Mit dem Reiseschach auf den Spuren von Geistesgrößen

Der spanische Autor Vicente Valero begibt sich in „Schachnovellen“ an literaturgeschichtlich bedeutsame Orte

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Erkenntnis des Ich-Erzählers Vicente Valero, dass jeder Reisende sich auf seine Reisen mitnimmt, gilt auch für ihn selbst. Anders als Walter Benjamin hat er nicht „Unbehagen und Unglück“ im Gepäck, sondern reiches Wissen über deutschsprachige Größen des europäischen Geisteslebens, von Benjamin und Brecht über Nietzsche und Kafka bis zu Rilke. Um sie alle geht es in diesem Buch.

Das ständig mitgeführte Reiseschach, von einem Onkel geerbt und mit weißen und roten Figuren versehen, ist kein bloßes Requisit. Mit ihm werden unterwegs Kontakte hergestellt und vertieft. Valero hat gründlich über das Schachspiel nachgedacht und nennt es das ehrlichste, aber auch grausamste aller Spiele. Stellvertretend für den Krieg kann Schach jedoch nicht stehen, weil kein Krieg mit einem Remis endet.

Vicente Valero bietet seine Kenntnisse europäischen Geisteslebens in meisterhaften essayistischen Betrachtungen inmitten anschaulicher Reisebeschreibungen dar. Städte und Landschaften betrachtet er mit scharfem, historisch geschultem Blick. Die schwungvollen Satzkonstruktionen, manchmal ein Dutzend Zeilen lang, verleugnen nicht, dass der Autor auch Lyriker ist. Der Übersetzer Peter Kultzen hat all dies vorzüglich ins Deutsche gebracht.

Die erste Reise führt auf einem Umweg ins dänische Svendborg auf der Insel Fünen, wo Bertolt Brecht mehrere Jahre zubrachte und dreimal von Walter Benjamin besucht wurde. Ein Foto zeigt die beiden am Schachtisch, und genau dort präsentiert Vicente Valero in einem „Lokaltermin“ die unterschiedlichen Auffassungen der beiden über Franz Kafka und über die Gesellschaftsordnung der Zukunft.

Auf der zweiten Reise geht es in die als gepflegt, kalt und aristokratisch beschriebene Stadt Turin. Angeblich, weil gerade ein günstiger Flug angeboten wird, doch die Kapitelüberschrift lässt anderes vermuten: Warum ich so gute Ziele wähle ist eine Anspielung auf Friedrich Nietzsches Ecce homo mit Zwischentiteln wie Warum ich so weise bin. Um dieses in Turin vollendete Werk geht es denn auch. Valero betrachtet die in der Zeit des Faschismus angebrachte Gedenktafel für Nietzsche. Er weiß, dass dieser Denker und Dichter jedem Nationalismus und Antisemitismus fernstand, dass ihn aber seine philosophische Zerstörungswut anziehend für die Nazis machte. Obwohl kein Nietzscheaner, erinnert sich der Autor an seine frühe und oft wiederholte Lektüre von Ecce homo. Das Nachdenken über Nietzsches Bekenntnis, er wolle lieber Satyr als Heiliger sein, beendet er abrupt: „Genau an dieser Stelle schlief ich, glaube ich, ein […]. “

Bayern ist Ziel der nächsten Reise. Der Autor begegnet in Augsburg bei einer Lesung und später am Schachbrett einem deutschen Arzt, der verrückt wurde und seinen Beruf nicht mehr ausüben konnte. Kein Wunder bei seiner Familiengeschichte: Der Vater verlor als KZ-Arzt den Verstand und wurde hingerichtet; der Stiefvater war tyrannischer Nazi.

Auf der Fahrt zum Münchner Flughafen kommt Valero am KZ Dachau vorbei, einer Sehenswürdigkeit, „wie ich sie um nichts in der Welt würde aufsuchen wollen“. Seine Gedanken gehen zu Franz Kafkas Erzählung In der Strafkolonie, in der er „eine Vorwegnahme der grauenvollen Lager“ sieht. In München hatte Kafka diese Erzählung in einer Lesung vorgestellt, was Valero veranlasst, nicht ins Flugzeug zu steigen, sondern zu Fuß auf die Suche nach Kafka zu gehen. Manches in der Stadt erinnert ihn an Walter Benjamin und die Maler Paul Klee und Franz Marc. Er setzt sich in Bezug zu den Träumen, Wünschen und Ängsten jener Denker und Künstler. Akribisch und einfühlsam verfolgt er Spuren dessen zurück, „was in der Dunkelheit ineinanderfließt“.

Zu seinem 50. Geburtstag beschenkt sich der Autor mit der Reise zu einem bedeutenden Schachturnier in Zürich, wozu er sich als Schachjournalist ausgibt. Er denkt über neue Spielregeln nach, die der Dame auch Springerzüge ermöglichen würden, besucht das „Cabaret Voltaire“, Ursprungsort des Dadaismus, beobachtet kennerhaft mehrere Turnierpartien und gibt vor einem Ruhetag drei Worte bei Google ein: Berg am Irchel. Sofort entschließt er sich zum dreißig Kilometer langen Ausflug in das winzige Dorf im Bezirk Andelfingen des Kantons Zürich. Dort ließ sich Rainer Maria Rilke im November 1920 im „Schloss“ genannten Gutshaus nieder, um die zehn Jahre zuvor begonnenen Duineser Elegien zu beenden, was ihm erst später im Wallis gelang.

Dieses Kapitel dürfte für manchen Leser der Höhepunkt des schmalen gewichtigen Buches sein: eine eigenwillige Mischung aus biographischen und psychologischen Betrachtungen zu Rilke, liebevoll genauer Landschaftsschilderung und unerschrockener Beschreibung eigener Befindlichkeiten. Freudig und dankbar lesen wir, wie der Autor „Zusammenhänge aus der Vergangenheit“ bündelt und vor uns ausbreitet. Dabei ist er doch „nur“ zu einem Schachturnier gefahren. „Wie die Schachgroßmeister seit jeher sagen: Es ist und bleibt ein Geheimnis, wohin eine Partie einen führen kann.“ Gern sähe man Vicente Valeros Gesichtsausdruck, wenn er am Buchende darüber staunt, dass er zu Unterhaltungen über das Schachturnier etwas beitragen kann, als wäre er „letztlich eben doch ein auf Monomanien spezialisierter Journalist“.

Im spanischen Original heißt das 2018 erschienene Buch Duelo de alfiles, also Läuferduell oder Läuferendspiel. Ähnliches wäre im Deutschen ratsam gewesen – die Schachnovelle soll ungeteilt der Titel des bekanntesten Werks von Stefan Zweig bleiben, aus dem Vicente Valero  übrigens zitiert.

Titelbild

Vicente Valero: Schachnovellen.
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen.
Berenberg Verlag, Berlin 2021.
128 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783946334897

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch