Der Herrscher neue Kleider?

In einem opulenten Werk zeigt Grischa Vercamer „Hochmittelalterliche Herrschaftspraxis im Spiegel der Geschichtsschreibung“ auf und lässt damit zumindest implizite Anknüpfungen an die Gegenwart zu

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist schon verwunderlich – oder es entspricht der von Georg Forster in der Einleitung zu seiner Beschreibung der Forschungsfahrten unter James Cook erwähnten ‚Wahrnehmungsbrille‘, also der von eigenem Empfinden vorgegebenen Erwartungs- und Erkennenshaltung –, dass die Mediävistik zurzeit immer wieder von Veröffentlichungen geprägt wird, die auf die eine oder andere Weise höchst aktuelle Themen aufgreifen und in denen ein Blickwinkel zum Tragen kommt, der durchaus in der Gegenwart Anwendung finden könnte.

Und so scheint es, zumindest auf den ersten Blick, auch mit vorliegender Publikation zu sein, denn der Untertitel des umfangreichen Buches verweist auf ‚gute[…]‘ und […] ‚schlechte[…]‘ Herrschaft in England, Polen und dem Reich im 12./13. Jahrhundert. Offenbar war bereits lange vor Max Weber die Frage nach unter anderem herrscherlicher Legitimation, die mit dem Attribut ‚gut‘ konnotiert, ein wesentliches Thema. Gerechtigkeit, Effektivität, Weitsicht sind Stichworte, die bereits im Mittelalter mit der Erwartung an ein gutes Regime synonym waren; die zugrunde liegenden Parameter waren freilich ganz andere. Erwartungshaltungen ergeben sich natürlich auch heute, und so ist die aktuellste Anknüpfungsmöglichkeit, die Passionszeit des Jahres 2021, als Referenz zwar dem Rezensenten und nicht dem Verfasser des Werks geschuldet, aber auch schon das zurückliegende Corona-Jahr 2020 ließ Zweifel am Handeln der Regierenden nicht immer nur irrational erscheinen. Und es scheint, wenngleich bedingt durch andere kulturell-gesellschaftliche Parameter, dass ein Missbehagen mitunter auch im Mittelalter nicht nur empfunden, sondern durchaus auch formuliert, niedergeschrieben und damit über die Zeiten hinweg gerettet wurde – wohlgemerkt unter anderen Vorzeichen und mit anderen Idealvorstellungen, was Persönlichkeit und Handlungsprämissen der Herrschenden betrifft.

Da nun gewisse Parallelen oder zumindest Anknüpfungspunkte zwischen Einst und Jetzt gegeben sind, ließe sich hier kaum mit der kongenial-kultigen Truppe Monty Python formulieren: „And now for something completely different!“ Einfach deshalb nicht, weil Erwartungen und Wirklichkeit in der Politik und deren Rezeption nicht so gänzlich anders waren, als sie es auch heute noch sind. Ob derlei dem Verfasser des Buches, Grischa Vercamer, durch den Kopf ging, als er sich an sein Mammut-Projekt setzte, kann nur spekuliert werden. Zumindest ist es möglich, diese Publikation als eine Basis zum weiteren Diskurs über Funktion und Rezeption von Herrschaft im Mittelalter, aber eben nicht nur in dieser Zeit, zu verstehen – und dann letztlich auch in diesem Sinne ‚anzuwenden‘.

Hochmittelalterliche Herrschaftspraxis ist die überarbeitete und veröffentlichte Form von Vercamers an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder eingereichten Habilitation. Das Herantasten an das Thema, das im Vorwort so plastisch beschrieben wird, hat, und das ist nicht negativ gemeint, durchaus seine Spuren in der Arbeit hinterlassen. Manches ist dementsprechend für das Lektüreverständnis erst einmal weniger wichtig. Diese ‚Nebengleise‘ sind jedoch keineswegs mit Gleisstillegungen zu vergleichen, denn es ist eben nicht etwas Überflüssiges, das keinen Wert besitzt, sondern sie erweisen sich als ‚Parkmöglichkeit‘ für Aspekte, Methoden oder anderes, was für die vertiefende Arbeit an Thema und Text dann wiederum recht bedeutsam ist.

Dem Arbeitsaufwand und dem daraus resultierenden Buchumfang geschuldet ist neben einer eher knapp anmutenden, aber bereits wichtige Stationen der Arbeit benennenden Einleitung dann eine erstaunlich umfangreiche und detaillierte Fort- beziehungsweise Weiterführung derselben. Auf knapp 60 Seiten werden die zuvor angegebenen Ziellinien sorgfältig und in insgesamt sieben größere Unterpunkte aufgeschlüsselt ausgeführt, erläutert und hinsichtlich ihrer Relevanz begründet. In diesem Kontext werden zum einen naheliegende Aspekte wie etwa die Wahl des Zeitraumes der Betrachtungen oder die Beispielterritorien explizit begründet. Hier geht es zum einen um eine Epoche, die in gewissem Sinne eine Epoche des Aufbruchs und des Wandels war, zum anderen werden wesentliche Akteure, die vergleichbare Sozial- und Kulturstrukturen aufweisen, als eine gewissermaßen europagültige Referenz ausgewählt. Theoretischer sind die weiteren Punkte, in denen etwa Herrschaftstheorien in Mittelalter und Moderne, Herrschaftsbilder seit der Antike, ‚Rituale‘, narratologische Aspekte und das Feld der Topik angesprochen sind. Auf einer Metaebene bewegen sich die Einleitungskapitel, die sich mit der Systematik der Zuordnung von herrscherlichen Aspekten und der Erfassung sowie Auswertung der Quellenstellen in einer Datenbank befassen.

Auf dann nochmals etwa 60 Seiten stellt Vercamer seine Auswahl an tragfähigen Quellen vor und erläutert bei dieser Gelegenheit auch noch wesentliche Parameter dieser Wahl. Dankenswerterweise sind in diesem Zusammenhang auch Betrachtungen der den Quellen und Quellenabschnitten zugrunde liegenden historischen Daten eingebunden, sodass es nicht nur bei einer Meta-Begründung der Textauswahl bleibt, sondern zusätzliche Informationen geliefert werden, die als zielführende Informationen für den weiteren Argumentationsverlauf anzusehen sind. Dies ist insbesondere bei historischen Ereignissen wesentlich, die nicht unbedingt in einem zentraleuropäischen Fokus stehen und mithin weniger bekannt sein dürften.

Dieser Ansatz wird im daran anschließenden tragenden Kapitel unter der Überschrift „Herrschaftspraxis: Voraussetzungen und Strukturen“ noch einmal vertiefend aufgegriffen, indem nach einer knappen Aufzählung der relevanten Parameter die „allgemeinen Strukturen in England, Polen und dem Reich“ vorgestellt und diskutiert werden. Dadurch werden die eben angesprochenen Basisinformationen zu den entsprechenden Rahmenbedingungen nochmals verdichtet, die hier aufscheinende Redundanz mag als Aspekt einer vertiefenden Zugangseröffnung gesehen werden und ist sicherlich auch so intendiert.

Der eigentliche Hauptteil des Buches beschäftigt sich mit den „Tätigkeitsfelder[n] der Herrschaftspraxis“, die durch die Analyse der „Vorstellungen von Herrschaft“ in den verschiedenen herangezogenen Textquellen erfolgt. Der Verfasser hat hier acht Kriterien in den Blick genommen, die den Herrschenden in unterschiedlichen Rollen beziehungsweise Rollenfunktionen zeigen. Dies sind die Funktionen des Herrschenden sowie allgemein der staatstragenden ‚Politelite‘ als:

1. Richter,

2. ‚Verwalter‘ (das heißt administrative und entpersönlichte Aspekte des Herrschens und Regierens; etwas, was am ehesten mit gegenwärtiger Politik zu verbinden wäre),

3. Politiker/Diplomaten in Beratungssituationen,

4. Gesetzgeber,

5. Repräsentanten der Herrschaft (im Rahmen einer Inszenierung von Macht – hier wäre eine Anknüpfung an Max Webers „Herrschaftslegitimation“ naheliegend),

6. Kämpfer beziehungsweise Heerführer,

7. fromme Politiker sowie

8. das eher konglomeratisch-unscharfe Summieren von Charaktereigenschaften, Habitus und Gewohnheiten des Herrschers.

Zumindest zwei der gewählten Aspekte haben auch in der gegenwärtigen Beurteilung der Exponentinnen und Exponenten in Regierung und Politik ihren Platz. Die deutlich personalen Komponenten allerdings gehören heutzutage allenfalls in den Interessensbereich der Yellow Press und nicht in den Fokus seriöser Politikdarstellung und Bewertung, dies gilt auch für die angesprochene kriegerische Funktion – hier wird deutlich, dass die vormodernen Standards deutlich andere Schwerpunkte ansprachen beziehungsweise diesen gerecht werden mussten.

Gewissermaßen ‚durchdekliniert‘ werden diese Kategorien anhand insgesamt sechs chronistischer Quellen. Für England sind dies Wilhelms von Malmesbury Historia Novella sowie die Chronica Rogers von Howden. Der polnische Bereich wird durch die Chronica et gesta ducum sive principum Polonorum (Gallus Anonymus) und die Chronica Polonjorum (Vincentius Kadlubek) abgedeckt. Für die Verhältnisse im Reich sind neben der anonymen Chronica Welforum die von Otto von Freising und ergänzend von Rahewin zusammengestellten Gesta Frederici seu rectius cronica die für die Beurteilung herrscherlichen Handelns herangezogenen Texte. Aus diesen Rahmenbedingungen destilliert der Verfasser dann eine Zusammenstellung der Erwartungen an gute respektive schlechte Regentschaft in den drei für seine Arbeit in den Blick genommenen Territorien heraus, wobei hier auch ein Fokus auf die jeweiligen narrativen Schreibstrategien gelegt wird.

Grundsätzlich werden die Ergebnisse eher selten in wertendem Habitus vorgestellt, gleichwohl kommt der Verfasser am Ende des Kapitels über gute beziehungsweise negative Aspekte von Herrschaft nicht umhin, auf die gegenüber den ‚moderneren‘ Gebieten vor allem im Westen (England, Frankreich) eher konservative und damit letztlich auch rückständige Situation des Reiches hinzuweisen, die zur Folge hatte, dass Vorgänge zu einer höheren Effizienz etwa in Verwaltung und Bildungswesen nicht angestoßen wurden. Interessant ist hier auch der Verweis darauf, dass dieser Umstand durch verschobene Akzentuierungen der Chroniken sowie geschickte Ausblendungen zwar verschleiert werden sollte (und wohl auch konnte), was aber am suboptimalen Zustand natürlich nichts änderte. Gerade solche Erkenntnisse gehören zu den faszinierenderen Abschnitten dieses Buches und eröffnen perspektivische Möglichkeiten, sich tiefer in das Feld mittelalterlicher Herrschaftsdarstellung und -rezeption zu vertiefen. Hierfür bietet der größere Teil des 350 Seiten umfassenden Anhangs in Form von Quellenbelegen aus den herangezogenen Chroniken auch das Basismaterial.

Was bleibt nun als Gesamteindruck? In einer akribischen Fleißarbeit hat Grischa Vercamer seine Referenzvorgaben an die jeweiligen Chroniken angelegt, und es ist ihm dabei nicht nur gelungen, eine mehr als solide und breit gefächerte Basis an Belegen zusammenzustellen, sondern diese adäquat in ein zielführendes Interpretationsschema zu stellen. Herausgearbeitet werden Parallelen, aber auch regionale und ‚nationale‘ Unterschiede – es erscheint mir allerdings zumindest nicht unproblematisch, im engeren, also politisch auch heute noch gültigen Sinne vor der Moderne die Begriffe ‚Nation‘, ‚Nationalstaat‘ und auch ‚national‘ zu verwenden, da allein schon die administrativen Strukturen der jeweiligen Herrschaftsgebiete im Mittelalter bei allen Ausdifferenzierungen im Verwaltungshandeln doch auf anderer Grundlage beruhten.

Wie steht es mit der eingangs angesprochenen ‚Tagesaktualität‘ des vorliegenden Buches? Mitunter hilft in der Tat das Weiterlesen, um entsprechende Blickwinkel zu relativieren, und so soll auch hier eine Teilrevision der eingangs getätigten Aussagen erfolgen. Die Hochmittelalterliche Herrschaftspraxis im Spiegel der Geschichtsschreibung ist zweifelsohne eine akkurat erarbeitete Studie zu den politisch-historischen Quellen der zeitgenössischen Betrachtung herrscherlichen Regierens im Mittelalter. Die dabei aus- und nachgewiesenen Parameter ergeben ein konsistentes Gewebe, durch das sowohl der tatsächliche historische Ablauf erkennbar wird als auch – und das dann in noch größerem Maße – die Erwartungen und Wertungen, die sich aus der Realgeschichte ergaben.

Die Zielsetzung des Verfassers war es ja auch, ein „Bündel von Methoden“ im Hinblick auf die Herrscherchroniken des späten Früh- und Hochmittelalters zur Anwendung zu bringen und daraus explizite Erkenntnisse für jene Epoche zu erzielen. Die Stringenz der Umsetzung dieser Methoden respektive deren Anwendung in einem größeren Kontext ließe sich, so die Hoffnung Grischa Vercamers, dann gewissermaßen als gültiger Referenzrahmen für die Bewertung von Herrschervorstellungen – zu denken ist hier dann wohl doch eher an Herrschaftsvorstellungen – in der Vormoderne verwenden. Das Ergebnis dieser erweiterten Anwendung auf andere Epochen und Konstellation, ein Kanon zum Thema des Regierens gewissermaßen, wäre dann eine Basis, die „sicherlich einige interessante Einblicke auch für die modernen Epochen bieten würde“. Ein ‚pädagogischer Exkurs‘ hätte hier oder an anderer Stelle womöglich durch direkten Vergleich einen Fokus auf die weiterhin gültigen beziehungsweise gewandelten Parameter idealtypischer (oder auch idealtypisierender) Herrschaft ermöglicht. So hätte der letztlich eher vage als Potentialis in den Raum gestellte Verweis auf grundsätzliche Vergleichsmöglichkeiten zwischen der Idee vom Regieren im Mittelalter und dem Regieren in der Neuzeit aussagekräftiger dargestellt und unterfüttert werden können.

Der exorbitant hohe Arbeitsaufwand ist dem Buch auf den ersten Blick anzusehen; hier wurde mit äußerster Umsicht und Sorgfalt eine umfangreiche Quellenbasis nicht nur ausgewertet, sondern zunächst auch erst einmal zusammengestellt. Dies kann nicht hoch genug bewertet werden, hat dabei aber eben auch einen eher sperrigen Charme, der die Lektüre nicht immer einfach macht. Wer sich für die Hochmittelalterliche Herrschaftspraxis entscheidet, weiß, was sie oder er sucht – Zufallskäufe sind hier nahezu ausgeschlossen, was allerdings auch schon durch den üppigen Preis bedingt ist. Das Buch ist demzufolge wohl eher ein archetypischer ‚Bibliothekenseller‘ und wird in diesem Kontext gewiss als Vademecum bei methodischen Fragen und gern genutzte Quellenbasis für die Zeit des Hochmittelalters dienen.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Grischa Vercamer: Hochmittelalterliche Herrschaftspraxis im Spiegel der Geschichtsschreibung. Vorstellungen von „guter“ und „schlechter“ Herrschaft in England, Polen und dem Reich im 12./13. Jahrhundert.
Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2020.
XII, 792 Seiten, 98,00 EUR.
ISBN-13: 9783447113540

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