Eine Frau, ein Buch

Cho Nam-Joo beschreibt in ihrem Roman „Kim Jiyoung, geboren 1982“ eindrücklich die Diskriminierungserfahrungen einer jeden Frau in der heutigen globalen Gesellschaft.

Von Aileen StickelbrucksRSS-Newsfeed neuer Artikel von Aileen Stickelbrucks

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit einem Sensationserfolg aus Südkorea wirbt der Rücken des Romans. Nicht unbegründet, bedenkt man, dass er allein dort über eine Millionen Mal verkauft wurde und als wichtigster Text der aktuellen koreanischen Frauenrechtsbewegung gilt, die ihre Forderungen unter anderem mit Protesten in Seoul laut machte. Wer sich nun denkt, „Gut für den asiatischen Raum, doch was hat das mit mir und Europa zu tun?“, begeht einen großen Fehler. Die Geschichte der Protagonistin Kim Jiyoung ist universell und spiegelt die Erfahrungen einer jeden Frau wider, ganz gleich auf welchem Fleck der Erde sie aufgewachsen ist und ihr Leben bestreitet.

Wie der Titel bereits vermuten lässt, ist die Protagonistin Kim Jiyoung 1982 in Seoul, Südkorea geboren. Zu Beginn erfährt der Lesende, dass die inzwischen Mutter gewordene Frau an einer Psychose erkrankt ist, bei der sie sich für Frauen aus ihrem engen Umfeld hält und wie diese agiert. In der Folge wird durch die verschiedenen Etappen ihres Lebens geführt, um zu ergründen, dass es sich bei ihrer Erkrankung nicht um eine individuelle handelt, sondern um eine gesamtgesellschaftliche, die durch Alltagssexismus hervorgerufen wird.

Besonders ist dabei der nüchterne Schreibstil Cho Nam-Joos. Sie erzählt von der Kindheit, der Jugend, dem jungen Erwachsensein und der Ehe von Jiyoung – immer mit einer gewissen Distanz zur Protagonistin und ihren Emotionen. Zwar gibt das erste Kapitel des Buches Hinweise darauf, was die Protagonistin liebenswert macht, wie zum Beispiel ihre heitere Art, ihr ausgeprägtes Lachen und ihre Vorliebe für das Nachspielen von Sketchen, die sie im Fernsehen gesehen hat, doch wird dies im Weiteren nicht ausgeführt. Gerade dieser Kniff ist so wertvoll, da der Lesende keine Beziehung zum Individuum aufbaut, sondern versteht, dass Jiyoungs Leben symbolisch für jede Frau in der heutigen Gesellschaft steht. Ganz sachlich wird man Seite um Seite mit diskriminierenden Handlungen gegen Frauen konfrontiert.

Die Autorin sah sich dazu bemüßigt, an gewissen Stellen des Romans Fußnoten anzubringen. Dies mag für einen Roman ungewöhnlich erscheinen, beweist jedoch ein ums andere Mal, dass das Buch nicht einfach als fiktive Geschichte abgetan werden sollte, sondern wahre und aktuelle Ungerechtigkeiten anspricht. So kommt durch die Fußnoten kein Zweifel auf, dass es beispielsweise tatsächlich 2014 ein großes Lohngefälle zwischen Männern und Frauen gab oder 2014 wirklich jede fünfte verheiratete Südkoreanerin ihre Arbeit wegen Heirat, Schwangerschaft oder Kinderbetreuung aufgab.

Nun liegt der Impuls nahe, die Thematik abzutun und zu behaupten, Frauenfeindlichkeit sei noch ein Problem des asiatischen Raums und in Europa gehöre sie schon lang der Vergangenheit an. Doch kann niemand nach der Rezeption des Romans ernsthaft zu diesem Schluss kommen. Natürlich sind einige der beschriebenen Formen des Alltagssexismus speziell in der südkoreanischen Kultur beziehungsweise Politik verankert. So war es in den 1980er Jahren, in der Zeit in der Jiyoungs Mutter ihre Kinder bekam, gesellschaftlich akzeptiert, abzutreiben, wenn ein Mädchen erwartet wurde, da diese weniger wert seien. Doch gerade die Erfahrungen, die die Protagonistin im Roman macht, könnten ihr genauso gut real in Deutschland passieren: Auf dem Nachhauseweg verfolgt werden, in der vollen U-Bahn begrapscht werden, bei der Jobsuche benachteiligt werden und nach Einstellung schlechter als die männlichen Kollegen bezahlt werden.

Ebenso universell ist die von Nam-Joo beschriebene verbale männliche Gewalt gegen Frauen. Ihr erster Freund, gekränkt, weil Jiyoung sich trennte, erzählt herum, sie sei untreu gewesen. Ein junger Mann, der Interesse an ihr hat, sagt vor seinen Freunden: „Wer will schon einen Kaugummi, den ein anderer ausgespuckt hat?“. Ein Mann, der sieht, wie Jiyoung auf einer Parkbank einen Kaffee trinkt, während ihre kleine Tochter im Kinderwagen schläft, flüstert: „Ach, ich möchte auch mit dem Geld meines Mannes im Park herumsitzen und Kaffee trinken… Ein Sch-mama-rotzer.“ Keine Frau kann diesen Roman lesen, ohne aufgewühlt zu werden, da sie selbst an eigene Erfahrungen mit ähnliche Aussagen erinnert wird.

Das Schweigen der Protagonistin ist nicht als stille Zustimmung misszuverstehen, sondern vielmehr als Ohnmacht zu begreifen. Die einzige Art, wie sie schlussendlich in dieser Gesellschaft überleben kann, ist sich in andere Rollen zu flüchten. Ihre Erkrankung ist wie eingangs erwähnt nicht individuell, sondern gesellschaftlich und nur durch einen sozialpolitischen Wandel zu heilen.

Der Roman schafft es am Beispiel eines Schicksals und auf gerade einmal 208 Seiten das Leben der meisten Frauen in der heutigen Gesellschaft auf den Punkt zu bringen. Ein kleiner Stich hier, ein kleiner Stich dort – die kleinen Momente der Alltagsdiskriminierung werden sachlich und dabei doch eindrücklich geschildert. So viel kann an dieser Stelle verraten werden: Auf ein „Happyend“ wartet der Lesende vergeblich, so wie auch die Frauen der heutigen Gesellschaft noch auf eine echte Gleichstellung warten müssen.

Titelbild

Nam-Joo Cho: Kim Jiyoung, geboren 1982.
Aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021.
208 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783462053289

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