Es antworteten Hagelschläge

Eduard Schreiber legt mit „Quer durch Phantomasien“ eine bemerkenswerte Freundesgabe für den tschechischen Schriftsteller Ludvík Kundera vor, der am 22. März 2020 seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seiner Heimat zählt der tschechische Schriftsteller Ludvík Kundera (1920–2010) zu den bedeutendsten Autoren, obwohl er in den Jahrzehnten des „real existierenden Sozialismus“ immer wieder, zum Teil über viele Jahre hinweg, Publikationsverboten unterworfen war. Erst in Folge der „samtenen Revolution“ im Herbst 1989 konnte Kundera seine Bücher ohne jegliche Behinderungen in dichter Reihenfolge veröffentlichen.

Bereits als junger Mann hatte er sich noch während des Zweiten Weltkriegs der surrealistisch inspirierten Künstlergruppe Ra angeschlossen. Seine künstlerische Entwicklung wurde jedoch durch seine Zwangsverpflichtung zum Arbeitseinsatz in Berlin jäh unterbrochen. Nach einer schweren Erkrankung an Diphterie kehrte Kundera nach Brünn zurück, um in einer halblegalen Existenz zusammen mit seinen Freunden graphische und lyrische Aktivitäten zu entfalten.

Zeitlebens haben bildende Künste eine inspirierende Wirkung auf Kunderas Verse ausgeübt. Der abgedruckte Zyklus Köpfe und Jahre ist in schöpferischer Zusammenarbeit mit dem Maler Josef Istler 1944 entstanden und in einer Auflage von gerade einmal zehn Exemplaren erschienen. In für Kunderas Schaffen charakteristischer Weise entfalten sich in intensiver sprachlicher Dichte Traumlandschaften. Taumelnd, zwischen Ängsten, Zustandsbeschreibungen und Mutmaßungen hangelt sich ein Ich-Erzähler wie ein Berichterstatter durch ein endloses Gestrüpp von Verwicklungen. Die konventionelle Realität scheint außer Kraft gesetzt und von schier unerschöpflichen Möglichkeitsvisionen ersetzt, überkommene Wahrnehmungsmuster beginnen sich in nahezu beliebiger Form zu vervielfältigen. Der Mensch könnte seine Erlebnisse auf diese Weise ebenso als Fisch empfinden und von dessen Perspektive übermächtigt zu werden:

Wozu soviel grimassen
in unüberwindbar banger schilfsandkuhle
fragten sich flossen
hagelschläge antworteten
runzeln in hohlgesichtern

Die surrealistische Tradition, die bereits in der Vorkriegszeit den jungen Ludvík Kundera begeistert hatte, wurde durch seine Erlebnisse im „Totaleinsatz“ bei Siemens in Spandau in furchtbarer Weise beeinflusst. Ganz offensichtlich sind in Kunderas Versen die erlebten Auswirkungen einer totalitären Diktatur sowie die Schrecken von Zwangsarbeit, Bombennächten und Schicksalen zigtausendfacher Entwurzelung nicht spurlos vorübergegangen. Wie ein Menetekel irrlichtern gewalttätige Bilder durch seine phantastischen Welten:

Aus nächten
quoll giftmilch
von bäumen
lachten geraubte frauen

Der zweite Zyklus im vorliegenden Bändchen – Quer durch Phantomasien – war 1980 in seiner Heimat zunächst ebenfalls in einer lediglich minimalen Auflage von fünf Exemplaren erstmals erschienen. Dies war dem Veröffentlichungsverbot geschuldet, welcher Ludvík Kundera in den Jahren der sogenannten „Normalisierung“ der 1970er und 1980er Jahre unterlag. Zur sprachlichen Verdichtung von nächtlichen wie auch täglichen Traumwelten traten augenzwinkernde Elemente von Wortspielen und ironischen Andeutungen hinzu. Auch wenn der Dichter mittlerweile in die Jahre gekommen war, schärften die Umstände, trotz oder auch wegen aller inzwischen erfolgten politischen Umbrüche, nach wie vor seine Fantasie angesichts von „schneisen von dornendickichten, unterholz, schilfplateaus, blütenflaumresten, gesteinsfeldern, lippenengeln“. Der Alltag in einer realsozialistischen Diktatur als „verbotener Bürger“, wie es die Schriftstellerin Eva Kantůrková bezeichnet hat, tat sein Übriges. Die Stelle als Chefdramaturg am Schauspielhaus in Brno/Brünn, wo er 1968–1970 wirkte, war ihm aus kulturpolitischen Grünen entzogen worden.

1976 hat sich Ludvík Kundera, der auch als Graphiker, Herausgeber, Redakteur und Übersetzer hervorgetreten ist, in das mährische Kunštát, einer kleinen Ortschaft am böhmisch-mährischen Höhenzug nördlich von Brünn, zurückgezogen. Am 12. Oktober 2009 hat er in Tschechien für sein Lebenswerk den renommierten Jaroslav-Seifert-Preis erhalten. Am 17. August 2010 ist Ludvík Kundera im Alter von 90 Jahren verstorben.

Das vorliegende Bändchen ist dem renommierten Übersetzer und Dokumentarfilmer Eduard Schreiber zu verdanken, mit dem Ludvík Kundera eine enge und produktive Freundschaft verband. Schreiber hat nicht nur andere „vergessene“ Schriftsteller der tschechischen Moderne wie Emil Juliš, Milada Součková oder Jiří Kolář in hervorragenden Übersetzungen vorgestellt, sondern auch einige Gedichtbände von Ludvík Kundera sowie – in Zusammenarbeit mit Kundera – im Rahmen der 33-bändigen TSCHECHISCHEN BIBLIOTHEK die Anthologie des Poetismus (2004) sowie den Almanach tschechischer Dichtung Süß ist es zu leben (2006) realisiert.

Kein Bild

Ludvik Kundera: Quer durch Phantomasien.
hochroth Verlag, Berlin 2020.
38 Seiten , 8,00 EUR.
ISBN-13: 9783903182684

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch