Ein Riese auf den Schultern von Riesen
Annales trifft auf Foucault: Der „Grundriss der Geschichte der Philosophie“ zum 12. Jahrhundert
Von Martin Klein
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer Rezensent muss gestehen, dass er Mühe hatte, beim Wälzen vom Grundriss der Geschichte der Philosophie, Die Philosophie des Mittelalters, Bd. 3: 12. Jahrhundert (= GGP-M3) nicht die Fassung zu verlieren, da es sich bei dem ursprünglich von Friedrich Ueberweg verfassten Grundriss spätestens seit der Neubearbeitung[1], die der Schwabe Verlag in Basel seit den 1950ern vornimmt, eindeutig um Etikettenschwindel handelt. Jedenfalls hat der Duden ein derartig monumentales Projekt offenkundig nicht im Blick, wenn er zum Lemma „Grundriss“ unter „3.“ ein „a) vereinfachtes, nur die Grundzüge von etwas darstellende[s] Schema“ oder eben schlicht ein/en „b) kurz gefasstes Lehrbuch; Leitfaden“ zu verstehen gibt.
GGP-M3 ist ein Großkaliber der eigenen Art, und um Ihnen den Vergleich mit anderen Großkalibern der Handbuchproduktion nur im Segment ‚Mittelalter‘ vor Augen zu führen, ziehen Sie bitte erstens die von Norman Kretzmann et al. herausgegebene Cambridge History of Later Medieval Philosophy (CHLMP) von 1982 in Betracht, die sich auf xiv + 1035 Seiten allein auf die lateinischsprachige Tradition von 1100–1600 konzentriert. Nehmen Sie zweitens den Zwerg auf dessen Schultern[2], als der sich die von Robert Pasnau besorgte Cambridge History of Medieval Philosophy (CHMP) versteht, die 2010 auf xiv + 1193 Seiten kommt. Dabei muss sie sich zugleich aber extrem konzise fassen, da sie nicht nur von Paris und Oxford, sondern auch von Bagdad, Byzanz und Cordoba Kenntnis geben will und Ihnen zum Schluss Appendizes unter anderem zu den verschiedenen Übersetzungslinien der Quellen, etwa aus dem Griechischen oder Arabischen ins Lateinische, auftischt. Demgegenüber ist drittens das von John Marenbon 2012 verantwortete Oxford Handbook of Medieval Philosophy (OHMP) mit xii + 729 Seiten geradezu ostentativ schmal geraten. Sie alle aber können gegenüber GGP nur den Kürzeren ziehen.
GGP weist in der Abteilung ‚Mittelalter‘ ganze vier Bände auf[3]:
- Bd. 1: Byzanz. Judentum (2019, xxvii + 362 Seiten);
- Bd. 2: 7.–11. Jahrhundert (geplant für 2023);
- Bd. 3: 12. Jahrhundert (2021, xxxii + 1318 Seiten [die verständlicherweise nur in zwei Teilbänden handhabbar sind]);
- Bd. 4: 13. Jahrhundert (2017, xxvi + 1713 Seiten [dito]).
Dazu kommen noch die für das Mittelalter relevanten Bände aus der Abteilung Philosophie in der islamischen Welt[4] und der neu geplanten Abteilung Philosophie vom 14. bis 16. Jahrhundert.[5]
Um hierzu eine Sportmetapher zu bemühen, wovor man sich sonst eigentlich extrem hüten sollte: Die drei genannten CHLMP, CHMP und OHMP spielen in der gleichen Liga – einer hohen, keine Frage. GGP-M aber ist eine eigene Liga, läuft außer Konkurrenz, ist kategorisch etwas ganz anderes, gegen das die anderen nur verlieren können. Wie machen die das in Basel?[6]
Für uns stellt sich hier aber in erster Linie die Frage: Wie lässt sich eine Geschichte der Philosophie des 12. Jahrhunderts schreiben – und zu welchem Zweck? Mit Furor beklagte Alain de Libera[7] Anfang der 1990er Jahre, dass der mediävistische Philosophiehistoriker doppelt im Stich gelassen werde: von seinen Kollegen der Philosophie, die sich für Geschichte nicht die Bohne interessierten, und von den Historikern, die sich für Philosophie nicht kompetent erklärten. Kollektive Verachtung sperre ihn – Achtung: Polemik mit Mittelalterbezug – „in ein Ghetto“[8], in dem er bestenfalls philosophiehistorische Nachschlagewerke produziere, die aber kein Mensch lese. De Libera ist nun zufällig Mitherausgeber von GGP-M3, und das merkt man auch, wie Sie gleich sehen werden.
Hingegen sprach Ueberweg ein großes Wort gelassen aus, als er zur schon seinerzeit „vielverhandelte[n] Frage“, ob der Gegenstand vergangenen Philosophierens unter der je aktuellen philosophischen Wetterlage etabliert werden müsse oder vielmehr durch das Studium der Geschichte unser (bzw. deren in den 1860ern[9]) Verständnis von Philosophie zu erhellen wäre, schlicht meinte: beides, aber „jedes zu seiner Zeit“[10]. Wer einen GGP liest, ist Ueberweg zufolge erstens schon philosophisch vorgebildet,[11] erweitert zweitens diesen Wissensbestand durch die Kenntnisnahme fremder, weil vergangener Philosophie, und erlangt drittens, entsprechend geläutert, ein besseres Verständnis von Geschichte und letztlich nicht Philosophie.
Philosophie. Geschichte. Was Ueberweg noch schärfer trennen wollte, will von GGP-M3 in eins gesetzt werden. Im Unterschied zu anderen Handbüchern[12] redet man hier nicht um den heißen Brei des Philosophiehistoriographierens herum beim Darlegen einer Geschichte der Philosophie (des 12. Jahrhunderts), „in der […] die historische Forschung im Dienste der Philosophie steht und in der das philosophische Nachdenken die historische Forschung anregt“. Das klingt zunächst nach einem rhetorischen Kniff. Gemeint ist aber mehr als der lahme Kompromiss, dass man eben als heutiger Philosoph von gegenwärtigen Fragen aus an vergangene Texte herangehen kann (klar, kann man), dass man dabei aber auch den historischen Kontext des vergangenen Philosophierens berücksichtigen müsse (klar, sollte man). Das Credo des abgelösten Gesamtherausgebers von GGP, dem zufolge „die Darstellung der Philosophie einer Epoche generell nach Maßgabe dessen, was in der Epoche für Philosophie […] gehalten wurde“[13], in einem GGP-Band vorzunehmen sei, wird von GGP-M3 nur für die eine Seite ein und derselben Medaille gehalten:[14] Eine Untersuchung des mittelalterlichen Denkens muss (in de Liberas Worten von 1991) zugleich „reflektierende Geschichte und Reflexion über die Geschichte“ sein.
Wo de Libera einst beklagte, dass das mittelalterliche Denken noch immer auf seinen Foucault warte,[15] um das von Jacques Le Goff[16] verdienstvoll im Geist der Annales-Schule gezeichnete Bild zu korrigieren, präsentiert GGP-M3 eine Symbiose aus beiden, wenn es im ersten Teil – traditionellerweise beim GGP nur als „Voraussetzungen“ überschrieben – ein großes Kapitel präsentiert: „Historische und intellektuelle Voraussetzungen“, in denen die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen des Denkens im 12. Jahrhunderts verschränkt mit dem unter diesen Bedingungen aufkommenden Ideal des Intellektuellen verhandelt werden.[17] GGP-M3 lässt sich überhaupt nicht davon verunsichern, dass der Begriff „Intellektueller“ ein Anachronismus für das 12. Jahrhundert ist.[18] Unter einem Intellektuellen können wir uns aber etwas vorstellen. GGP-M3 weiß Einzelgeschichten so zu erzählen,[19] dass dem 12. Jahrhundert so etwas wie ein Profil gegeben wird (was, nebenbei erwähnt, einer der wesentlichen Gründe ist, warum GGP-M3 neben aller nachgerade irrwitzigen Detailverliebtheit überhaupt kein dröger Kuchen ist), ohne es damit in ein quadratisch-praktisches Raster von so etwas wie einer Epoche zu pressen.
Beim Nachdenken über den als Intellektuellen verstandenen Autor im 12. Jahrhundert kommen wir natürlich unweigerlich mit ins Spiel. Wie artikulierte sich dieses Ideal und was hätte das mit dem intellektuellen Zustand heute zu tun? Jedenfalls spürte der Rezensent subjektiv beim GGP-M3 immer wieder die Aufforderung durchschimmern, er möge beim Beschauen der intellektuellen Situation im 12. Jahrhunderts auch gleichzeitig seine eigene reflektieren. Dazu regen besonders die jeweiligen Abschnitte zur Wirkung (und zuweilen auch „Metawirkung“) eines Autors an, die manchmal bis in die jüngste Vergangenheit nachgezeichnet wird: etwa diejenige, die ein Joachim von Fiore (oder was man von ihm hielt) nachweislich auf deutsche Denker des 19. Jahrhunderts hatte, oder auch nur jene, die man ihm in Bezug auf Marx und sogar Hitler zuschreiben wollte (cf. § 8). Zugleich verdeutlicht GGP-M3 dabei immer wieder, dass nicht zuletzt ohne die arabische Hofkultur auf der Iberischen Halbinsel dieser monumentale Band zur Philosophie des 12. Jahrhunderts in Europa wohl deutlich schmaler ausgefallen wäre.
Anmerkungen:
[1] Schon als One-Man-Show war der Grundriss ein Kassenschlager: Nur kurz nach Veröffentlichung eines Bandes schob Ueberweg eine erweiterte Auflage hinterher, was wiederum zum Publikationsverzug der noch zu erscheinenden Bände führte. Diese sogenannte Urbearbeitung (1863–1871), bei Fertigstellung aller Bände schon in der vierten Auflage, kommt nur ein Jahr später als A History of Philosophy from Thales to the Present Time in London auf den Markt, ohne dass Ueberweg, bis zu seinem letzten Tag (so das salbungsvolle Vorwort) über die Fahnen gebeugt, das dann noch erleben durfte. GGP-M3 teilt ein ähnliches Schicksal: Besonders schmerzlich ist der Verlust von Thomas Ricklin († 2016), der zusammen mit Ruedi Imbach (Paris) dieses Unternehmen überhaupt erst in Angriff genommen und dann bis zu seinem Tod geführt hat. Ihm ist GGP-M3 gewidmet.
[2] Der Zwerg ist zwar bedeutend kleiner als der Riese, auf dessen Schulter er sitzt, hat aber einen besseren Ausblick: Dies ist natürlich eine Metapher aus dem Jahrhundert, das GGP-M3 sich vorknöpft. Sie ist im Dunstkreis der Kathedralschule von Chartre aufgekommen und findet sich bei Wilhelm von Conches (cf. § 14.5) und Johannes von Salisbury (cf. § 15), stammt „wahrscheinlich aber von Bernhard von Chartres [cf. § 14.2]“, deren Lehrer er war und dem Johannes sie auch zuschreibt. Zwei Deutungen machen die Mitherausgeber Laurent Cesalli (Genf) – der zusammen mit Gerald Hartung (Wuppertal) 2018 Helmut Holzhey (Zürich) als GGP-Gesamtherausgeber abgelöst hat – und Ruedi Imbach aus: Artikulierung von Fortschritt und Demutsäußerung. Beides scheint auch Robert Pasnau zu meinen, wenn er von CHMP meint, dass es CHLMP „succeeds, without superseeding“ (S. ix). Beide Aspekte der Metapher kombinieren auch Cesalli und Imbach für ihre Darstellung des philosophischen Selbstverständnisses im 12. Jahrhundert (cf. § 29): Der Rückgriff auf die philosophische Tradition bewirkt „Fortschritt in der philosophischen Praxis“, ein Verständnis, das erstaunlich nahe an Ueberwegs eigenen Gedanken zum Verhältnis von Philosophie und Geschichte ist (siehe unten).
[3] Um nur einen weiteren Eindruck zu bekommen, welche Langzeitprojekte sich dahinter verbergen: GGP-M3 dankt dem Schweizerischen Nationalfond für die finanzielle Unterstützung von 1997 (!) an bis immerhin 2009 und nimmt einer etwas wohlfeilen Kritik, wie ich sie mir in einer Besprechung des Grundrisses zum 13. Jahrhundert andernorts zu Schulden kommen lassen habe, dass nämlich die Sekundärliteratur nicht auf dem allerletzten Stand wäre, sofort den Wind aus den Segeln. So konzediert es wie selbstverständlich, bis 2016 – also fünf Jahre vor Erscheinen – die Sekundärliteratur berücksichtigt zu haben, während GGP-M4 noch die fast unmögliche Aufgabe wahrzunehmen versuchte, auch nach Redaktionsschluss noch relevante Sekundärliteratur nachzuliefern. Sicher, eine auf Dauer zu aktualisierende Datenbank könnte hier Abhilfe schaffen, was allerdings ein eigenes Projekt wäre, das Schwabe aber wiederum zuzutrauen wäre in Anbetracht der Tatsache, dass sie inzwischen auch papierlos auf den Markt gehen – Stichwort Grundriss online. Und trotzdem: Wie lange dauert heute die Fertigstellung eines mittelmäßigen special issue vom ersten Workshop bis zur Publikation? Wälzen Sie GGP-M3 und Sie werden mir zustimmen, dass Cesalli und Kollegen eigentlich extrem fix gewesen sind.
[4] Bd. 1: 8.–10. Jahrhundert (2012, xxxvi + 612 Seiten); Bd. 2: 11.–12. Jahrhundert (Teilband Osten angekündigt für Sommer 2021, 600 Seiten; Teilband Westen: in Bearbeitung); Bd. 3: 13.–18. Jahrhundert (in Bearbeitung).
[5] Sachdienlicher Hinweis zur Einordnung von GGP-M3 in die Grundriss-Familie: Der Band stellt vorrangig lateinischsprachige Autoren des 12. Jahrhunderts nach religiösen Orden gegliedert und ordensunabhängige Autoren in Frankreich, Imperium, Kirchenstaat, England, Königreich Sizilien und der Iberischen Halbinsel dar. Jemanden wie Eustratio von Nikaia finden Sie hier also nur kurz erwähnt und sollten GGP-M1 konsultieren, das Byzanz vom 4.–15. Jahrhundert behandelt. Aber auch ein Kapitel zu Ibn Rušd (Averroes) suchen Sie im Grundriss-typischen dicken Mittelstück der historisch-topographisch geordneten Darstellung zu Leben und Werk einzelner Denker in GGP-M3 vergeblich. Hier müssen Sie auf den entsprechenden Band der Abteilung Philosophie in der islamischen Welt warten, der dann wohl auch Mosche ben Maimon (Moses Maimonides) ein Kapitel widmen wird. Diesen finden Sie gesondert nämlich weder in GGP-M3 noch in GGP-M1 (dessen Titel zwar Byzanz. Judentum lautet, der jedoch die Philosophie im mittelalterlichen Judentum ‚nur‘ in Form eines methodengeschichtlichen Aufrisses zu diesem Kapitel der Historiographie verhandelt), dafür aber kurz abgehandelt im Kapitel „Rezeption philosophischer Schriften aus dem Judentum“ in GGP-M4. Dass Mosche ben Maimon allerdings in GGP-M3 nicht ein einziges Mal auch nur erwähnt wird – nun, man findet immer ein Härchen in der Suppe. Sehen Sie dafür weiter unten, was GGP-M3 zu den auctores minores so alles leistet.
[6] GGP-M4 zum 13. Jahrhundert ist sogar nur zwei Jahre nach seiner Drucklegung als Open Source online gegangen.
[7] De Libera 1991.
[8] Was vielleicht auch als kleiner Seitenhieb auf Kretzmann und Kollgen gemeint war, die Anfang der 80er mit CHLMP die mittelalterliche Philosophie aus einem „philosophischen Ghetto“ befreien wollten, dabei aber vorwiegend auf die Zunft der „analytischen Philosophie“ schielten, die wiederum für das Mittelalter anscheinend nur auf Kosten von dessen Geschichte zu begeistern war. Dahinter standen damals auch institutionelle Verteilungskämpfe an amerikanischen Philosophiedepartments, wie Kretzmann indirekt zu erkennen gibt. De Liberas Situation in Paris Anfang der 90er war eine andere: Er beklagte, nur durch staatliche Alimentierung seinem Broterwerb nachgehen zu können, während der französischen Gesellschaft die philosophiehistorische Erforschung des Mittelalters schnurzpiepegal sei.
[9] Analog hierzu böte sich ein Kapitel zu Ueberweg in der Abteilung Philosophie des 19. Jahrhunderts, Deutschsprachiger Raum, Teilband 2 (1830–1871, was nota bene zufällig auch sein Sterbejahr ist) an.
[10] Ueberweg 1863, S. 5.
[11] Was nicht heißen soll, dass ein GGP nur für diejenigen geschrieben ist, die die Materie schon ausreichend gut kennen – so nimmt der Rezensent jedenfalls an (über das Zielpublikum schweigen sich Herausgeber von GGP-M3 und Verlag jedenfalls wohltuend aus). Wobei „ausreichend gut kennen“ extrem schwammig formuliert ist, was auch schon Ueberweg sah, der beim Leser nicht so genau zwischen bloßer „Bekanntschaft“ und „genauere[r] Vertrautheit mit der Geschichte der Philosophie“ unterscheiden wollte. GGP-M3 zeichnet es erklärtermaßen vor allem aus, besondere Aufmerksamkeit den auctores minores* zu schenken. Die „Kleinen“ sind hier nicht selten die Unbekannten. Der Clou ist, dass Sie (vermutlich) keinen der Autoren (nicht einmal Abaelard [cf. § 17.1]) kennen müssen, um mit GGP-M3 in das 12. Jahrhundert einzutauchen. Das liegt auch daran, dass viele der Beiträge wirklich glänzend und verständlich geschrieben sind.
* Klitzekleiner Einblick in das Ausmaß der Tiefenbohrung von GGP-M3: Zur einzigen Schrift des Engländers Robert von Flamborough, der 1205 in das Kloster von St. Viktor eintrat, dem Liber poenitentialis, werden neben einer kritischen Edition von Francis Firth (Toronto 1971) auch zwei Handschriften aus der Bibliothèque de la Sorbonne vermerkt, von denen eine nur ein Fragment ist (Nr. 2036), das aber, wie GGP-M3 akribisch vermerkt, „Firth nicht kennt“. Die Anzahl der Einträge zu diesem Viktoriner im Literaturverzeichnis, das laut Paul Wilperts „Editionsbericht zur Neubearbeitung des Grundriss“ (1961) den Anspruch hat, „umfassend“ zu sein: Vier! Wenn sie sich fragen, warum ein Garnerius von Sankt-Viktor, von dem wir exakt so viel wissen, dass er mit einem Subprior identisch ist, „der 1140 eine Urkunde unterschrieb und 1170 starb“, einen eigenen Beitrag erhält (§ 12.5), dann blättern Sie bitte zu Absalon von Sankt-Viktor (§ 12.11), um zu erfahren, dass dieser von Garnerius’ Gregorianum (einer Sammlung allegorischer Interpretationen von Gregor dem Großen) eine „[u]nveröffentlichte Zusammenfassung“ angefertigt hat, von der wir eine Kölner (1534) und Mailänder (1605) Edition besitzen. „Die mittelalterliche Geschichte […] ist ein Schlaraffenland, in dem es noch viel zu entdecken gibt“, so Kurt Flasch.
[12] Nehmen Sie zum Beispiel Marenbons OHMP, das sich einerseits von GPP-M4 den Vorwurf einhandelte, den gegenwärtigen Philosophiebegriff zum Maßstab zu nehmen und so zu tun, als ob der analytische Philosoph von heute direkt mit mittelalterlichen Autoren diskutieren könnte. Das aber andererseits von GGP-M3 in Schutz genommen wird, doch auch den historischen Kontext berücksichtigen zu wollen, was allerdings die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Geschichte zuerst aufwirft – eine Frage, die zwar das Vorwort von OHMP aufgreift, ihr aber auf faszinierende Weise so-/zugleich aus dem Weg geht.
[13] So Helmut Holzhey 2012 im „Vorwort zum Gesamtwerk“ des GGP auf S. xiisq.
[14] Die Darstellung jedenfalls eines wie auch immer breiten oder engen zeitgenössischen (meint: damaligen) Begriffs von Philosophie (Daumenregel für GGP: tendenziell breiter als nach heutigen Maßstäben) verlangt klarerweise philosophiehistoriographische Entscheidungen, die sich nicht auch noch vom zeitgenössischen philosophiehistoriographischen Verständnis her abpausen lassen, denn das liefe auf eine besondere Form intellektueller Selbstbezogenheit hinaus. Was natürlich nicht heißen soll, dass die Darstellung des zeitgenössischen Bewusstseins von Philosophiegeschichte in derartigen Handbüchern nichts zu suchen hätte. Im Gegenteil: GGP-M4 (13. Jahrhundert) widmet ihr zum Beispiel sogar ein eigenes Kapitel (§ 1.5).
[15] Was dann de Libera mit seinem mehrbändigen Projekt einer Archéologie de Sujet nachgeholt haben mag.
[16] Le Goff 1957.
[17] Die dann zum Beispiel die Entstehung der Universität im 13. Jahrhundert und die philosophische „Entprofessionalisierung“ (de Libera 1991) im 14. Jahrhundert erst wirklich verständlich werden lässt. „Intellektuelle Orte“ (§ 3) sind hier nicht unbedingt auf der Karte lokalisierbar, sondern manifestieren sich als Schulen ohne Gebäude, die „ideale Bibliothek“ (§ 2) kennt keinen Ausleihtresen, sondern meint den allgemein geteilten Textbestand, auf den der Intellektuelle zu(rück)greift, kurz: Diskursmaterial.
[18] Kurze Charakterisierung des Intellektuellen im 12. Jahrhundert nach GGP-M3 (mit ultrakurzer Evaluation): Einer, der vom Denken leben kann und will, eine Schülerschaft um sich schart, typischerweise in der Stadt, wenn er auch die Zurückgezogenheit im Ländlichen schätzt, um sich in Ruhe seine Gedanken zu machen. Jemand, der als Experte herangezogen wird, sich öffentlich positioniert, die normativen Standards selbst zu bestimmen versucht, mit den Behörden aneckt, denunziert wird, im permanenten Streit mit Kollegen steht, seinen Lehrern den Rücken zukehrt et cetera. Wenn Sie hier an Abaelard denken, bei dem sich noch eine sexuelle Affäre mit heiklem Ausgang dazugesellt, liegen Sie richtig. Aber Abaelard war eben eine besonders herausragende Gestalt, in dessen Schatten sich zahlreiche andere Autoren tummelten, unter denen einige waren, die jemanden wie ihn aufgrund seines Gebarens verachteten und vielleicht nur beflissener Beamter oder demütiger Geistlicher werden wollten. Kurz: Nicht nur von Denkern im zeitgenössischen Jargon (der dann wieder nur den Mediävisten zugänglich wäre) als solchen, die ihren intellectus bemühen, zu reden, sondern gleichzeitig von so etwas wie einem intellektuellen Selbstbewusstsein, das man bei Autoren des 12. Jahrhunderts ausfindig machen könne, hat seine Tücken. Zugleich wird jedoch erst verständlich, was es denn heißen soll, dass einer seinen intellectus im 12. Jahrhundert bemüht und damit seine wie auch immer bescheidene Karriere machen kann, wenn er als Teil einer Intelligenzija beschrieben wird, die so jemanden wie Abaelard hervorbringen konnte.
[19] Nehmen Sie als Kostprobe nur das Religionsgespräch zwischen dem deutschen Bischof Anselm von Havelbeck (cf. § 11.2) und dem Metropoliten Niketas von Nikomedien in der Hagia Sophia 1136, mit dem geschickt die Anwesenden Jakob von Venedig und Burgundio von Pisa eingeführt werden, denen wir die Übersetzung zentraler Texte ins Lateinische verdanken (§ 21.3).
Literaturverzeichnis
De Libera, Alain: Penser aux Moyen Âge. Paris 1991.
Le Goff, Jacques: Les intellectuels au Moyen Âge. Paris 1957.
Ueberweg, Friedrich: Grundriss der Geschichte der Philosophie von Thales bis auf die Gegenwart. Erster Theil: Die vorchristliche Zeit. Berlin 1863.
Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg
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