Von Goethe zu Heine

Der zweite Band der Kritischen Gesamtausgabe erschließt Hannah Arendts „Rahel Varnhagen“-Biographie

Von Maria BehreRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maria Behre und Michael SzczekallaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Szczekalla

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rahel Levin Varnhagens Geburtstag am 19. Mai 1771 ist Anlass genug, Hannah Arendts Anfang der dreißiger Jahre begonnene Rahel-Biographie neu zu lesen. In ihrer Habilitationsschrift erweist Arendt die Unmöglichkeit von Assimilation. Methodisch arbeitet sie durch eigene Quellenerschließung von Handschriften des Varnhagen-Archivs, das sich damals in der Preußischen Staatsbibliothek zu Berlin befand. Ihre Analyse umfasst sowohl die Epochen, die die beiden Salons der „größten Frau des Jahrhunderts“ (Julius Rodenberg, 1854) einschließen, als auch die direkte Rezeptionsgeschichte im Varnhagenschen Kreis bis 1880, dem Tod der Nichte Ludmilla Assing, also die Zeit von der Aufklärung bis zum Realismus. Damit nimmt Arendt zugleich auch eine entscheidende Phase der Goethe-Rezeption und Goethe-Forschung einer deutsch-jüdischen Leserschaft bis in ihre Gegenwart der Jahre 1932/33 in den Blick.

Im zweiten Band der neuen kritischen Gesamtausgabe des Wallstein Verlages finden sich neben dem Berliner Manuskript aus den frühen dreißiger Jahren sowohl die zunächst bei Piper erschienene Fassung des Textes als auch die auf Betreiben des Leo Baeck Instituts publizierte englische Übersetzung. Wer gründlich arbeiten möchte, kann sich also jetzt mithilfe aller drei Textfassungen auf geradezu komfortable Weise in die von Arendt ganz aus den brieflichen Zeugnissen heraus entfaltete Lebensgeschichte Rahel Varnhagens hineinfinden. Arendts Darstellung folgt trotz ihres unbestreitbaren wissenschaftlichen Fundaments einem starken autobiographischen Impuls („Das Mädchen aus der Fremde“) und spricht Werturteile aus, die nicht schon deshalb unangemessen sind, weil sie nicht den Schreibkonventionen einer akademischen Qualifikationsschrift folgen.         

Dabei hatte man der Autorin einst vorgeworfen, sie schreibe ohne Einfühlungsvermögen und viel zu distanziert über die jüdische Salonnière – ein Fehlurteil, das sich zugegebenermaßen erst nach Erlangung eines vertieften Verständnisses der Gesamtkonzeption der Biographie, dafür dann aber umso nachhaltiger entkräften lässt. Gleiches dürfte für die Einschätzung gelten, es handele sich bei diesem Werk lediglich um eine Art Vorprodukt. „The material is all there; it needs only to be fleshed out“, schreibt ein Rezensent nach Erscheinen der amerikanischen Ausgabe (zitiert nach dem hilfreiche Orientierung bietenden Nachwort der Herausgeberinnen).

Es trifft zu, dass die ‚Erzählung‘ erst allmählich Fahrt aufnimmt, und es wird auch nicht wirklich erzählt. Arendts Interesse gilt zudem nicht dem Salon als kulturhistorischem Phänomen. Bereits die einzelnen Kapitelüberschriften zeigen den problemorientierten Zugriff auf die Vita Rahel Varnhagens. Aber erst die beiden – Ende der dreißiger Jahre im Pariser Exil entstandenen – abschließenden Kapitel präsentieren die Konzeption beziehungsweise ein Resultat, das sich nur mit ihrer Hilfe formulieren lässt. Während jenes sich an den Leitkategorien „Paria“ und „Parvenu“ orientiert, lautet dieses schlicht und einfach, Rahel Varnhagen sei am Ende „Jüdin und Paria geblieben“.

Ganz so einfach verhält es sich mit den Wertungen allerdings doch wieder nicht. Deutlich vorsichtiger als dann im Schlusskapitel bemerkt Arendt einige Seiten zuvor, Rahel Varnhagen habe es verstanden, „Pariaqualitäten in das Parvenudasein hinüberzuretten“. Die Verwendung des positiv konnotierten Begriffs „Paria“ mag der Religionssoziologie Max Webers (1915) zu verdanken sein, wohl vermittelt über die Thesen zum „bewussten, d. h. sich verteidigenden Pariatum“ beim Anarchisten Bernard Lazare (ca. 1894), die Arendt in The Jew as Pariah: The Hidden Tradition im April 1944 veröffentlichte, auch wenn ein gleichnamiges Stück des jüdischen Dramatikers Michael Beer (1800–1833), das 1823 in Berlin zur Uraufführung gekommen war, rezeptionsgeschichtlich von Bedeutung gewesen sein dürfte. Der Bruder Giacomo Meyerbeers verkehrte in Rahel Levin Varnhagens Salon, wo Heinrich Heine ihn kennenlernte, der den Erfolg des Dramas Der Paria ausführlich verfolgte und mit Rahel 1829 noch darüber sprach.

Die von Rahel Levin als 19jähriger unverheirateter Frau kreierte Salonkultur in Berlin zeigt nach Arendt den Weg von der idealistischen Goethe-Rezeption zum politischen Salon und zur Förderung Heinrich Heines mit liberalem und emanzipatorischem Anspruch bis hin zum Saint-Simonismus. In ihrer Auseinandersetzung mit der Entwicklung Rahel Levin Varnhagens wird Hannah Arendt zum ersten Mal als politische Philosophin sichtbar und damit ihre Entfaltung hin zu ihrem Hauptwerk The Origins of Totalitarianism / Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft (1951, 1955), wo Rahel Levin Varnhagen eine wichtige Station einnimmt, in der englischen Fassung im Kapitelabschnitt „Between Paria and Parvenu“.

Arendts Buch nimmt eine Zwischenstellung in ihrem Werk ein. Sein Gegenstand ist einerseits, im Anschluss an Arendts Dissertation über den Liebesbegriff Augustins, die Konfession, also das Bekenntnis einer Liebenden in allen psychologisch labyrinthisch komplexen, existentiellen Dimensionen der Verzweiflung an sich selbst und der Welt in bester Brief- bzw. Tagebuch-Prosa, andererseits liefert es einen Vorausblick auf die großen politischen Analysen Arendts als Ermutigung zum gemeinsamen machtvollen Handeln in der sehr späten Lebenserkenntnis Rahels, dass das individuelle Schicksal durch die politischen Verhältnisse mitbestimmt ist.

Wer allerdings eine feministisch in welchem Sinne auch immer motivierte Würdigung weiblicher Kultur im 19. Jahrhundert erwartet, wird enttäuscht. Historisches Material zur Vergegenwärtigung bieten stattdessen die Darstellungen des Rahelschen Salon in den Überblickspanoramen von Deborah Hertz (Yale 1988, deutsch 1991), Petra Wilhelmy-Dollinger (1989, 1999), Verena von der Heyden-Rynsch (1992) und vor allem Carola Sterns eindrucksvolle Monographie Der Text meines Lebens (1994).  Zu erwähnen ist auch Barbara Hahns Darstellung zu Rahel Varnhagens Briefwechsel unter dem Titel ‘Antworten Sie mir!‘ (1990) und die Herausgabe Die Träume der Rahel Levin Varnhagen unter dem Titel ,Im Schlaf bin ich wacher‘ (1990).

Im Hannah-Arendt-Handbuch von 2011 beschrieb Hahn bereits die komplexe Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte (drei Exemplare wurden auf der Flucht und im Krieg bewahrt, in Heidelberg bei Karl Jaspers, in Paris bei Arendts Freundin Anne Weil und in Jerusalem bei Gershom Scholem, neben der Berliner Fassung, die am 15. November 1933 von der Mutter von Anne Weil an Jaspers geschickt wurde, in dessen Nachlass sie bis heute ist, existierte noch eine Pariser Fassung, die Ende November 1938 abgeschlossen wurde, in drei Exemplaren, die alle verloren sind) wie auch die Publikations- wie Rezeptionsgeschichte (Walter Benjamin und Gershom Scholem lesen Arendts Rahel-Biographie als Verteidigung des Judentums, Karl Jaspers als Lösung aus dem Judentum, Elisabeth Young-Brühl als Autobiographie Hannah Arendts, Ingeborg Nordmann als Montage von Anspielungen auf Heideggers Sein und Zeit, Heide Volkening als realistische Vorlage einer Lebenserzählung analog zu Vita activa, Hahn betont die kommentierte Montage einer in genialer Zuwendung zu unendlich vielen Adressaten vielstimmig plural sich äußernden Stimme der Humanität).

Wie kam Arendt dazu, über Rahel Levin Varnhagen zu schreiben, auch in einem „Archivmarathon“ (so Hahn) im Januar und Februar sowie im November 1931, und Transkriptionen schwer lesbarer Handschriften anzufertigen? Waren es die Vorlesungen Friedrich Gundolfs in Heidelberg zu den Romantikern, der Rahel Levin Varnhagens Goethe-Rezeption hervorgehoben hat? War es die logische Konkretisierung des Liebesbegriffs „amor mundi“, den Arendt in ihrer Dissertation bei Augustinus fand? Das Thema Freundschaft beherrscht auch die Entstehung von Arendts Rahel-Buch, das Interesse wuchs, als sie mit ihrem Freund und Fast-Verlobten Benno von Wiese bei Gundolf Vorlesungen zu den Romantikern hörte. Von Wiese promovierte bei Jaspers, da Gundolf keine Promotionen oder andere akademische Pflichten übernahm, im Mai 1927 über Friedrich Schlegel.

Erste Veröffentlichungen Arendts im Umkreis ihrer Rahel Levin Varnhagen-Forschungen enthält die Ausgabe ebenfalls, es fehlen aber die Aufsätze über Friedrich Gentz und Adam Müller, die erst im Band 17 erscheinen sollen, aber beide politische Schriftsteller zitiert Arendt im Rahel-Kapitel in ihrer Totalitarismus-Schrift und sie sind wichtige Dokumente, die die Politisierung der Salonnière wie die ihrer Autorin bezeugen.

Arendts Biographie Rahel Levin Varnhagens verlängert die Fluchtlinien des Kippbildes von Judenemanzipation und Antisemitismus aus der Übergangszeit zwischen Spätfriederizianismus und Frühnationalismus in die Gegenwart am Ende der Weimarer Republik. Diesem fundamental Beunruhigenden, ja Erschütternden spürt Arendt nach. Die Kommentare Hahns offenbaren Arendts einfache und doppelte Anstreichungen in ihrer Ausgabe des Buches des Andenkens als Trias politischer Bewusstwerdung Rahel Levin Varnhagens, die Cholera-Pflege organisiert und mit Heine über Saint-Simonismus streitet: „Ich litt nicht allein, aber mit allen Menschen.“ (Dazu Arendts Kommentar: „Rahel hat nicht allein und umsonst gelitten“) – „Die Rede ist vom Rechte, und nicht mehr vom Herkommen: ganz einfach.“ – „Auch interessiert mich nichts ganz, als was die Erde für uns bessern kann: sie und unsere Handlungen darauf.“

Dadurch dass die Veröffentlichung im Klaus Piper-Verlag durch Hans Rößner, einen Lektor mit NS-Vergangenheit, begleitet wurde, was Arendt nicht wusste, gewinnt das Werk auch in seiner Veröffentlichungsgeschichte noch mehr Bedeutung. Rößner hat 1959 den Untertitel auf dem Schutzumschlag auf Eine Lebensgeschichte gekürzt und damit das Judentum verschwiegen („einer deutschen Jüdin aus der Romantik“), in gewisser Weise in Kontinuität zu Karl August Varnhagens Eliminierungen im Buch des Andenkens an seine Frau Rahel. Ein anderer Aspekt ist die Anerkennung dieses Werkes als Habilitationsschrift nach einem seit der Veröffentlichung des Rahel-Buches angestrengten juristischen Verfahrens mit Gutachten von Jaspers, was am 31. Dezember 1971 in der deutsch-jüdischen Exilzeitung „Der Aufbau“ unter dem Titel ,Die Wiedergutmachung‘ publik wurde und sogar als „Lex Arendt“ paradigmatisches Vorbild für andere Verfahren war.

Titelbild

Hannah Arendt: Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin.
Herausgegeben von Barbara Hahn, unter Mitarbeit von Johanna Egger und Friederike Wein.
Wallstein Verlag, Göttingen 2021.
800 Seiten , 49,00 EUR.
ISBN-13: 9783835337671

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