Gruselgeschichten um einen Heiligen
Flavius Ardelean entführt mit seinem Roman „Der Heilige mit der roten Schnur“ in eine Welt dunkler Fantastik
Von Anke Pfeifer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas Skelett Bartholomäus Knochenfaust ist mit einer Kutsche unterwegs nach Alrauna, dem früheren Mandragora. Die Ortsnamen verweisen nicht umsonst auf die aus dem Orient stammende Heil- und Ritualpflanze, die einen üblen Geruch verbreitet und in ihrer Form menschlichen Gestalten ähnelt. Während der Fahrt erzählt der Knochenmann dem einäugigen Wanderer, den er unterwegs aufnimmt, von seinem Freund, dem Heiligen Taush, und wie dieser zum Schutzherrn von Mandragora wurde. Der Wandersmann muss dafür nach und nach einen grauslichen Zoll zahlen.
In diese mündlicher Erzähltradition verpflichtete Rahmenerzählung ist die Lebensgeschichte von Taush eingebettet. Schon dessen Geburt in Gaisterştat vor langer Zeit bringt drei Wunder mit sich, dreimal verschwindet das Kind und verfügt danach über verschiedene magische Fähigkeiten. So vermag Taush sich eine rote Schnur aus dem Bauchnabel zu ziehen, um damit Totgeweihten eine sanfte Überfahrt ins Jenseits zu ermöglichen. Als sein Vater beim Bau der Stadtmauer gemeinsam mit anderen Arbeitern zu Tode kommt, gibt er sein bisheriges Schweigen auf, fängt an, von anderen Welten zu erzählen, und zieht damit die Menschen in seinen Bann. Wie andere Jungen zwischen 10 und 18 Jahren geht auch Taush zum Alten Tace, dem prophetischen Erzähler aus der Hölzernen Festung, in eine harte Lebensschule und tritt schließlich als Meisterschüler das Erbe dieses Propheten an.
Das offensichtlich Märchenhafte – so spielt die Zahl Drei häufig eine Rolle – verbindet sich in diesem Roman von Flavius Ardelean, der in seiner Heimat Rumänien als ausgewiesener Dark Fantasy-Autor gilt, eindrücklich mit der Gestaltung einer düsteren Welt voller verstörender Ereignisse und seltsamer Figuren. Das Phantastische bleibt sichtlich nicht auf die Binnenerzählung beschränkt. Der literarische Einfluss von Ardeleanus Vorbildern Franz Kafka und H.P. Lovecraft zeigt sich deutlich, wird diese Welt, in der die Helden agieren, doch von der unbekannten, finsteren un‘Welt bedroht. So steigen aus übelriechenden Löchern und Spalten im Erdboden un‘Menschen in Gestalt überdimensionierter Rattenmenschen sowie in anderen Maskeraden herauf und greifen die Bewohner an.
Als diese schwer fassbare Macht der un‘Welt Zerstörung und Tod bringt, machen sich drei der Gesellen des Alten Tace auf, um das Böse zu vertreiben und den Tod junger Frauen zu rächen. Doch von den Freunden Taush, Danko und dem damals noch unversehrten Bartholomäus, eben jenem, der nun die Geschichte erzählt, überlebt allein der Lebenskünstler Taush, der dank seiner magischen Kräfte auch zwischen den Welten pendelt, diese unheimliche Reise, und zwar auf grausame Weise gestärkt. Er gelangt zu einem abseits gelegenen Dorf und errichtet hier gemeinsam mit den Einwohnern die blühende Stadt Mandragora. Doch ein neuer grässlicher Kampf bricht aus, als jene Verirrten aus der un‘Welt auftauchen. Die Intensität der Fantastik wird noch gesteigert durch den Horror blutiger Gewaltszenen in Splatter- und Gore-Manier.
Der Alte Tace sowie Taush geben vor, kraft ihres Erzählens die Welt nicht nur zu retten, sondern zu erschaffen. Taushs Durchquerung eines Mohnfeldes hin zur Siedlung ausgerechnet der Tollkirschler lässt ahnen, dass nicht alles mit rechten Dingen zugeht und auch Halluzinationen im Spiel sind. Verwirrungen und Täuschungen finden sich allenthalben im Verlauf des Geschehens. Vielleicht gehört Taush, der Weltenschöpfer, ja doch zur un‘Welt. Und es kommt wohl auf die Perspektive an, was oben und unten, was das Gute und was das Böse ist. Die Macht von Erzählung zeigt sich beispielsweise, als der neue Lehrer Mandragoras mit seiner schwangeren Tochter von Taush als Repräsentanz der Un‘Welt benannt wird und die Tochter unter dem wütenden Hurrageschrei der aufgehetzten Bevölkerung auf dem Scheiterhaufen brennt. Diese Szene scheint durch ihren auffallend realistischen Anstrich parabelhaft auf die Gefahr von Demagogie in der realen Welt zu verweisen.
Bartholomäus selbst gibt vor, „mit erfundenen und wahren Geschichten“ über die Licht- und Schattenseiten des Lebens zu unterhalten, wobei es dem Zuhörer überlassen sei, was er für wahr und was für unwahr halte. Die Existenz des Erzählers Bartholomäus wird jedenfalls am Schluss durch den Herausgeber der Geschichte, das Skelett mit dem sprechenden Namen Flavius Habenichts, bestätigt. Als Beweisstück gelte das kleine Fingerglied auf dem Kaminsims, das das Skelett dort vergaß.
Dieser drastische Abenteuerroman vom Kampf gegen das Böse, aber ebenso von Freundschaft und Liebe sowie von Verlust und Tod ist sowohl von der Pikareske als auch von der Heiligenlegende inspiriert, konterkariert aber beide Genres in unterschiedlichem Maße. Trotz oder gerade wegen seiner überbordenden Verrücktheiten und grandiosen Einfälle entwickelt er eine wahre erzählerische Wucht, die auch sprachlich gefangen nimmt und zu vielfältigen Interpretationen anregt. Freunde dunkler Phantastik dürften jedenfalls auf ihre Kosten kommen.
Eva Ruth Wemme hat wie gewohnt hervorragend und sprachgewandt übersetzt. Was ist doch beispielsweise Klügelei für ein beredtes Wort! Unbedingt hervorzuheben ist die wunderbare Buchgestaltung: Der weiße Einband mit roter und schwarzer Schrift, mit sich kringelnder roter Schnur auf dem Vorsatz und natürlich rotem Lesebändchen. Vor allem die skurrilen, teils an die schlanken Figuren Giacomettis erinnernden minimalistischen Schwarz-Weiß-Zeichnungen von Ecaterina Gabriela machen das Buch zu einer Augenweide.
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