Wie viele Wege führen zum Heil?

Ein Sammelband von Tobias Bulang und Regina Toepfer nimmt die „Kultur der Selbstsorge in der Kunst und Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit“ in den Blick

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mag es ein wirklicher Zufall sein, dass im mediävistischen Bereich gerade in letzter Zeit Publikationen erscheinen, die zumindest im weitesten Sinne eine Art medizinischen Bezug aufweisen können oder doch zumindest eine Anbindung an diesen Bereich ermöglichen? Am Ende ist es wohl die eingeschränkte Wahrnehmung des Rezensenten, die Dinge generiert, die so gar nicht – oder doch allenfalls marginal – eine Rolle spielen. Wie es auch sein mag, Heil und Heilung, ein Band, der die Beiträge einer im Jahre 2016 veranstalteten Tagung zum Themenkomplex zusammenstellt, trägt zumindest eine dementsprechende Konnotationsmöglichkeit im Titel.

Der Ausgriff weist dabei weit über den Bereich des Mittelalters hinaus, liegen die Grundlagen einer Kultur der Selbstsorge doch bereits in der Antike. Dabei ist an eine idealtypiserende, gewissermaßen allumfassende Konstellation zu denken, die in verkürzter beziehungsweise verkürzender Form auch gegenwärtig unter dem Topos mens sana in corpore sano zusammengefasst wird. Selbstverständlich ging das christliche geprägte europäische Mittelalter respektive seine Protagonistinnen und Protagonisten aber über diesen zuvorderst diesseitig, in jedem Falle aber heidnisch geprägten Ansatz hinaus, indem die Diskussion dieser Selbstsorge um eine explizit transzendentale – das heißt kirchlich-theologische – Komponente wesentlich erweitert wurde.

Das Ergebnis oder vielleicht doch eher auch der Weg im Rahmen dieser Transzendenz ist die Entwicklung eines interdependenten Dualismus aus dies- und jenseitiger Welt, der sich letztlich in den göttlichen Schöpfungs- und letztlich Heilsplan einfügt beziehungsweise diesen bis zu einem gewissen Maße einerseits generiert, andererseits bedingt. Dieses Wechselfeld wurde in der historischen Entwicklung (oder in der historischen Wirklichkeit) gleichwohl nicht homogen gedacht, sondern folgt den Vorgaben des Ständesystems, indem aus der theoretisch-soziologischen Aufgliederung der Gesellschaft eine ebenso theoretische ‚Heilsintensität’ abgeleitet wurde. Intendiert und imaginiert wurde ein konstruktives Spannungsverhältnis, das, von der gesellschaftlichen Position abhängig, in unterschiedlichen Manifestationen erfolgte. Dabei wurde eine in gewisser Hinsicht mehrfach vertikale Brechung gedacht, die zum einen klerikale und laikale Welt voneinander schied, zum anderen aber eben auch die unterschiedlichen sozialen Positionen berücksichtigte und widerspiegelte.

In der vorliegenden Publikation von Tobias Bulang und Regina Toepfer wird diesen Phänotypien und den ihnen zugrunde liegenden Mechanismen auf den Grund gegangen. In den aus interdisziplinärer Warte verfassten Beiträgen dieses Bandes wird die Ambivalenz von Heil und Heilung aus diskursanalytischer, narratologischer, semantischer und kulturtheoretischer Perspektive in den Blick genommen, um – so lassen die Herausgberin und der Herausgeber verlauten – eine „historische Archäologie“ dieser Phänomenik zu leisten. Und so heißt es folgerichtig in der Einleitung: „Unterschiedliche Konzeptionen von Heil und Heilung werden in diesem Sammelband […] präsentiert. […] Somit will der Band Impulse für weitere Forschungen setzen, die anstreben, die Ambivalenz von Heil und Heilung in Mittelalter und früher Neuzeit diskursanalytisch genau zu erfassen und theologische, medizin- und ideengeschichtliche Aspekte der Thematik durch Rückgriff auf Texte und Bilder vertiefend darzustellen.“

Diesem Unterfangen sind die insgesamt elf Beiträge gewidmet, in denen die in der Einleitung angekündigten Diskussionslinien und Zielsetzungen dann verfolgt werden. Erkennbar sind hier Themen, die mitunter merkwürdig vertraut vorkommen. Dies mag allerdings nur auf den ersten Blick verwundern, sind es doch eben genau diejenigen Aspekte, die in der gegenwärtigen bzw. seit den siebziger Jahren wieder vermehrt auf den Plan getretenen Esoterikbewegung im Fokus stehen. So beschäftigt sich Wolfgang U. Eckart unter dem Obertitel gesunte und lëbenthaft mit der Wahrnehmung von Heil an Körper und Seele in der mittelalterlichen Iatrotheologie, Elementenlehre und Diätetik, was zumindest vom Grundsatz her nicht nur in Reformhauspublikationen, sondern eben auch in wabernden Esoterikzeitschriften Thema sein könnte.

Selbstverständlich hat dies Eckart auch vor Augen gehabt, geht er doch in seinen einleitenden Zeilen auf eben diesen Umstand ein. Der Verfasser bleibt dabei aber nicht stehen, sondern bringt zumindest knappe Überblicke zu mittelalterlicher Klostermedizin, mittelalterlichen Spitälern sowie der damaligen Lehre von den Körpersäften und ihren Konstellationen. Verstörend aus heutiger Sicht, die ja trotz (oder vielleicht auch gerade wegen) der SARS-CoV-2-Pandemie und ihrer Auswirkungen sehr diesseitig fokussiert erscheint, ist der knappe Abschnitt zur Iatrotheologie, der eben aufgrund dieser (heils-)theologischen Perspektive mit der ars moriendi verknüpft wird, letztlich also der in gewisser Hinsicht eigenverantwortlichen Fähigkeit zum ‚richtigen‘ Sterben. Vielleicht wäre es angemessen gewesen, mit diesem Abschnitt, der gegenüber unserer heutigen Weltsicht doch so ganz andere Aspekte aufzeigt, zu enden. Stattdessen folgen mit Abschnitten zu Diätetik und zu Hildegard wieder gegenwartskompatible Aspekte, die meines Erachtens ein Stück weit die konfrontative Schärfe glätten, was einerseits zwar versöhnlich ist, womöglich aber die Aussagekraft dieses Beitrags etwas abschwächt.

Manfred Eikelmann konzentriert sich auf die Adaption spätantiker Traditionen, hier auf diejenigen aus der Epoche des theoderizianischen Italien, indem Adaptionen antiker Heilkunst in Boëthius’ ‚Consolatio Philosophiae‘ und Konrad Humerys ‚Tröstung der Weisheit‘ in das Spannungsfeld von Selbstsorge und Ich-Erzählung gestellt werden. Der Trost der Philosophie des Boethius ist sicherlich eines der ergreifendsten Werke der Spätantike, findet der fiktive Dialog des Schreibenden mit der Verkörperung der Philosophie doch in dessen Kerker statt, in dem auch der reale Boethius auf seine Hinrichtung wartete. Und in dieser extremen Ausnahme und Belastungssituation ist der imaginierte Austausch in der Tat ein Vorgang der Selbstsorge. Dies ist hinwiederum ebenfalls höchstmodern, wird doch auch in unseren Tagen das Schreiben noch als eine Möglichkeit der Therapie gesehen.

Dass dieses Werk eine weite Rezeption erfuhr, erscheint naheliegend, und das gilt auch, obwohl Boethius zumindest im weiteren Sinne ‚unter dem Radar‘ flog: Boethius war Christ, das Italien seiner Zeit war christlich geprägt, und eigentlich wäre zu erwarten gewesen, dass eine Tröstung in dieser Grenzsituation nicht durch die gewissermaßen heidnische Philosophie erfolgen könne, sondern selbstverständlich nur durch eine Manifestation der ‚Ecclesia‘ möglich wäre. Dementsprechend sind viele mittelalterliche Adaptionen dieses Textes auch deutlich christlich geprägt, was auch für das von Eikelmann herangezogene Pendant Konrad Humerys, die Tröstung der Weisheit gilt, die zwar laikale philosophische Aspekte aufweist, letztlich aber auf den göttlichen Heilsplan hindeutet. Gleichwohl war das Original in der Neuzeit nie vergessen; Eikelmann verweist hier explizit auf fünf voneinander unabhängige Übersetzungen um das Jahr 1460 sowie explizit auf einen Frühdruck von Hans Sachs. In dieser Variante wird freilich – das ist vermutlich der Reflex der anhebenden, urban und handlungsrational geprägten Frühmoderne – eher auf die Problematik des (vermeintlich) ziellosen Grübelns verwiesen.

Auf den eher, zumindest hinsichtlich einer theologischen Erwartungshaltung, anwendungsorientierten Aspekt von Heil und Heilung verweist der Beitrag Almut Schneiders, die unter dem Titel die diner clage wunden mit troste wollen heilen das Feld der allegorischen Lehrdichtung betritt und damit die christlich bedingte Transformation des antiken Konzepts der Selbstsorge anhand ebendieser allegorischen Lehrdichtung in den Blick nimmt. Im Zentrum des Beitrags steht der Wiener Arzt Heinrich von Neustadt, dessen Wirken und Schriften sowohl den irdischen als auch den transzendentalen Kosmos umfassten. Hier wird, abgesehen von der stringent christlichen Ausrichtung des um die Wende vom 14. auf das 15. Jahrhundert Lebenden, gerade auch hinsichtlich seiner Auffassung von einer allwirkenden Harmonie eine Verwandtschaft zur Esoterik unserer Tage deutlich. Gleichwohl ist es eben so, dass Heinrich die Vermittlung und wechselseitige Abhängigkeit zwischen Diesseits und Transzendenz theologisch neu akzentuiert, womit die vermeintlich ‚wertfreie‘ Perspektive gegenwärtiger esoterischer Systeme nicht gegeben ist.

Eine ähnliche theologische Sicht wird auch in Bernd Rolings Beitrag Narben und Blut thematisiert, geht es doch um die Frage nach der körperlichen Vollständigkeit des Auferstandenen im Mittelalter und der frühen Neuzeit. Zentral in dieser Untersuchung sind die Schriften des Jesuiten Gabrie Vazquez, der sich intensiv mit Detailfragen etwa zur Bedeutung und Funktionalität des Blutes Christi beschäftigt hatte – damit aber keineswegs alleine stand. Es ist aus heutiger Sicht bemerkenswert und aufschlussreich, mit welchen Details sich theologische Spekulationen jener Tage auseinandersetzten; oft handelt es sich um Aspekte, die aufgrund ihrer Randständigkeit aus heutiger allgemeiner und durchaus auch (mehrheits-)theologischer Sicht nicht nur irrelevant erscheinen, sondern auch kaum interessieren dürften. Gleichwohl gab es ebenfalls aus protestantischer Sicht Überlegungen darüber, welches ‚Schicksal‘ das während der Passion verloren gegangene Blut Christi hat(te) – und welche Bedeutung es fürderhin haben würde. Dies war eine Frage, die für den ‚reformierten‘ Flügel vollkommen bedeutungslos war, während sie im lutherischen Diskurs durchaus von Relevanz war. Letztlich zielte die Beschäftigung mit diesem Thema auf die Frage der direkten oder indirekten theologischen Wirksamkeit des Abendmahls ab, die sich in dieser Dringlichkeit gegenwärtig kaum mehr stellen dürfte.

Da Blut allerdings auch heutzutage, und womöglich unter den Zeichen der alles überschattenden Pandemie noch intensiver als zuvor, weniger als Erlösungsmedium, sondern allenfalls als notwendige Nährflüssigkeit betrachtet wird – zumindest zurückhaltend, wenn nicht gar mit Abscheu –, schließt Beatrice Trînca mit ihrem, den konnotativen Jubel des vorangegangenen Themas konterkarierenden Beitrag zu Ekel und Heil perfekt an.

Unter dem Untertitel Mystische Exzesse werden Beispiele drastischer mystischer Vorstellungen und Bilder geliefert, die – etwa dann, wenn es um die Imagination des geöffneten Körpers des Heilands geht – heutzutage allenfalls unter ‚FSK 18’ laufen würden, sofern sie nicht bereits vollständig auf den Index verbannt worden wären. In diesen Beispielen wird eine drastische Annäherung an das Heilsgeschehen imaginiert, die bereits in der damaligen Zeit keineswegs unumstritten war, heutzutage aber definitiv als pathologisch eingeschätzt werden würde. Exemplarisch wird hier nach einem Exkurs zum Leben des Franz von Assisi die Hagiographie der Katharina von Siena herangezogen, in deren Vita die Krankenpflege als gelebte Caritas eine herausragende Position einnimmt. Neben den bereits angesprochenen, gewissermaßen ‚heils-anatomischen‘ Einblicke wird drastisch beschrieben, wie die Heilige aus der Seitenwunde des Gekreuzigten trinkt; ein archaisches Ritual, das eher an ‚primitive‘ Religiosität gemahnt als an eine letztlich weltumspannende Hochreligion. In einer in Paris aufbewahrten Handschrift der unter dem Titel ein geistlicher Rosengart gekürzt ins Deutsche übertragenen Heiligen-Vita ist dieses Ereignis sogar bildlich dargestellt. Wo die, wenn nicht säkularisierte, so doch zumindest hygienisch aufgeklärte, Postmoderne beim Gefühl der Abscheu stehenbleibt, geht in der mittelalterlich-frühneuzeitlichen Sicht jedoch eine antagonistische (Ver-)Klärung vor sich: Der Ekel schlägt in das Empfinden der Süße um!

Weniger drastisch ist der nächste Beitrag; Dorothea Klein beschäftigt sich mit dem Thema Geistliche Diätetik anhand der Predigten Bertholds von Regensburg und Geilers von Kaysersberg. Wesentlich sachlicher – und deutlich entspannter als die verstörenden Bilder in den Viten Katharinas und Franziskus’ – wird hier, das heißt in den entsprechen Predigtabschnitten und dann natürlich im Auftrag selbst, der Aspekt der Selbsterkenntnis als das Fundament der Selbstsorge definiert und somit eine durchaus anwendungsorientierte Perspektive aufgetan. Selbstverständlich ist dies in einen kirchlichen Gesamtkontext einzuordnen, aber bisweilen erinnern sowohl der grundsätzliche Ansatz als auch die gelieferten Textbeispiele an die fernöstliche Zen-Tradition.

Ein sicherlich besonders interessanter, weil zumindest im Kontext der musikalischen E-Kultur präsenter, Aspekt von ‚Heil und Heilung‘ wird in den von Elisabeth Schmid thematisierten Wundheilungen im ‚Parzival‘ angesprochen. Allerdings – es ist ja keine breite Publikation zum arturischen Idealhelden – beschränkt Schmid sich auf den Bereich der Kräutermedizin, der mitsamt seiner Funktion in der Dichtung diskutiert wird, wobei im Fall Gawains, der ja in mancher Hinsicht als das weltliche Pendant zu Parzival angelegt ist, durchaus eingeräumt werden muss, dass die Heilerfolge der Kräutermedizin beschränkt sind.

Franziska Wenzel wirft anhand der Figuren des Aufschubs einen Blick auf das Unheil in kleinepischen Texten. Anhand von Dichtungen etwa des Stricker (Der begrabene Ehemann, Der Pfaffe Amis) oder Konrads von Würzburg (Herzmaere) werden die in der Kleinepik verorteten Inszenierungen von Heil und Unheil überzeugend durchdekliniert. Einen wesentlichen Aspekt erkennt die Autorin in ihrem lesenswerten und durch den verhältnismäßig großen Umfang auch sehr ausgewogen-aufschlussreichen Beitrag im Medium der Verschiebung. Trotz aller Minne-Persiflage in den untersuchten Texten ist das Ideal der hohen Minne keineswegs obsolet, es scheint nur, als käme die Erfüllung (und auch im allgemeineren Heilssinne die Erlösung) erst nach dem Tode.

Wegweisungen zur Heilung bereits zu Lebzeiten zeigt unter dem Titel Der Sänger als Hausarzt und Heilsspender Holger Runow auf. Er folgt dabei nicht nur den Strategien der Heils- und Selbstsorge in der Sangspruchdichtung, sondern macht gleichzeitig – und das ist nun wirklich eine Besonderheit – einen in der älteren Forschung zunächst dem Meister Heinrich von Mügeln zugeordneten, aber später als Nachahmung erkannten Text mit dem bereits in der Zeit der Falschzuschreibung vergebenen Titel Gesundheitsregeln offenbar erstmals vollständig der Öffentlichkeit zugänglich. Und wenngleich Runow den literarischen Wert dieses Lehrgedichts reichlich kritisch sieht, lassen sich daran doch wesentliche Parameter der Funktionalität und Wirkung dieser Gattung aufzeigen. Das zu vermittelnde Ziel kann auch hier nur in der persönlichen Erfüllung als Heil(ung)sgarantin liegen.

Unter dem gewissermaßen doppelt diametral aufgebauten oder auch doppelt antagonistischen Titel Heillosigkeit und Heil, Krankheit und Heilung werden diese Paare von Julia Zimmermann anhand spätmittelalterlicher Texte und Der Saelden Hort in einen konstruktiven Zusammenhang gebracht. Bezug nimmt sie dabei auf eine Erscheinung, die zwar bereits seit dem 11. Jahrhundert gelegentlich beschrieben wurde, sich aber um die Mitte des 13. Jahrhunderts zu einem Massenphänomen auswuchs: die sogenannte Tanzwut, die neben ihrer Eigenschaft als massenpsychotisches Ereignis (beziehungsweise durch Massenpsychosen begründetes Ereignis) anscheinend auch durch physiologische Auslöser wie etwa Vergiftungen bedingt war. Der hier en passant erfolgte Hinweis auf die entsprechenden Quellen und Sekundärtexte stellt sicherlich einen wesentlichen Aspekt des Beitrags dar. Angesichts der historischen Laufzeit dieser Ereignisse ist der Artikel knapp gehalten, eines wird jedoch deutlich herausgearbeitet: Die Ambivalenz der Auffassung und auch heilsgeschichtlichen Deutung dieser zwanghaften Massenereignisse liegt in ihrer transzendental vorgegebenen Mehrschichtigkeit. So konnte die Tanzwut zwar in erster Linie als Strafe interpretiert werden – sie trug darüber hinaus jedoch durch die Katharsisfähigkeit der zwanghaften Bewegungen den Weg zur Heilung im theologischen Sinne in sich.

Mit dem womöglich gerade in diesen Zeiten besonders aktuellen Beitrag zum ‚Schmerz‘ im Frühneuhochdeutschen schließt Anja Lobenstein-Reichmann den Band. Hier werden neben der Definition des Begriffs ‚Schmerz‘ im Neuhochdeutschen auch weitergehende Erläuterungen zu körperlichen und (herz-)seelischen Schmerzen aufgeführt, wobei auch die Leib-Seelen-Problematik diskutiert wird. Dabei nimmt die Autorin explizit Bezug auf die Folter als ein seinerzeit geläufiges juristisches Beweisführungsinstrument. Allerdings sind derlei Aspekte eher randständig, ist es Lobenstein-Reichmann in erster Linie doch um die linguistische Einordnung des Wortes ‚Schmerz‘ und bedeutungsverwandter Begriffe aus eben diesem Benennungsfeld zu tun. So endet der Beitrag auch eher mit einer nüchternen Bestandsaufnahme als mit einem Ausblick auf die transzendentale Wirkung oder gar Belohnung und weicht durch diese säkulare Eigenheit ein Stück weit von den anderen Beiträgen ab.

Eine Gesamtbilanz fällt angesichts der trotz enger thematischer Nähe doch oft divergierenden Beiträge nicht leicht. Zweifellos werden hier sinnvolle Ansätze geliefert und auch ein Rahmen gesteckt, unter denen dieses interessante wie letztlich auch heute noch relevante Themenfeld angemessen behandelt werden kann. Und doch erscheint manches einfach zu ‚kurz‘ gehalten. Der eine oder andere Beitrag hätte doch durch ein Mehr an Information beziehungsweise durch stringentere und womöglich auch dichter begründete Argumentationslinien an Aussagekraft gewinnen können. Des Weiteren wäre eine an die einzelnen Texte angehängte bibliographische Erweiterung der Literatur- und Quellenverweise in den Fußnoten nicht ganz unpraktisch. Und gerade auch angesichts der verdichteten Knappheit und damit immanenten Vielschichtigkeit der Textbeiträge wäre ein Gesamtregister von Vorteil gewesen.

Dies alles gibt es aber leider nicht, sodass die vorliegende Publikation in mancher Hinsicht ‚unfertig‘ wirkt. Damit soll das Werk in toto jedoch nicht abgewertet sein. Das Buch sowie seine Beiträgerinnen und Beiträger lassen Schlaglichter auf ein Literatur- oder vielmehr Lebensfeld fallen, das zwar nicht mehr in einer Weise gesehen und empfunden werden kann, wie dies noch in Mittelalter und früher Neuzeit der Fall war, das aber gleichwohl immer noch von Bedeutung ist und letztlich wohl auch bleiben wird. Angesichts der aktuellen Pandemie mag dies besonders deutlich zu erkennen sein – allerdings waren die heutigen Umstände zum Zeitpunkt der Tagung vor fünf Jahren wohl kaum vorhersehbar. Wie auch immer: Der sich zwar nicht im ‚Ramschtisch-Bereich‘ bewegende, aber gleichwohl erfreulicherweise auch nicht exorbitante Verkaufspreis ist angesichts eben der existenziellen Wertigkeit des Themas ein weiteres Argument, das für das vorliegende Buch spricht.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Tobias Bulang / Regina Toepfer (Hg.): Heil und Heilung. Die Kultur der Selbstsorge in der Kunst und Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2020.
282 Seiten, 42,00 EUR.
ISBN-13: 9783825346560

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