Am Puls der Texte

Michael Maar analysiert in „Die Schlange im Wolfspelz“ die Wirkung großer Literatur

Von Jörn MünknerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörn Münkner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Trefflicher Stil ist mehr als die halbe Miete. Charles Bukowski tönte: „style is the answer to everything“. Recht hat er. Was allerdings sein eigenes Schreiben betrifft, scheint das beinahe kunstlos und ohne besonderen Stil. Seine vermeintliche Kunstlosigkeit bringt aber einen unnachahmlichen Ton hervor, die Texte pulsieren, ein eigenwilliger Stil ist am Werk. Michael Maar würde Bukowskis Statement mit Bezug auf Literatur sicher zustimmen, auch für ihn steckt im Stil der Schlüssel für literarisches Raffinement. 

Maar schlendert lesend durch die Lieblingsbibliothek. Es stellt sich ein, was Dieter Wellershoff ‚das Geflüster vor den Regalen‘ nannte und die sprechenden Bücher meinte, die zum Dialog verführen. Maar will wissen, wie man Atmosphäre durch Sprache erzeugt und durch welche Stilmittel Wirkung entsteht. Die Bücher halten keine Zauberformel parat, aber sie zeigen, wo Stil individuell und unverwechselbar ist. Gäbe es diese Formel und eine klare Antwort, wäre die Gefahr groß, dass das analytische Schlendern von Buch zu Buch zur bierernsten Prüfstrecke wird: ein Text, eine Liste mit Stilkriterien, erfüllt oder nicht erfüllt, Punkt, fertig, aus. Maar hat anderes im Sinn. Er ist der Flaneur im Büchersaal, ist beredt, belesen und kritisch benevolent. 50 Titel zieht er aus dem Regal, blättert, fokussiert und lässt die Sonde mit dem Seziermesser in die Texte hinab. Die freigelegten Strukturen begutachtet er nach Gesamtkomposition, syntaktischen und lexikalischen Eigenarten, Aptum und Balance, Metaphern, Redeformen, Rhetorik und Rhythmik, Zeichensetzung, Kunstfehler. Vergleiche mit anderen Autorinnen und Autoren erzeugen wie Superscope eine Weitwinkelansicht. 

Das Entscheidende des Stils, so Maar, „liegt in dem, was sich nicht wägen, messen, spiegeln, isolieren lässt.“ Recht hat er, keine eindeutigen Kriterien also für stilistischen Erfolg oder Misserfolg. Das erweist sich einerseits als Problem, denn mit Geschmack allein lässt sich kaum objektiv über die unnachahmliche Güte von Büchern entscheiden. Anderseits wird in der Verkostung der Pulsschlag der Texte spürbar; und womöglich auch verständlich, warum ein Text poetisch überzeugt oder nur als Mitteilungsvehikel taugt. Denn das Zur-Wirkung-Kommen von Literatur ist „ein komplizierter chemischer Prozess“, kein Götterwinken (naja, ein bißchen schon). Satzbau, Wortwahl, Rhythmus, Bilder, Manier und Jargon lassen sich identifizieren, „alles muss miteinander reagieren und ineinandergreifen und nur durch Gegenproben, bei denen man einzelne Elemente durch andere ersetzt, könnte man der Formel des Gelingens näher kommen.“ Eine Annäherung an die literarische Qualität ist also möglich, das Geheimnis großer Literatur damit freilich nicht gelüftet, schon klar.

655 Seiten, sechs Hauptteile und ein dicker Anhang für den Probiergang durch die deutsche Erzählkunst, mit Abstechern in die Lyrik. Die ersten drei Kapitel sind das Basislager vor dem Aufstieg zum Gipfel. Stil wird als Kategorie diskutiert und behänd die Leiter der Sprach-Hierarchie genommen: vom Satzzeichen zum Laut, zum Wort, und weiter zur Syntax. Auf mittlerer Höhe wartet der Stollen mit der Trimmanlage für die poetische Anstrengung, d.h. wo der Metapherngebrauch, das Variationsmaß und der Redeanteil trainiert und geschliffen werden, wo die Präzisionsinstrumente für das literarische Raffinement bereitliegen. Das alles wird nicht verkopft, sondern frisch und unterhaltsam dargeboten, stets an Beispielen exemplifiziert und mit Stilvergleich und Literaturquiz zusätzlich aufgelockert. Nur wächst die Ungeduld, endlich zum Plateau der ‚lebendigen‘ Bibliothek aufzusteigen.

Das ist auf Seite 170 erreicht. 50 Miniaturen reihen sich nahtlos aneinander, direkt um die Gipfelspitze herum, auf der ein stilkundliches Feuerwerk entzündet wird. Die Textauswahl ist zum guten Teil kanonischer Höhenkamm: von den Olympiern der Klassik (Goethe, Herder, Schiller), Lessing, den Grimms und Kleist über Gotthelf, Storm und Keller bis zu Werfel, Kafka, Roth, Canetti und Botho Strauß. Hinzu kommen weniger vertraute ‚übliche Verdächtige’ wie Marieluise Fleißer, Felix Salten, Hans Henny Jahnn, Robert Neumann, Regina Ullmann, Leo Perutz, Unica Zürn, Ulrich Becher, Gertrud Leutenegger und Marie-Luise Scherer. Über die Auswahl lässt sich streiten, Maars ist von seinen Vorlieben, Desinteressen und Abneigungen bestimmt, aber sie ist so repräsentativ, wie es die Stilvermessung der deutschsprachigen Literatur, die so viele bemerkenswerte Talente und Titel besitzt, nahelegt. Als ausgewogen darf das Verhältnis von weiblichen und männlichen Autoren gelten, das bei ca. 40 zu 60 liegt. Und das steht fest: Der Stil-Gipfelbezwinger Maar bringt in seiner Auswahl viele Glitzersteine zum Vorschein! 

Maar schlägt die Werke zielsicher an der Stelle auf, wo sie – zum Guten wie zum Schlechten – ihre stilistische Eigenart offenbaren. Er seziert nicht kleinkariert, sondern legt beherzt offen. Was rhetorisch und bildsprachlich nicht funktioniert, was mangelhaft ist und stilistisch nicht überzeugt, wird benannt, ebenso stilistische Brillanz erörtert, bestaunt und gepriesen. Die Urteile sind teilweise streng, auch provokant (Fontane als „Dialog-Plaudertasche“, der „kongeniale Borderliner“ Clemens J. Setz), aber sie sind sämtlich hergeleitet. Es gibt keine Totalverrisse, jedem Text wird Respekt gezollt, wenngleich mit großen Abstufungen. Maar interessieren auch die Anschlussstellen der Texte an die Welt und ihm gelingt es oft, die geistige Physiognomie der Verfasser, wie sie sich im Stil und der Haltung der Texte offenbart, plausibel zu rekonstruieren.

Das Buch ist eine Dozentur rezeptions- und produktionsästhetischen Könnens. Den Duktus dominiert ein entspannter, fast plauderhafter Ton, gespickt mit Zitaten, Anekdoten, persönlicher Meinung, konjunktivischem Dafürhalten, wohl dosiertem Klatsch, Bestaunen und Bewundern wie Unverständnis. Das Dozieren entspringt keinem Lehrauftrag, sondern ist Überlauf der eigenen Faszination für Literatur. Und so ist Maar höchstselbst ein Stilbildner und Afficionado poetischen Sprechens, man kann ihn als metapoetischen Poeten bezeichnen. Er beobachtet genau, beherrscht Verdichtung (650 Seiten benötigt er dennoch für seinen Bibliotheksgang), und seine Ausführungen sind wohlgeformt. Bildhaftes Sprechen („Stil-Tattoo“, „Wortgeklingel an Anschauungslosigkeit“, „Craquelé-Muster aus Äderchen und Rissen wie auf alten Keramikflächen“, wenn es um eine spezifische Schreibweise geht) kennzeichnet seinen lebendigen Freistil; meisterhaft sind auch seine ‚Übersetzungen‘ des erotisch Pikanten bei Hölderlin, Kleist und Thomas Mann bis zu Heimito von Doderer, Arno Schmidt und Musil.

Die Lektüre ist poetisch so reizvoll, dass man viele Formulierungen anstreicht, um sie ins eigene Vokabular zu übernehmen. Das Buch ist ein Container von Belesenheit mit steilen Zugängen zu jenem literarischen Plateau. Es wirft keinen Brandsatz in die germanistische Debatte um Stil. Stattdessen werden robuste und raffinierte Personalstile einer heterogenen Gruppe von Autorinnen und Autoren klug differenziert und intensiv gefeiert.

Titelbild

Michael Maar: Die Schlange im Wolfspelz. Das Geheimnis großer Literatur.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2020.
608 Seiten , 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783498001407

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