Vier Säulen, eine Stele

Der Suhrkamp Verlag sammelt Thomas Klings „Werke“: einen Höhepunkt der deutschsprachigen Lyrik unserer Zeit

Von Maximilian MengeringhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maximilian Mengeringhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ich nehm natürlich einen irritierenden Stefan George“, erläuterte Thomas Kling seine Auswahl für eine Anthologie des 20. Jahrhunderts, die zusammenzustellen die Zeitschrift text + kritik ihn und einige andere Dichter zum Ende des alten Jahrtausends hin gebeten hatte. Dabei wusste er in distinguierter Pose zugleich über den „Bestenlisten-Fetischismus“ des Unterfangens zu spötteln und ihn dennoch in abgeklärtester Manier zu bedienen. Wie sehr Kling die Irritation liebte und seinen Überzeugungen gemäß auch einzusetzen wusste, macht bereits der Umstand deutlich, dass er den Anthologie-Entschluss pro George ganz nonchalant an anderer Stelle kommentierte – nämlich im Intro seines Berliner Vortrags über das 17. Jahrhundert – während die Reihe, in der er zu diesem Anlass im Literaturhaus der Hauptstadt sprechen durfte, eigentlich unter der Überschrift Merkmalgedichte des 20. Jahrhunderts stand.

Klings Dichterkarriere war gekennzeichnet vom lustvollen Bruch mit festgefahrenen Konventionen. Er rabulierte gegen ein weit verbreitetes Dichtungsverständnis, das sich vielerorts und heute noch nach Idylle und vormoderner Einfachheit sehnt. Für Kling hingegen gab es kein Zurück hinter die Errungenschaft beispielsweise eines Hugo Ball, wie gleichermaßen nichts ohne Kenntnis des sogenannten Barock oder eines römischen Großstadtlyrikers wie Catull ging. Schreibend war Kling ein Zeitreisender, in vergangenen Tagen ebenso zuhause wie in der Gegenwart. Bei allem Subversionsstreben verfolgte er dabei stets das Ziel, den Standard zu heben. Die Erwartungshaltung an sich und andere war enorm und Kling sich seines Berufs mit – unter Generationskollegen – nahezu beispielloser Emphase bis hin zur unverhohlenen Arroganz gewiss. Auch das transportiert die Bezugnahme auf George, mit dem Thomas Kling rein zufällig den Geburtsort Bingen teilte – eine biographische Koinzidenz, der Kling, ohne dabei esoterisch das Schicksal zu bemühen, Bedeutung zu verleihen wusste. Bingen steht demnach für die direkte Verbindung, will meinen: Kling sah sich durchaus in einer Reihe mit den dichterischen Größen des 20. Jahrhunderts. Und tatsächlich hat Kling Gedichte geschrieben, die solcherart Anmaßung rechtfertigen. Die Werkausgabe, mit welcher der Suhrkamp Verlag dem 1957 geborenen und 2005 an Lungenkrebs verstorbenen Dichter nun ein Denkmal setzt, zeigt in einer Retrospektive all seiner publizierten Lyrik und Essays, ergänzt um Texte aus dem Nachlass, wie Kling sich seinen Status als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Lyriker um die Jahrtausendwende erarbeitete.

Herausgegeben wird die vierbändige Sammlung von Klings geschätztem Vertrauten, dem Schriftsteller Marcel Beyer, der bereits im Rahmen der Werkausgabe Friederike Mayröckers bewiesen hat, dass er editorische Kraftakte zu stemmen weiß. Was sich nicht nur in philologischer Akkuratesse, sondern auch so handlich und leserfreundlich wie eben möglich aufbereiteten Bänden zeigt. Unterstützt haben Beyer bei der Mammutaufgabe, die insgesamt über 2500 Seiten zusammenzutragen, anzuordnen und schließlich auch in (selten nur zu dick auftragenden) Nachworten zu kontextualisieren, die Literaturwissenschaftler Frieder von Ammon, Peer Trilcke und Gabriele Wix. Das Resultat ist eine avancierte Leseausgabe, jedoch keine historisch-kritische Edition. Stellenkommentare wird man hier vergebens suchen. Und das ist auch gut so. Denn scheint der Dichter durchleuchtet, bleibt von seinem Werk nur mehr ein schwacher Abglanz, an dem die Germanistik sich die Finger wärmt. Kling aber gehört – trauen Sie sich: laut! – gelesen, auf anderem Wege ist seine Leistung schwerlich in Gänze zu fassen. Die Bedeutung seiner Gedichte ist nicht um den Preis ihrer Dekodierung zu erreichen, zu verflochten sind hier Buchstabensinn und Lautlichkeit, das Skripturale und dessen Vortrag.

Die Werkausgabe erscheint indes zur richtigen Zeit. Dies belegen leider auch einige der sicherlich gut gemeinten Rezensionen, die von einer Unkenntnis geprägt sind, welche letztlich nur darauf schließen lässt, dass Klings Werk, so hoch es auch gehandelt wird, im eigentlichen Sinn keine Rezeption erfährt. Gelobt, aber nicht gelesen. Anders ist es kaum zu erklären, wie offensichtlich Teile der Literaturkritik Klings Schaffen verkennen, wenn sie in ihm die bedingungslose Abkehr von allem lyrisch bisher Dagewesenen erblicken oder gar glauben, Kling hätte in demütiger Bescheidenheit wohl über etwas so Antiquiertes wie eine gedruckte Gesamtausgabe in digitalen Zeiten höchstens verlegen geschmunzelt. Naiver geht’s kaum und der Maestro höchstselbst wäre solchen Redakteuren, die im groß angelegten Abriss Wertungen vornehmen, ohne über Textkenntnisse im Kleingedruckten zu verfügen, aufs Dach gestiegen, wie er es seinerzeit und nett gesagt: äußerst selbstbewusst auch getan hat. Für die himmelschreienden Fehleinschätzungen kann freilich Kling nicht viel. Immerhin dürfen die literaturwissenschaftlichen Arbeiten, die sich derzeit mit den Strategien von Klings Autorinszenierung beschäftigen, in den hiesigen Feuilletonredaktionen auf eine zahlenmäßig starke und unbedingt belehrenswerte Leserschaft hoffen.

Zweifelsohne war Kling sehr begabt darin, sein Publikum glauben zu lassen, er wäre immer schon so gut gewesen, wie er es mit seinem offiziellen Debüt erprobung herzstärkender mittel von 1986 und seither ungebrochen war. Mit dieser Sammlung von Gedichten aus der ersten Hälfte der 80er überwand er die seit der Nachkriegszeit immer wieder diskutierte Dichotomie von Labor und Leben. Als nicht einmal Dreißigjähriger hatte er eine poetische Souveränität erlangt, deren Niveau er nicht nur halten, sondern beständig ausbauen konnte. Allenfalls eine anfangs überbordende Zitatfingierung und arg brusttrommelnde Metapoetik rechtfertigen die Rede von einem Frühwerk. Dass die Werkausgabe nun allerdings mitder zustand vor dem untergang auch jenes Büchlein des Zwanzigjährigen aus dem Jahr 1977 einsehbar macht, das der arrivierte Kling gerne vornehm ausschwieg, kratzt weniger am Nimbus des major poet, als der enorme Leistungssprung erstaunen muss, der wenige Jahre darauf bei dem immer noch jungen Mann einsetzt. Mit brennstabm aus dem Jahr 1991, Klings drittem Band und zweitem Buch bei Suhrkamp, gelingt ihm eine Wegmarke. Das Auftaktgedicht di zerstörtn. ein gesang ist Klings erstes Meisterwerk: „so war ich deutscher, serbe, | franzose; wir wir wir. wir stekktn uns auf | unsre bajonette, fühlten uns und sangen für | den böschunxmohn“. Es verweist gleichermaßen auf seine historisch tiefbohrende Hermeneutik und das spezielle Augenmerk für den Ersten Weltkrieg (weit bevor die populären Sachbuchautoren ihn sich aneigneten) sowie die konzentrierte Arbeit in größeren Zusammenhängen, in Gedichtkomplexen und -zyklen, die häufig eigene Kapitel in Klings sorgfältig komponierten Büchern bilden. Auch die Angriffslust dessen, der die Wespe zum Wappentier erkoren hatte, ist hier vollends schon ausgeprägt. Über die metaphysisch bedeutungsschwer daherkommenden Fünfzigerjahre und den De Profundis-Ton ihrer größtenteils epigonalen Schwulst- und Schwielen-Lyrik ergießt sich derbster Hohn, nichts anderes als „scheißefleckn aus rilkes | unterwäsche, unappetitliche george-dessous“ habe man bei der Sichtung mehrheitlich vor sich. Dass Kling der Dichtung allerdings jedwedes Pathos austreiben wollte, wie wiederum einige vorschnelle Kritikernaturen in Hinblick auf ein Programmgedicht wie die weite sucht behaupten, ist Quatsch. Vielmehr ging es ihm darum, die erhabene Schreibweise in lyrikgeschichtlicher Perspektive nicht den Nazibarden und epigonalen Seher-Dichtern zu überlassen, die worttrunken ihre Geschichtsvergessenheit feierten – und das Pathos damit dem Orkus übergaben. Mehrfach gebrochen und nur auf diese Weise zu retten hallt der hohe Ton durch alle seine Bände bis mit Auswertung der Flugdaten aus dem Todesjahr 2005 frühzeitig der Vorhang fällt.

Dazwischen liegen mit nacht. sicht. gerät. und morsch Bücher, für die er völlig zurecht den Else-Lasker-Schüler- sowie Peter-Huchel-Preis erhält und durch Gedichte wie manhattan mundraum mit den bekannten Anfangsversen „die stadt ist der mund | raum. die zunge, textus“ letztlich auch stilprägend, zumindest für seine Zeit wirkt. Mit dem Verlagswechsel zu DuMont und den Sammlungen Fernhandel und Sondagen erreicht Kling schließlich sogar etwas wie eine Klassizität im Versbau, welche die Errungenschaften der früheren Jahre keineswegs verleugnet, doch ihnen zu einer Klarheit verhilft, welche ihn zweifelsfrei als großen Dichter ausweist. Zum Leserglück versammelt die Werkausgabe auch jene Gedichte der seltenen Kunstbücher wände machn und wolkenstein. mobilisierun‘, Zusammenarbeiten mit seiner Frau und Nachlassverwalterin, der Künstlerin Ute Langanky. Gerade letztgenannter dramatischer Monolog gereichte selbst einer Persona-Lyrik wie derjenigen Ezra Pounds zur Ehre.

Was an zu Lebzeiten unveröffentlichten Gedichten Aufnahme findet, ist zum Teil bereits in einer früheren Publikation aus dem Nachlass mit dem schönen Titel Das brennende Archiv enthalten gewesen. Im Gegensatz zu Nietzsche, über den immer wieder geraunt wird, sein wahrer Genius sei nur in den postumen Fragmenten zu finden, wird man im Falle Thomas Klings nicht jeden im Archiv hinterlassenen Kassenzettel auf Notizen hin unter die Lupe nehmen müssen. Kling schrieb in voller Intention Werke und nicht manisch an Materialfriedhöfen. Nichts anderes besagt die durchaus dialektisch aufzufassende Sentenz aus einem Gespräch mit Hans Jürgen Balmes, vom Fragment als heilem Teil der Moderne. Dennoch finden sich einige unbekannte Schmankerl, wie ein gelegenheitsdichterischer Genesungswunsch für Ernst Jandl:

mein lieber lehrer!, aufge

paszt:

hier steht der schmied

von jüterbog der rückt dir

deinen bauch zu recht (»quack

silberei am stück«); 

Und so weiter. – Kling war ein Poet, der bei allem Austeilen nicht vergaß, alle jenen die Reverenz zu erweisen, die sich in seinen Augen ihre Sporen redlich verdient hatten. Wenngleich es sich bei nicht wenigen seiner poetologischen Zwiegespräche um Totenanrufungen handelte, sondierte Kling stets wachsam das lyrische Feld der Gegenwart. Als Beleg für die Bandbreite seines Blicks nehme man die wegweisende Anthologie Sprachspeicher zur Hand, die 200 Gedichte auf deutsch vom achten bis zum zwanzigsten Jahrhundert versammelt; darunter gleich je sechs von George und auch Rilke, nebenbei bemerkt. Zum Hintergrund dieser Kompilation hätte man sich ein wenig mehr Material und Planungsskizzen in der Werkausgabe erhofft, steht der Sprachspeicher doch sinnbildlich für Klings stark ausgeprägtes Kanonbewusstsein und den Willen, seine Vorstellung vom Überlieferungswerten zur Norm zu erheben. Mag sein, dass in den Augen der Herausgeber auch dies eher eine Angelegenheit für eine akademische Abhandlung sei, so ist die Exklusion nahezu aller Interviews, die mit Kling geführt wurden, sehr zu bedauern und schreit nach einem Supplementband. Auch die Klappentexte hätte man mitaufnehmen können, immerhin dürfte Kling tatkräftig an ihnen mitgewirkt haben.

Letzteres zumindest ist ein kleinlicher Makel im Vergleich zu der Fülle an Film- und Literaturkritiken, Zeitschriftenbeiträgen und allerlei essayistisch Verstreutem über die Jahre, das der umfangreiche vierte Band fasst. Überhaupt ist Kling als Essayist eine Wucht. Man muss ja nicht mit jedem Urteil mitgehen, aber wie hier über Literatur, Land und Leute geschrieben wird, strahlt hellwach und fetzt, ganz gleich ob H. C. Artmann, das Kalevala oder die rheinischen Heimatgefilde den Anlass bieten.

Über einen heute sträflich fast Vergessenen schrieb Kling: „Gelesen, gelesen, gelesen gehören Walter Serners Stories!“ Nichts anderes ist den Werken Thomas Klings zu wünschen, an ihnen führt kein Weg zur deutschsprachigen Lyrik des 21. Jahrhunderts vorbei.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Thomas Kling: Werke in vier Bänden. Herausgegeben von von Marcel Beyer, Gabriele Wix, Peer Trilcke und Frieder von Ammon.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
2692 Seiten, 148 EUR.
ISBN-13: 9783518429556

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