Der Ideendieb

John Boynes Roman „Maurice Swift. Die Geschichte eines Lügners“ dreht sich um die Frage, warum zu schriftstellerischem Können auch und vor allem eine spannende Geschichte gehört

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine beliebte Frage aus dem Publikum, wenn Schriftstellerlesungen sich ihrem Ende zuneigen, lautet: Woher nehmen Sie eigentlich all die tollen Ideen für Ihre Bücher? Maurice Swift, der Held von John Boynes neuem Roman, lässt die Antwort auf diese Frage gerne offen. Denn keine der Geschichten, die ihn schon in jungen Jahren zu einem renommierten, international gefeierten Schriftsteller haben werden lassen, stammt von ihm selbst.

Dabei kann der Mann durchaus schreiben, verfügt über einen mehr als passablen Stil und kennt sich aus in und mit der Literatur. Nur die Geschichten, auf die er seine literarischen Talente verwenden könnte, fehlen ihm. Sein Weg zum erträumten Leben eines Starautors – Boynes Roman heißt im Original A Ladder to the Sky –, führt deshalb notgedrungen über die Erlebnisse anderer. „Ideendiebstahl“ nennt man das landläufig.

Doch für Maurice Swift ist die Aneignung fremden Lebens, seiner Höhen und Tiefen, Siege und Niederlagen, Freuden und Skandale kaum mehr als ein Kavaliersdelikt. So rücksichts- wie skrupellos macht er sich die Biografien der ihm begegnenden Menschen zu eigen. Und wenn sich kein Mehrwert mehr aus einem seiner Opfer pressen lässt, bleibt es in der Regel als beschädigte, in mehreren Fällen sogar gänzlich vernichtete Existenz hinter dem zynisch seinen Weg weiterverfolgenden Mann zurück.

Die Geschichte eines Lügners hat Boyne in drei Teile und zwei kurze „Zwischenspiele“ unterteilt. Die längeren Textabschnitte werden jeweils von einer Romanfigur aus der Ich-Perspektive erzählt, die beiden kürzeren, verbindenden Passagen auktorial dargeboten. Ist es in Teil 1 der in Deutschland geborene Schriftsteller Erich Ackermann, der dem als Kellner in einem Berliner Nobelhotel arbeitenden Maurice Swift eine kompromittierende Episode aus seinem Leben anvertraut – aus Eifersucht hat der junge Ackermann in den 30er Jahren einen engen Freund und dessen Familie bei der Gestapo denunziert –, die der dann zu seinem ersten, überaus erfolgreichen Roman mit dem Titel Zwei Deutsche ausbaut, begeht Boynes Held in Teil 2 einen noch schlimmeren Verrat an der Frau, die er geheiratet hat und vorgibt zu lieben.

Edith Camberley stellt sich dem Leser als aufstrebende Autorin vor. Nachdem bereits ihr Romandebüt ein großer Erfolg war, arbeitet sie gerade an ihrem zweiten Buch und verdient sich ihren Lebensunterhalt derweil als Leiterin von Creative-Writing-Kursen an der Universität von Norwich. Als Leser ahnt man schnell, dass Swift, der nach Zwei Deutsche nur noch Flops auf dem Buchmarkt gelandet hat und dementsprechend eifersüchtig auf die gerade Schwung aufnehmende Karriere seiner jungen Frau ist, vor der Aneignung von deren geistigem Eigentum nicht zurückschrecken wird.

Mit welch abgrundtiefem Zynismus er seinen Plan dann in die Tat umsetzt und das Edith gegenüber schlussendlich auch begründet, zeigt nicht nur, dass er keinerlei Unrechtsbewusstsein besitzt, sondern sorgt auch dafür, dass seine Ehe, die trotz aller Anstrengungen kinderlos geblieben ist, durch seinen Verrat an ihr Ende kommt. John Boyne lässt es eines mit Schrecken sein und macht aus dem Ideendieb nun auch noch einen eiskalt berechnenden Mörder. 

Im dritten und letzten Abschnitt des Romans schließlich kommt Boynes Held selbst zu Wort. Aus New York, wo er eine Zeitschrift gegründet hatte, die er vor allem dazu benutzte, die eingesandten Geschichten junger und noch unbekannter Autoren nach ihrer Eignung anzusehen, als Grundstock für eigene Romanprojekte zu dienen, holen ihn die Sünden der Vergangenheit schließlich ein. Wie einst Erich Ackermann und Edith Camberley auf ihn hereingefallen waren, wird Maurice nun zum Opfer eines Mannes, der sich in seine Gesellschaft unter dem Vorwand schmeichelt, eine Biografie über ihn schreiben zu wollen.

Im Gefängnis, in das ihn die Enthüllungen bringen, mit denen das Buch dieses Mannes die literarische Öffentlichkeit schockiert, bleibt Maurice Swift sich freilich auch weiterhin treu. Als Leiter einer Schreibwerkstatt für seine Mitgefangenen nutzt er die Chance, sich ein weiteres fremdes Leben anzueignen, aus dem er dann einen eigenen Roman macht. Und der könnte es sogar schaffen, Swifts Lebenstraum, einmal den (Booker-)„Prize“ verliehen zu bekommen, wahr werden zu lassen.     

Der Ire John Boyne, weltberühmt geworden mit dem für junge Leser*innen geschriebenen Buch Der Junge im gestreiften Pyjama (2006, deutsch 2007) – mit Der Junge auf dem Berg erschien 2015 (deutsch 2017) das literarische Gegenstück zu diesem inzwischen auch verfilmten Roman –, besitzt etwas, das man bei zu vielen seiner deutschsprachigen Kollegen vergeblich sucht: eine bewundernswerte Leichtigkeit im Umgang mit seinem Stoff. Und auch wenn das gelegentlich dazu führt, dass es der Geschichte und den sie tragenden Charakteren etwas an Tiefe zu fehlen scheint, bleibt man als Leser doch gefesselt von der ersten bis zur letzten Seite.

Nicht wenig tragen dazu die geschickten Perspektivwechsel zwischen den einzelnen Romanabschnitten bei. Auch mit der Untergliederung der drei Hauptteile ist Boyne ein kleines Kunststück gelungen. Zunächst folgt man der verhängnisvollen Entwicklung des Verhältnisses zwischen dem erfolgreichen Schriftsteller Erich Ackermann und dem ambitionierten Möchtegern-Autor Swift, indem man die beiden auf eine halbjährige Lesereise durch Europas Metropolen begleitet. Dazu hat der offen homosexuelle Ackermann seinen jungen Bewunderer in der Hoffnung eingeladen, mehr zu bekommen als nur dessen Aufmerksamkeit. Der Verrat an Edith Camberley vollzieht sich dann im zweiten Romanteil in sieben Unterkapiteln, die als Überschriften die Namen der letzten Monate tragen, in denen das Ehepaar in Norwich zusammen ist.

Das sich daran anschließende Kapitel 8 überrascht mit einer Erzählerinnenstimme, wie sie nur selten in der Literatur zu vernehmen ist und auf die hier um der Spannung willen nicht weiter eingegangen werden soll. Dass der Alkohol zu Maurice‘ bestem Freund geworden ist, nachdem er aus den USA nach Großbritannien zurückgekehrt ist, deuten schon die ersten sechs Kapitelüberschriften des dritten Teils an. Sie nennen Namen und Ort von sechs bekannten Londoner Pubs, in denen sich Boynes Held mit seinem Biografen Theo Field trifft. 

Etwas aus dem Rahmen der übrigen Erzählung fällt im Übrigen das erste Intermezzo. Zwischen den Buchteilen eins und zwei platziert, spielt die Handlung 1990 im italienischen Ravello, einem kleinen Ort an der Amalfiküste. Hier lebt der Schriftsteller, Schauspieler und Politiker Gore Vidal (1925 – 2012) gemeinsam mit seinem Partner Howard Austen auf seinem Anwesen La Rondinaia. Er ist bei seinem Fiktion und Realität geschickt miteinander verknüpfenden Auftritt innerhalb dieses Romans der Einzige, der nicht von Anfang an auf den falschen Charme von John Boynes skrupellosem Emporkömmling in der Welt der Bücher hereinfällt. Gerade weil er aus Erfahrung „um die Macht hübscher Jungen über alternde Homosexuelle“ weiß, ist er auf der Hut und durchschaut Maurice‘ Spiel von Anfang an:

„Er kannte Jungen wie Maurice nur zu gut. Nachdem er als junger Mann mit seinen Büchern den ersten Erfolg gehabt hatte, waren sie plötzlich von überall angekrochen gekommen und hatten sich wie Kletten an ihn gehängt, bloß um sich dann, sobald sie sich selbst einen Namen gemacht hatten, wieder von ihm abzuwenden.“

Es ist Swifts Methode, die hier beschrieben wird, aber dieses eine Mal ins Leere läuft. Und doch vermag Gore, wie ihn der Roman nennt, sich zwar vor einem ähnlichen Schicksal wie all die anderen Opfer Swifts zu schützen. Die offene Verachtung, mit der er ihn aber am Ende von dessen Besuch behandelt – „Sie […] sind eine Schande für den guten Ruf des Gewerbes“ –, gibt er ihm auf seinen weiteren Lebensweg mit. Sie scheint bei dem aber nur die letzten Skrupel zu beseitigen und den Weg vom kleinen Betrüger zum Verbrecher um der Karriere Willen erst recht zu öffnen.

Titelbild

John Boyne: Die Geschichte eines Lügners.
Aus dem Englischen von Maria Hummitzsch und Michael Schickenberg.
Piper Verlag, München 2020.
432 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783492059633

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