Großräumige Bewegungen

Márta Fata füllt mit „Mobilität und Migration in der Frühen Neuzeit“ eine Lücke unter den Lehrwerken

Von Hartmut HombrecherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hartmut Hombrecher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die historische Migrationsforschung fristete in ihren neueren Ausprägungen lange Zeit sowohl in der akademischen Lehre als auch in der Wissenschaft eher ein Nischendasein. Gerade in der letzten Dekade ist sie aber zunehmend in beiden Bereichen angekommen – zum Teil beflügelt durch Beiträge aus Nachbardisziplinen wie der Kulturanthropologie, aber auch durch gesellschaftliche Ereignisse, die sich in wissenschaftspolitischen Entscheidungen niedergeschlagen haben. Einflussreich war sicher auch der „lange Sommer der Migration", dessen Bezeichnung Kasparek und Speer 2015 in ihrem Artikel Of Hope. Ungarn und der lange Sommer der Migration geprägt haben. Theorien und Terminologien, die bereits in den 1990er Jahren entwickelt wurden, konnten in den letzten Jahren in einer zunehmend größeren Community diskutiert und überarbeitet werden. Zumindest zum Teil von diesen Entwicklungen profitieren konnte auch die Migrationsforschung zur Frühen Neuzeit, einer Makroepoche, die von beachtlichen und überaus diversen Formen von Migration und Mobilität geprägt war, die bis heute international kulturelle und mitunter politische Wirkung zeitigen. Zu den wohl bekanntesten Beispielen aus dem deutschsprachigen Gebiet gehören die zahlreichen religiös motivierten Migrationsbewegungen in unterschiedliche Richtungen, die sich insbesondere in den beiden Jahrhunderten nach dem Augsburger Religionsfrieden 1555 abzeichneten. Prägend waren aber auch andere gruppenspezifische Formen von Mobilität, etwa die Arbeitsmigration von Handwerkern oder die Kavalierstour junger Adeliger. Insgesamt zeigt sich in der Frühen Neuzeit eine in allen Bevölkerungsschichten ausgeprägte und gesellschaftlich wirkmächtige Mobilität, die angesichts der damaligen organisatorischen Schwierigkeiten und oft beschwerlichen Transportwege wie -möglichkeiten viele Studierende heute in Staunen versetzt.

Es ist darum besonders erfreulich, dass nun mit Márta Fatas Mobilität und Migration in der Frühen Neuzeit ein Lehrbuch erschienen ist, das sich der nicht trivialen Aufgabe stellt, wichtige Aspekte dieses über mehrere Jahrhunderte und weite Gebiete ausgreifenden Migrations- und Mobilitätskomplexes aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive verständlich aufzubereiten. Der Band eröffnet eine neue UTB-Reihe zur Einführung in die geschichtswissenschaftliche Erforschung der Frühen Neuzeit, die grundsätzlich den Anspruch verfolgt, über die Vermittlung von „Fakten, Fakten, Fakten“ hinaus auch in fachspezifische „Arbeitsweisen, […] Methodik und […] Denkweisen“ einzuführen.  Das Lehrbuch beginnt darum nach einer verhältnismäßig umfangreichen Einleitung, die Parallelen zwischen der Frühen Neuzeit und der Gegenwart aufruft, mit einem Kapitel zu begrifflichen Fragen und einer knappen Skizze zur Entwicklung der modernen historischen Migrationsforschung in Deutschland. Die Ausführungen geben zumindest über die Denkweisen einen ersten Überblick, doch der Fokus liegt dann sinnvollerweise weniger auf dem Wissenschaftsdiskurs und der Wissenschaftsgeschichte als auf der durchaus ‚faktengesättigten‘ Darstellung von Mobilität in der Frühen Neuzeit. Das nach Kapiteln gegliederte und annotierte Literaturverzeichnis ermöglicht es auch Neueinsteigern, sich im Feld durch vertiefende Lektüre weiter zu orientieren.

Den Schwerpunkt des Bandes bilden diverse Bereiche, die Fata unter dem Begriff der „Themenfelder“ subsumiert. Dazu gehören insbesondere verschiedene Formen der Migration und Mobilität, die in einzelnen Kapiteln vorgestellt werden: Migration aus religiösen Gründen, militärische Migration und Kriegsflucht, Siedlungsmigration, Erwerbsmigration, Subsistenzmigration sowie Peregrination. Geographisch setzt sich der Band dabei insbesondere mit Migration im Alten Reich auseinander, wobei in den zahlreichen und stimmig eingebauten Beispielen ein leichter Schwerpunkt auf den Donauraum ausgemacht werden kann. Eine solche Schwerpunktsetzung erscheint zielführend, um den Band zugänglich zu halten und nicht mit ausufernden Kontextinformationen zu überfrachten. Gleiches gilt für die besondere Berücksichtigung europäischer Binnenmigration und der Migration innerhalb der Reichsgrenzen. Überaus relevante Bewegungen zu Orten außerhalb dieser Gebiete finden dennoch zumindest gelegentlich Erwähnung, etwa die spanische und britische Kolonialisierung Süd- und Nordamerikas. 

Mit der Strukturierung nach Migrationsformen wird das migrierende Subjekt ins Zentrum der Betrachtungen gesetzt und vor allem nach Ursachen und Motiven für Migrationsbewegungen gefragt. Es liegt in den Phänomenen begründet, dass Gründe für Migration nicht immer trennscharf voneinander abgegrenzt werden können. Zum Beispiel sind bei der 1683 unter der Ägide von Franz Daniel Pastorius begonnenen deutschen Amerikaauswanderung sowohl religiöse als auch wirtschaftliche Gründe bedeutsam gewesen, die dann jedoch zu einer spezifischen Siedlungsmigration geführt haben. Fata betont zwar mehrfach, dass die Gründe und Motive häufig miteinander verbunden sind, die didaktische Trennung der Bereiche verdeckt solche Zusammenspiele allerdings gelegentlich trotz aller Bemühungen.

Kontextualisiert werden die einzelnen Migrationsformen vor allem, indem bevölkerungspolitische Fragen in frühneuzeitlichen Staaten und Versuche von obrigkeitlicher Migrationssteuerung dargestellt werden. Damit sind zentrale Kategorien von Staatsauffassung und Staatspolitik des 16. bis 18. Jahrhunderts aufgerufen, die Fata zudem in ihrer grundsätzlichen Entwicklung skizziert. Die Wirkung von Mobilität und Migration in der Frühen Neuzeit wird dagegen nur verhältnismäßig knapp beleuchtet. Zwar finden Aspekte der Bevölkerungspolitik auch hier immer wieder Erwähnung, kulturhistorische Fragen werden jedoch allenfalls am Rande behandelt – insbesondere mit Hinblick auf „Dimensionen der Integration“. Auswirkungen auf Technologie, Sprache, Literatur, materielle und Wissenskultur werden ebenfalls punktuell benannt, doch hätte hier ein exemplarisch gearbeiteter Abschnitt zu größeren Tendenzen die Darstellung sicher abrunden können. 

Mit Fatas Darstellung liegt dennoch eine hilfreiche Einführung vor, die eine schon länger bestehende Lücke unter den Lehrwerken füllt. Ihre angenehm verständliche und inhaltlich angemessen strukturierende Überblicksdarstellung wird gerade Studierenden eine erste Orientierung in dem umfangreichen Forschungsfeld der frühneuzeitlichen Migration und Mobilität ermöglichen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Márta Fata: Mobilität und Migration in der Frühen Neuzeit.
UTB für Wissenschaft, Stuttgart 2020.
245 Seiten, 20 EUR.
ISBN-13: 9783825254148

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