Immer unterwegs – nirgends zu Hause?
„Das achte Kind“ in Alem Grabovacs gleichnamigen Roman hat drei Väter und wenig übrig für die mentalen Prozesse der eigenen Selbstfindung
Von Frank Riedel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIn Würzburg geboren, Vater Bosniake, Mutter Kroatin – nein, damit ist nicht der Schriftsteller Alem Grabovac gemeint, es geht um die Hauptfigur seines ersten Romans, die den gleichen Namen trägt. Den Grad der Autofiktionalität zu bestimmen, ist im Hinblick auf die deutschsprachige inter- und transkulturelle Literatur ein beliebtes, aber schweres Unterfangen, das den Blick auf die existenzielle Erfahrung der Migration und die aus ihr resultierenden Wachstumspotenziale für den Einzelnen oft nur verstellt. Was in diesem Roman besonders fasziniert, ist die Darstellung der Arbeitsmigration aus der Sicht der direkten Nachfolgegeneration, die nach der Nachricht vom Tod eines Elternteils, hier des Vaters, die Familiengeschichte – auch historisch – neu einordnet.
Grabovacs Roman bietet durch drei Protagonisten drei Perspektiven: Das Buch Smilja beschreibt wie alles begann, Das Buch Alem erzählt Kindheit und Jugend ihres Sohnes in der Bundesrepublik Deutschland und Das Buch Emir führt die erwachsene Hauptfigur nach Belgrad, an das Grab des Vaters. Allen drei ist die Antwortsuche auf die Fragen ‚Wo komme ich her?‘ und ‚Wohin gehe ich?‘ in einem umfassenderen, daseinsbedingenden Sinn eigen.
Ende der 1960er Jahre ist Titos Jugoslawien an den sozialistisch-politischen Vorgaben der Sowjetunion im Ostblock gemessen relativ frei, aber nicht minder arm. Um am Wirtschaftswunder im Nachkriegsdeutschland teilhaben zu können, macht sich die frustrierte Smilja, der sich durch den Umzug nach Zagreb und die Arbeit als Tellerwäscherin die bescheidenen Träume nicht erfüllt haben, auf den Weg nach Würzburg. Dort lernt sie Emir aus Mostar kennen, von dem sie bald einen Jungen erwartet, den sie nach der Geburt in eine deutsche Pflegefamilie gibt, um weiter in der deutschen Schokoladenfabrik arbeiten zu können. Sein leiblicher Vater ist, wie es sich herausstellt, ein unzuverlässiger Taschendieb und Säufer, mit dem ihn die Mutter nicht alleine lassen will. Die Behrens, bei denen Alem die Wochen verbringt, haben selbst sieben Kinder, die nach und nach das Haus verlassen, weshalb sie, an das Kindergewusel gewöhnt, sich einen Laufstall voller ‚Multikulti-Kinder‘ ins Haus holen. Robert Behrens, der deutsche Pflegevater hält nach seiner Soldatenzeit im Zweiten Weltkrieg weiter am nationalistisch-faschistischen Gedankengut fest, auch wenn er sich später doch nicht von den rechten Republikanern für deren Politik einspannen lässt.
Als Emir eines Tages wegen Wettschulden plötzlich aus Angst vor brutalen Geldeintreibern das Land verlassen muss, nimmt Dušan, ein serbischer Bauarbeiter, die Rolle des Mannes in Smiljas Haushalt ein. Der jetzt schon dritte Vater pflegt zu Alems Leidwesen einen gemeinen, autoritären Erziehungsstil. Wirkliche Bezugspersonen sind fortwährend nur die beiden Mütter, Smilja und Marianne, Roberts Frau, die sich jeweils auf ihre Art fürsorglich um den Kleinen kümmern.
Die beiden großen Themen des Romans sind Familie und räumliche Mobilität, die sich bei Alems leiblichen Eltern mit jugoslawischen Wurzeln und der deutschen Pflegefamilie signifikant unterscheiden. Smilja, Emir und Dušan sind zunächst unabhängig voneinander nach Deutschland gekommen, um Geld für die Familie zu verdienen und, im Falle Dušans, für die Familie ein Haus in der Heimat zu bauen. Wenn sie reisen, dann nach Hause, anfangs nach Jugoslawien, nach dem Zerfall des Vielvölkerstaates nach Maovice in Kroatien, Mostar in Bosnien oder Kačarevo in Serbien. Dušans Sohn Svetozar erklärt einmal: „In Serbien regeln wir alles innerhalb der Familie“ und wohnt als Erwachsener dennoch mit Frau und Kind lieber beengt im Plattenbau, als bei seinem Vater, im von ihm aus dem Gastarbeiterlohn gebauten großen Mehrfamilienhaus. Alem scheint dagegen auf zwanghafter Suche nach Familienbanden, nimmt sowohl Markus, ein Enkelkind der Behrens, als auch Svetozar als Bruder an. Am Ende verzeiht er aus diesem Grund sogar seinem Ziehvater Dušan die brutalen Schläge der Kindheit. Robert und Marianne verreisen gerne nach Italien in den Camping-Urlaub ans Meer, wo sich die weitverzweigte Familie jeden Sommer trifft. In Deutschland ziehen sie aus ökonomischen Gründen alle paar Jahre um und sind regional gar nicht gebunden. Die Familie Behrens zelebriert gemeinsame Feste und wird durch die ausziehenden eigenen Kinder, Enkelkinder und Pflegekinder über lange Zeit groß gehalten.
Der Roman ist auch eine literarische Zeitreise voller Gegenstände und Kulturgüter mit Kult-Status. Marianne kommt vom Zauberwürfel, von den Serien Dallas, Denver Clan und Das Traumschiff und langen M&M-Zigaretten nicht los, Alem liebt die Biene Maja, Das Sandmännchen, die tschechoslowakische Serie Pan Tau und Panini-Fußballbilder, während Robert Honda-Goldwing fährt, sich bei der Fernsehquizshow Dalli-Dalli amüsiert oder Old-Spice-Rasierwasser trägt, weshalb der kleine Pflegesohn selbst einen Bart haben will. Für Smilja, Emir und Dušan hat der Autor wiederum nur regionale Klischees übrig: keine Mahlzeit ohne Fleisch, immer wieder Čevapčiči, die Männer trinken Rakija und in Frankfurt Henninger Pils, sind grob, machohaft und selbstherrlich. Smilja schaut weg, wenn Alem von Dušan mit dem Gürtel und auch auf andere erniedrigende Weise gezüchtigt oder gequält wird. Marianne hingegen bringt das auf die Palme. Sie steht kurz davor ihr ‚Alemchen‘ zu adoptieren, belässt es aber bei einer klaren Ansage an Smilja und ihren Dušan, die Wirkung zeigt.
Da der junge Protagonist zwischen zwei Leben und zwei Familien hin- und hergeschoben wird, hat er doppelt so viele Eindrücke und Erlebnisse. Vergleiche muss das Lesepublikum aber schon selbst ziehen. Am Ende ist er wohl eher ein „Švabo“, das serbo-kroatische Pejorativum für Deutsche, und eigentlich auch ein Schwabe, da er die Ordnung, Regeln, den Minderheitenschutz und linke, grüne Politik bevorzugt. Als Erwachsener in Belgrad muss dann auch er Beamte schmieren. Der Zwanzigmarkschein im Pass für die Grenzkontrolleure ist ebenso ein Stereotyp wie die typischen Sehnsuchtsorte von Touristen: die alte Brücke über die Neretva in Mostar und ihre Brückenspringer, die Lateinerbrücke in Sarajevo an der das Attentat auf Franz Ferdinand verübt wurde, angeblich der Auslöser des ersten Weltkriegs, und die Strandpromenade Riva in Split. Das es Gastarbeiter auf ihren Heimatbesuchen ausgerechnet dort hinzieht, erscheint unwahrscheinlich; dass solche Orte einem Kleinkind im Gedächtnis bleiben, unrealistisch.
Die Schilderung der Tage oder Wochen vor dem Ausbruch der Jugoslawienkriege im armen kleinen Bergdorf, aus dem Smilja stammt, ist einfühlsam gestaltet und die serbische Krajina im heutigen Kroatien gehörte tatsächlich zu den stark betroffenen Gebieten. Man hört von Straßensperren, Parolen, wer wohin gehört und sich auch dorthin zu begeben habe. Die Jugendlichen beginnen sich plötzlich auf Grund ihrer Namen, Religion und nationalen Zugehörigkeiten mit den früheren Freunden zu streiten und zu bekämpfen. Die Alten können und wollen nicht mehr woanders hin, werden zu Opfern. Die Rückreise mit der Mutter nach Frankfurt gleicht einer Flucht. Mitten im Geschehen denkt Alem: „Das ist nicht mein Leben, nicht mein Land und nicht mein Krieg. Alles geschah wie in einem Film, zu dem ich nicht dazugehörte.“
Dem Auswandern und dem Gastarbeiterleben mit all seinen Entbehrungen und Sentimentalitäten wird im Roman das spießbürgerliche sesshafte Wohlstandsleben einer süddeutschen Familie gegenübergestellt. Den einen geht es ums nackte Überleben, darum, sich ein wenig Normalität zu erarbeiten, wo und wie auch immer. Die Anderen leben, tun und reisen, um sich selbst zu finden und sich besser zu fühlen. Dem nüchtern erzählten Text fehlt es bei der Schilderung der beiden Perspektiven an Tiefe, an Auswegen und Lösungen, mit denen sich Alem, wenn schon nicht in jungen Jahren, so doch wenigstens rückblickend hätte auseinandersetzen können. Zwei so verschiedene Lebenswege parallel zu (er-)leben bietet doch beste Möglichkeiten zu vergleichen, und birgt auch die Gefahr, sie gegeneinander auszuspielen. Dass Alem Grabovac darauf verzichtet, ist lobenswert, dass er aber die Erkenntnisse aus der gefühlsmäßigen und kognitiven Verarbeitung des Erlebten der Leserschaft vorenthält, wirkt unbefriedigend.
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