Aus der Weltgeschichte gefallen, aber dann doch zu großem Ruhm zurückgefunden

Wolfgang Wissler erzählt die spannende Geschichte um Christoph Kolumbus aus mannigfaltigen Perspektiven nach

Von Siri WolfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Siri Wolf und Jürgen WolfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Wolf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Christoph Kolumbus kennt heute jeder. Jeder weiß, dass er Amerika entdeckte – wobei er tatsächlich ‚nur‘ den Seeweg nach Indien gefunden und einige vorgelagerte Inseln eben dieses Sehnsuchtsortes erreicht hatte. So jedenfalls war seine Selbstwahrnehmung und die Wahrnehmung seiner Zeitgenossen, ehe ein gewisser Amerigo Vespucci auf die Idee kam, es sei doch nicht Indien, was er fand, sondern vielmehr ein eigener Kontinent. Genau in diesem Spannungsfeld zwischen Kolumbus’ Indien und Vespuccis neuem Kontinent ist Wolfgang Wisslers Buch verortet. Es geht um Weltgeschichte, um die zentrale Frage: Wer entdeckte denn nun Amerika und wer heimste den Ruhm dafür ein?

Schlägt man Kapitel 1 auf, stehen wir unmittelbar Seite an Seite mit jenem Admiral Kolumbus auf seiner Capitana und denken über Weltgeschichte nach. Kolumbus sitzt mit seiner Mannschaft auf einer Insel fest. Ein Teil der Mannschaft hat gemeutert, das Schiff ist nur noch ein Wrack. Kolumbus blickt auf das Elend: Er will Weltgeschichte machen – mehr noch, er ist bereits Weltgeschichte! Doch kaum jemand erinnert sich noch an seine erste Entdeckungsfahrt, kaum jemand würdigt seinen Ruhm. Ganz im Gegenteil, man neidet ihm seinen Erfolg – und auf der anderen Seite der Welt, in Spanien, ist der große Entdecker den Mächtigen nur noch ein Dorn im Auge. Für so einen ehrgeizigen Mann wie Kolumbus ein schweres, kaum zu ertragendes Los.

Er selbst steht am wurmzerfressenen Wrack der Capitana; es ist zu heiß, elendig, niemand kommt, um ihn zu retten, um ihn zu würdigen. In diesem Augenblick setzt die Erinnerung ein. Damals, 1493: Nach seiner Rückkehr sind in Spanien alle begeistert, er wird empfangen wie ein König, ist auf dem Höhepunkt des Ruhms. Und dann: Ein langsamer Prozess des Vergessens begleitet die nächsten Fahrten und die nächsten Jahre. Jetzt sitzt er einsam und allein auf einer unbedeutenden Insel fest und muss mit aller Kraft seine Mannschaft und die Einheimischen bei Laune halten.

Ausgehend von diesem Setting entwirft Wissler eine rasante Zeit- und Raumreise durch das Leben des großen Entdeckers. In schnellen Schnitten stehen wir immer wieder neben ihm, blicken dann aus anderer Perspektive auf ihn, reflektieren seinen Ruhm, sein Tun, sehen auch die Schattenseiten, aber vor allem das allmähliche Vergessen. Die Handlung wechselt oft zwischen verschiedenen Charakteren, ebenso gibt es Zeitsprünge. Im Hier und Dort, im Jetzt und Damals werden Christophs Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erzählt, reflektiert und kritisiert. Allerdings ist es anfangs nicht immer ganz einfach, bei den schnellen Perspektivwechseln des Autors mit dem Erzähltempo mitzukommen. Plötzlich ist man hier, dann dort. Plötzlich sitzt man am Tisch mit einem Gefährten, einem Freund, einem Kritiker. Dann wieder ist man bei Kolumbus oder begleitet ab Kapitel IV Amerigo Vespucci – den immer mächtiger werdenden Widersacher um den Ruhm, der letztlich nicht nur den gesamten Ruhm der Entdeckung für sich einheimsen wird, sondern nach ihm wird auch der neue Kontinent benannt: Amerigo – Amerika. Für Kolumbus bleibt nur ein kleines Land: Kolumbien.

Aus den verschiedenen Erzählperspektiven setzen sich schlussendlich wie in einem vielteiligen Puzzle Leben, Wirken, Ruhm, aber auch die dunklen Seiten und der schleichende Fall der Zielperson Kolumbus zu einem Gesamtbild zusammen, wobei ab Kapitel IV vor allem der Widerstreit Kolumbus vs. Vespucci die Erzählung vorantreibt. Die Kontrahenten ringen um den Ruhm und Amerigo Vespucci hat immer das bessere Ende für sich. Zumal das zunächst perfekte Kolumbus-Bild immer mehr Risse erhält. Eingeflochten sind gegen Ende nämlich immer häufiger gesellschaftskritische Töne. Im Blickpunkt stehen dabei die Fehler des Entdeckers, die bisweilen rüden Methoden der Landnahme, das Menschenverachtende. Vor allem Gabriel, der Unberührbare, übt scharfe Kritik, denn Kolumbus habe nur „billige Glöckchen, Glaskügelchen, Mord und Totschlag, Zwang, Peitsche, Sklaverei, Schuld, Verdamnis, Krankheiten, Hunger, Leid, Elend“ in die neue Welt gebracht.

In den Schlusskapiteln XI bis XIII kulminieren die Rückblicke in immer dichterer Folge. Kolumbus selbst und auch die Welt sehen, wie er allmählich vergessen wird und gleichzeitig sein großer Weltruhmkonkurrent Amerigo Vespucci den ganzen Ruhm nicht nur für sich beansprucht, sondern auch erhält. Am Schluss „grinst und denkt [Vespucci]: Weltgeschichte zu machen bedeutet oft bloß, zur rechten Zeit ein bisschen dreist zu sein“.

Nach einer spannenden, interessanten, zu Beginn durchaus auch verwirrenden, letztlich rasanten Reise nach Amerika, durch die Zeiten und durch das Leben des Christoph Kolumbus setzt Wissler einen geradezu nüchternen Schlusspunkt: „Ein letzter Blick auf die Hauptpersonen“. Dieser chronistisch-faktische Nachspann verleiht dem Buch endgültig die Aura von Geschichtsschreibung, die man schon beim Lesen geahnt hatte. Allerdings versieht Wissler auch diesen letzten Perspektivwechsel – wie nahezu alles in diesem Werk – mit einem Augenzwinkern, denn „natürlich ist [nicht nur] Gabriel eine Erfindung. Aber er kommt nicht aus dem Nichts“. Alles scheint irgendwie real – oder ist es doch nur Fiktion?

Hier könnte die Geschichte enden, wir sind an den Buchdeckeln angekommen. Kolumbus ist aus der Weltgeschichte gefallen und sein Widersacher Amerigo Vespucci hat Ruhm und Kontinent für sich eingenommen. Allerdings ist die erbitterte Fehde zwischen beiden auch lange nach ihrem Tod noch nicht beendet, denn einige Jahrhunderte später hat sich das Fähnchen der Weltgeschichte einmal mehr um 180 Grad gedreht: Heute kennt wieder jeder Christoph Kolumbus, den großen Entdecker, und von Amerigo Vespucci wissen zumeist nur noch Experten. Doch auch das scheint mitnichten von Dauer. Gerade werden die Kolumbus-Denkmäler gestürzt, denn wir wissen ja: „Mord und Totschlag, Zwang, Peitsche, Sklaverei, Schuld, Verdamnis, Krankheiten, Hunger, Leid, Elend“ …

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Wolfgang Wissler: Kolumbus, der entsorgte Entdecker. Das Desaster des legendären Seefahrers.
Hirzel Verlag, Stuttgart 2021.
192 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783777629162

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