstadtleben Berlins hatte er schon während seiner fünfjährigen Bekanntschaft mit Felice Bauer kennengelernt und sich dort mit Tile Rössler, einer Buchhändlerin, angefreundet. In Berlin trifft er sich mit dem Freund Max Brod im Café Josty, stattet Puah gelegentliche Besuche ab und empfängt seine jüngste Schwester Ottla und sogar seinen Onkel Siegfried Löwy aus Prag. In der Berliner Zeit entstehen noch letzte Erzählungen: Heimkehr, Der Bau und Eine kleine Frau.

Zu Lebzeiten war Kafka ein fast unbekannter Autor, heute zählen seine Werke zum festen Bestand der Weltliteratur.

Kafka hatte gegenüber Max Brod schon 1921 verfügt, alle seine Manuskripte zu vernichten. Vieles indes ist erhalten geblieben, weil es von Brod in einem Koffer nach Palästina gerettet werden konnte, Kafkas Notizen aus Berlin und dort entstandene Entwürfe dagegen nicht. Kafkas Biograf Reiner Stach spekuliert über einen vierten Roman, gestützt auf die Erinnerungen Dora Diamants: es soll sich um einen Briefroman gehandelt haben. Eine Episode könnte sich auf einem gemeinsamen Spaziergang mit Dora in einem Steglitzer Park zugetragen haben. Man traf dort auf ein kleines Mädchen, das traurig war und weinte, und zum Trost soll Kafka ihm eine Puppengeschichte geschrieben haben. So hat es Dora erzählt und Max Brod hat es ähnlich überliefert.

Die eigenen Schriften, obgleich das Schreiben sein Leben bestimmte, galten Kafka offenbar nichts, nur Weniges ließ er gelten: die Erzählungen Das Urteil, Die Verwandlung, das Heizer-Kapitel, die Landarzt-Fragmente und den Band Der Hungerkünstler. Lesarten der Texte Kafkas gibt es viele, aber die „Schrift ist unveränderlich, und die Meinungen sind oft nur ein Ausdruck der Verzweiflung darüber“ – wie es Kafka den Geistlichen im Roman Der Prozeß sagen lässt. Jede Lesegeneration schafft sich ihren eigenen „Kafka“, unterstützt von Biografen, Werkinterpreten und Autoren fiktionaler Werke, wie zuletzt vom Berliner Schriftsteller Michael Kumpfmüller, der in seinem Roman Die Herrlichkeit des Lebens das letzte Lebensjahr Kafkas so vortrefflich gestaltet hat.

Auch Hans-Peter Fischer hat sich vorgenommen, in seinem neuen, polyphon angelegten „Großstadtmärchen“ einige Facetten aus Franz Kafkas Berliner Zeit zu enthüllen. Kafkas Texte proben bekanntlich Anfänge – ob Fischers Deutungspraxis des letzten Lebensabschnitts eines bedeutenden Schriftstellers überzeugen kann, gilt es hier zu überprüfen, denn Kafkas literarisches Schaffen in Berlin gilt weitgehend als Leerstelle und bietet Raum für Fiktionen aller Art.

Die Titelei verspricht ein besonderes Lesevergnügen: Kafka war nach seinem Müritz-Aufenthalt nach Berlin zurückgekehrt und in einer Charlottenburger Buchhandlung traf er die dort angestellte Tile Rössler wieder, die er während seines Strandurlaubs kennengelernt hatte. Spontan lud er sie ein, ihn zu einer Aufführung im Deutschen Theater zu begleiten, gegeben wurde Schillers Die Räuber. Während der Vorstellung raunte er Tile zu: „Hörst du, Tile, Franz heißt die Kanaille!“ – so hat es auch der Kafka-Biograf Reiner Stach in Kafka. Die Jahre der Erkenntnis übermittelt, dem Fischer auch sonst viel zu verdanken scheint. Der Titel des Buches – Schwarzer Prinz in Steglitz – verweist auf eine verbürgte Beschreibung Kafkas durch Dora Diamant. Fischer kündigt so eine poetisierte Behandlung vom Leben Kafkas in der Großstadt Berlin an, die „episch / lyrisch / dramatisch“ neue Spuren legt, die geeignet sein könnten, in Ermangelung einer Selbstbiografie Kafkas die bewährte Kafka-Chronik aus dem Wagenbach-Verlag (Berlin 1999) auf eine ganz eigenständige Art und Weise zu ergänzen. Den Leserinnen und Lesern wird ermöglicht sich auf eine Lesereise zu den in Tagebüchern und Briefen verbürgten Leseeindrücken Kafkas sowie zu Autoren und Texten aus dem Bestand von Kafkas nachgelassener Bibliothek zu begeben. Kein einfaches Unterfangen wie sich zeigen wird.

Fischer beginnt in Steglitz, mit der schon erwähnten „Puppengeschichte“. Anwesend sind in seinem Buch außer Kafka dessen letzte Lebensgefährtin Dora Diamant, dann das Mädchen im Park, Katharina, genannt Katja. Die Handlung kommt in Gang, als Kafka sich mit dem Mädchen trifft, um seine Geschichte zu schreiben. Da er von den Eltern Katjas verdächtigt wird, ein Kindesverführer zu sein, wird er von zwei Polizisten zunächst auf die Wache mitgenommen. Den vorläufigen Abschluss bildet eine Szene in Kafkas Steglitzer Wohnung: nach seinem abrupten Rauswurf durch das Vermieterehepaar und der Räumung der Wohnung zieht Kafka zur Witwe des Schriftstellers Carl Busse ins Villenviertel Zehlendorfs; den Umzug hat Dora Diamant in die Wege geleitet.

Dann folgt der zweite Teil des Buches. Christine, die Tochter der Busses, lädt zwei Berliner „Mamsells“ in Kafkas neues Domizil ein, die den „berühmten Schriftsteller aus Prag“ besuchen wollen: Emmy Salveter, „die kleine Amoure von Max Brod, dem Prager Freund“ und Tile Rössler, „die aus dem Buchhandel“, die Kafka in Müritz kennengelernt hatte. Zunächst wird ein kleines „Plauderstündchen“ mit den jungen Damen verabredet, um den kränklichen und bettlägerigen Kafka aufzumuntern, da Dora keine Zeit hat, weil sie im jüdischen Volksheim arbeiten gehen muss, um die gemeinsame Haushaltskasse aufzubessern. In der Wohnung entspinnt sich ein lockeres Gespräch über Literatur und die Damen halten Kurzvorträge: Tile bringt Anekdotisches über einen Füsilier aus dem Regiment Prinz Heinrich von Preußen zu Gehör (Kafka kommentiert: „Davon kann sich ein jeder im Deutschen Historischen Museum überzeugen“); Emmy plaudert über einen „Zulukönig und seinem Tross“, über den sie aus der Zeitung erfahren hat, und Christine, die Tochter des Hauses, steuert ihre Leküreerfahrungen aus ihrem Deutschunterricht bei („Kleists Novelle Die Verlobung von St. Domingo“) und hält ein kulturhistorisches Kurzreferat über Haiti und die Sklaverei. (Schon hier scheint allerdings der frühere Deutschlehrer Fischer mit seinen Unterrichtserfahrungen allzu sehr durch.)

Aber weiter: Da man sich beim Geplauder „verfranst“, schlägt Tile ein anderes Arrangement vor: „Das muss Zack haben, ’ne Prüfung, wie bei den Freimaurern, nur nicht so dolle, aber ’ne Prüfung muss her, oder?“ Kafka, der bisher nur zugehört hat, ergänzt – so denkt es sich der Autor zumindest: „Wir sagen z.B. Schlussverse auf, von Strophen oder besser Gedichtenden, und wie der Titel dann lautet, wie der Autorenname, wer das rät, der kriegt dann so einen big point“.Die erste Rätselrunde kann beginnen und wie nicht anders zu erwarten, löst Kafka schon beim ersten Zuhören alle Rätsel: ein bekanntes Zitat aus Rilkes Der Panther, vorgetragen von Christine, dann einige Zeilen von ihm selbst, die Emmy von Max Brod per Zufall aufgeschnappt hat (es handelt sich, wie man weiß, um ein Zufallsgedicht Kafkas, einen kleinen Mehrzeiler in einem Gästebuch eines Prager Kaffeehauses aus dem Jahr 1911), schließlich Tiles Reminiszenz an Hölderlins Gedicht Hälfte des Lebens, was Kafka natürlich auch richtig entschlüsselt, obwohl er selbst „nie dort gewesen [sei], in Tübingen, am schönen Neckar, leider“. Christine, „kokettierend wie eine Zirkusprinzessin bei ihrem Auftritt“ – Fischer denkt hier wohl an Kafkas berühmte Kleinsterzählung Auf der Galerie –, kürt Kafka begeistert zum Sieger des Ratespiels („Juchhu! und ganz toll!“) und fortan gebührt ihm als ausgewiesenem Literaturkenner die Ehre, als „Programmdirektor“ für den „Fortgang der Veranstaltung Sorge tragen“ wie es bei Fischer heißt.

Flugs ernennt er die jungen Damen zu den drei „Parzen aus der Mythologie“, in Anerkennung vieler Lobpreisungen deutscher Dichter, etwa bei Hölderlin oder bei Schiller. Diesen Vorbildern eifert nun auch Christine nach und zitiert kenntnisreich aus Heinrich von Kleists Brief an Marie, seine Förderin und Vertraute. Und das wiederum regt Kafka, den „Arrangeur“, zu folgender Idee an: „Jeder von uns, ihr, noch einige dazu, ich kann mir das schon gut vorstellen, in Umrissen sehe ich es schon vor mir, wir zusammen bilden für kurze Zeit eine Art Leseforum. Da besprechen wir, was wir zuvor ausgewählt, für geeignet gehalten haben.“ Da eine solche Äußerung sich wohl schwerlich finden ließe, mischt sich nun der Erzähler/Autor-Fischer ein, mit dem „Erstellen eines Zeitrahmens“. Er erteilt aber sogleich Kafka selbst wieder das Wort: „das übernächste Wochenende […], von Freitag bis Sonntag, da würden erst Ottla, dann Max, auch sein Onkel Siegfried eintrudeln.“ Die anderen machen weitere Vorschläge, um das Personal der Versuchsanordnung zu ergänzen: Puah Ben-Tovim, die sich erst neulich in Tiles Buchhandlung nach Heines Rabbi von Bacherach erkundigt und das Buch „auch gekauft habe“; weiterhin die Schauspielerin Blandine Ebinger, „das wäre doch was, ein bunter Vogel, gewiss, mit Brecht befreundet, das sage ja schon viel, aber gewiss auch eine belesene und weitläufig interessierte Frau“; dann mischt sich nochmal der allwissende Erzähler ein:

Man stimmt sofort zu, überschlägt: Es kommen mit Dora sieben Frauen, drei Männer zusammen, was Kafka rasch und vergnügt als Boccaccio-Ensemble bezeichnet. Und bis auf den Umstand, dass jeder der Anwesenden bis zum nächsten Sonntag Vorschläge machen kann und soll, dass überdies die Prager per Brief informiert werden, ist da nichts mehr, was den Lauf der Dinge noch aufhalten könnte.

Damit ist das Setting des nun Folgenden bezeichnet, was den gesamten dritten und Großteil des Buches ausmacht: ein Quodlibet aus den angeblichen Lieblingslektüren des in Kafkas Berliner Domizil zu versammelnden Personals: In bunter und – es sei jetzt schon verraten – mehr oder weniger unzusammenhängender, zunehmend willkürlich erscheinender Reihenfolge werden Textauszüge einer ganzen Reihe von Autoren in die Handlung verwoben: Brecht, Gotthelf, Rimbaud, Fontane, Büchner, Salten, Franzos, Heine, Schnitzler, Mauthner, zweimal Kafka selbst, dann noch Hauptmann, Grillparzer, Kleist, Andersen und Thomas Mann. Einige davon finden sich auch in den Apparaten gängiger Kafka-Biografien wieder, das meiste aber nicht. Es sei an dieser Stelle nicht verschwiegen, dass Fischer auch da, wo er den Arrangeur Kafka einleitende oder verbindende Worte sprechen lässt, keine Begründungen für diese lange Liste liefern kann oder möchte, denn genauso arbiträr wie jene Aufzählung von Literaten werden bekannte und auch weniger bekannte Textauszüge aus der Schullektüre der gymnasialen Mittel- und Oberstufen aneinandergereiht. Aus Prosawerken und Dramen, auch aus Gedichten wird zitiert; manchmal, wie es scheint, handelt es sich um „Rettungen“, die nur vom „Kenner“, also dem Autor Fischer für Wert befunden werden, beispielsweise Felix Saltens Lebensgeschichte einer Wienerischen Dirne, die Fischer von Tile im Anschluss an Büchners Lenz einfließen lässt! Allenfalls der Vorname von Josefine Mutzenbacher mag Assoziationen an Franz Kafka wecken.

Kafka kommt bei alledem die Rolle eines „Zirkusdirektors“ zu, der auch manchmal selbst zum Gelingen der Veranstaltung beiträgt, indem der Autor ihn eigene Texte (so die Erzählungen Eine kaiserliche Botschaft und Ein altes Blatt) vortragen lässt. Kurz vor dem Ende des – traurigen – Spiels, noch bevor seine Gäste in verteilten Rollen Auszüge aus Gerhart Hauptmanns Michael Kramer vortragen sollen, legt der Autor Kafka eine Zwischenüberlegung in den Mund, welche aber mehr Fischers eigene Poetikauffassung zusammenzufassen scheint:

Sobald Geschichten aufkommen, wir also anfangen, uns gegenseitig Geschichten zu erzählen, und, was wichtig ist, uns anschließend darüber auszutauschen, debattieren, oh, denke dir, Emmy, da schaue ich bisweilen oder sogar oft in mich hinein und was sehe ich? – sie leuchtet ganz hell, bisweilen sogar strahlend weiß. Das ist das Schöne und Nutzbringende an Geschichten, Literatur – Horaz hat es auf die Formal (!) prodesse et delectare gebracht. Dies ist eine wunderbare Formel, da er sich vorstellt, wie beides zusammen geht – der Nutzen und die Freude. Anders gesagt: Es ist ihr verborgenes Kleinod, eines, das bei Beleuchtung, also geistiger Energie, hell funkelt. Und je mehr wir das beherzigen, desto heller wird auch ringsum die Welt.

„Dann“ – so fährt der allwissende Erzähler fort – „unterbricht er, schaut leise lächelnd zur Türe, sieht gespannt zu, wie jemand dort seinen Mantel ablegt, sagt: Jetzt klopft die Welt an unsere Tür, es kommt Besuch, und wir gelangen flugs zum nächsten Thema, dem Künstlerdrama von Gerhart Hauptmann.“ Welchen Leser wundert’s da noch, dass ein Theaterzettel abgedruckt wird, u.a.: Regie, Dramaturgie … Franz Kafka. In den Rollen, geordnet nach Gewicht: Michael Kramer … Max Brod, etc. etc. Ich erspare mir hier den abgedruckten Beleg aus Hauptmanns Drama, der wenig zum Erkenntnisfortschritt beiträgt, wie auch die Textschnipsel aus den Werken der angeführten Autoren. Wer mag, kann das in geeigneterem Kontext in Stachs Kafka-Biografie nachschlagen, sofern es von Fischer nicht konstruiert worden ist, wogegen grundsätzlich nichts einzuwenden wäre, wenn es denn passte!

Wenn man die Lektüreliste durchlaufen hat, man ist auf Seite 270 (von 312) etwas rat- und hilflos angekommen, fragt man sich, wozu dieser Parforceritt durch die Literatur? Soll tatsächlich insinuiert werden, Kafka habe das alles gelesen (der ja jedes Literaturrätsel lösen könnte!), und haben das die herbeizitierten Figuren (die sieben Frauen und die anderen zwei Männer) denn auch gelesen, oder ist das weitgehend verzichtbar und existiert alles nur im Kopf des Autors Hans-Peter Fischer? Diese, vielleicht versteckten Bezüge sind dem Rezensenten nicht ersichtlich geworden, sicherlich, manches Biografische scheint durch, auch der Alltag der Berliner Jahre um 1923, der durchlittene große Krieg, die Spanische Grippe und die damals rasant zunehmende Hyperinflation. Das alles ist aus der Geschichtsschreibung oder aus den bereits vorgelegten Kafka-Biografien (Anz, Stach, Wagenbach) bekannt und belegt.

Zu fragen ist, ob Fischer denn auch einlösen kann, was der Verlagstext auf dem Rückencover dem Leser verspricht: es werde dem ganzen Alltagselend und dem zum Tode führenden Krankheitszustand des Prager Dichters „Substantielles“ entgegengestellt, um

die Seelen zu beleben und neu zu festigen. Wie das alles ineinandergreift, wie sich Interaktionen unter Spielleitung eines alle Themen und Personen einbeziehenden Franz Kafka in einen Prozess stetiger Vergegenwärtigung überführen lassen, davon handelt dieses neuartige Projekt.

Hier schweigt der Rezensent betroffen. „Neuartig“, das heißt in Form und Anlage, ist das Buch allemal, ein „Projekt“ indes – wie beispielsweise jenes sehr erfolgreiche „Rilke-Projekt“ der Jahre 2001 bis 2010, das diese Gattungsbezeichnung völlig zu Recht trägt, vermag er in dem vorgelegten Buch nicht zu erkennen. Der Versuch, eine subjektive, durch Person und Werk Kafkas letztlich nur rahmenartig zusammengehaltene Auswahl an Literatur zu präsentieren, wirkt am Ende doch allzu bemüht. Man kann sich auch grundsätzlich fragen, ob ein solcher Versuch überhaupt glücken kann, so etwas wie das berühmte Decamerone, also Boccaccios Novellensammlung, in das Krisenjahr 1923 zu versetzen, noch dazu gruppiert um einen Autor wie Franz Kafka, von dem derartige Gedankenspiele nicht überliefert und eigentlich auch schwer vorstellbar sind. An dem hier insgesamt negativ ausfallenden Leseeindruck vermögen auch die im abschließenden Teil unter dem Titel „Kleine lyrische Blütenlese“ abgedruckten, aus mittlerweile vergriffenen Veröffentlichungen des Autors stammenden Gedichte über Kafka und andere im neuen Buch zitierte Autoren nichts zu ändern.

Als Fazit bleibt also: Fischer liefert einen sehr eigenständigen und eigenwilligen Blick auf Kafka, wenn auch nicht auf dessen Autorpersönlichkeit. Die Passagen, in denen er ihm eine Stimme verleiht und die dazu dienen sollen, die eingeschobenen Texte zu verklammern und ihnen Relevanz im Sinne eines neuartigen „Kafka-Projekts“ zu geben, lassen die literarischen Stileigentümlichkeiten, die man aus dem Werk Kafkas kennt, manchmal schmerzlich vermissen; dem Handgemachten merkt man das allzu Improvisierte an, dem Rezensenten ist es jedenfalls nicht gelungen, so etwas wie den „Ton“ Kafkas wiederzuerkennen.

Hinzu kommt noch etwas anderes: Die vielen Textauszüge entwickeln ein merkwürdiges Eigenleben, das ist so gewollt und von der Versuchsanordnung her zumindest auch gerechtfertigt. Es drängt sich aber der Verdacht auf, dass sie so etwas wie das Literaturprogramm des Autors Fischer darstellen, ein eigenes Lesepensum, das jedoch nicht der Welt Kafkas entstammt.

Hans-Peter Fischer hat im gleichen Verlag zuvor durchaus beachtenswerte Sachtexte vorgelegt – einen über Thomas Mann, einen über Theodor Fontane –, die auch in dieser Zeitschrift recht positiv besprochen worden sind. Eine „Literaturgeschichte anderer Art“, die auch Kafka-Begeisterte in ihren Bann ziehen könnte, hat er nicht geliefert; dagegen fällt dem Rezensenten noch ein Buch aus dem Jahr 1997 ein, geschrieben von Ralf Vollmann, mit dem sprechenden Titel: Die wunderbaren Falschmünzer. Ein Roman-Verführer …

Titelbild

Hans-Peter Fischer: »Franz heißt die Kanaille« oder: Schwarzer Prinz in Steglitz. Kafka in Berlin, 1923/24. Ein Großstadtmärchen ((episch / lyrisch / dramatisch)).
Königshausen & Neumann, Würzburg 2020.
314 Seiten , 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783826071508

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