Das Ende aller Träume?

Clemens Bruno Gatzmaga schickt seinen Protagonisten in „Jacob träumt nicht mehr“ zu einer Präsentation und ins Moor

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Icherzähler ist bis zum Bauchnabel in einem stinkenden Moor eingesunken. Ein Naturfreund? Immerhin weiß er, dass es ein Sumpfgrashüpfer ist, der ihm gegen die Brust springt. Rasch stellt sich heraus, dass sein Revier die digitale Arbeitswelt in einer Agentur ist, mit 70-Stunden-Woche und gutem Gehalt. Jacob gehört der ‚New Work Generation‘ an, deren Arbeit durch Digitalisierung und ständige Verfügbarkeit geprägt wird. Vielfältige Methoden sollen das Potenzial des Einzelnen und des Teams steigern. Die vielbeschworene „Achtsamkeit“ gilt dem Betreffenden nur in Hinblick auf seine Nützlichkeit in der Dienstleistungsgesellschaft. „Glaub an deine Träume“, sagen alle, doch beim Aufstieg auf der Karriereleiter hält die Nachwuchsführungskraft Jacob das für Hirngespinste. Mehr als den Vornamen erfährt man zunächst nicht.

Jacobs Gedanken gehen sechs Monate zurück. Er sollte mit einem Pitch eine Geschäftsidee vorstellen. Das englische Wort „pitch“ kennt man als „Tonhöhe“ und „Spielfeld“ und beim Baseball als Wurf zum Schlagmann. Im grassierenden Denglish (oder Denglisch) wird das Wort nicht übersetzt, sondern durch Großschreibung notdürftig eingedeutscht. Pitch bezeichnet eine kurze verbale Präsentation, ursprünglich in der Filmbranche, mit dem Ziel, potentielle Geldgeber von einem Projekt zu überzeugen.

Jacobs Team hat eine androgyne Robotergestalt entwickelt und ihr den Namen Kay gegeben. Kay soll einer Großbank als digitaler Berater für jüngere Kunden dienen. Der Agentur könnte der Auftrag der Bank einen hohen sechsstelligen Betrag einbringen, mit einem fetten Bonus für Jacob.

Der Autor gestaltet die Welten, in denen wir Jacob begegnen, sprachlich differenziert. Im digitalen Umfeld wird „Denglish“ gesprochen. Begriffe wie App, Brainstorming, Briefing, Deadline, Feedback, Links, Outline und Workshop sind längst eingebürgert. Neben dem bereits erläuterten Pitch dürften auch Chatbot, Loop, Offsite, Reportings, Sales Pipe und Smartbanking für manche Leser neu sein. Die Natur wird in reinem Deutsch beschrieben, das sich an einem Gully zu poetischen Tönen aufschwingt: „Von dort leuchtete ein goldgrün schimmerndes Licht herauf, als strahle die aufgehende Sonne nach oben.“

Mit acht Jahren konnte Jacob in Träumen bewusst handeln. Er schüttelte Regenschauer aus den Wolken und redete mit einem außerirdischen Mädchen in einer Fantasiesprache. Tagsüber schuf er sich fremde Welten und musste sich bei Rückkehr in die Realität orientieren.

Ähnlich ergeht es dem Endzwanziger, als er am Morgen der Präsentation mit dem Taxi zum Flughafen fährt. Im Flugzeug rangelt er mit dem Sitznachbarn um die Armlehne. Dabei will er anwenden, was er über Konfliktbewältigung gelernt hat, und verliert durch eine Unachtsamkeit. Unmittelbar vor dem Pitch bekommt er einen Hustenanfall, geht hinaus, findet nicht in den Beratungsraum zurück und gelangt in einen Birkenwald mit Hirschkäfern und Megalithen. Der Traum manifestiert sich endgültig, als der Wald zurückweicht und Jacob in einen Raum mit Projektoren gelangt.

Unversehens ist er wieder im Beratungsraum. Als sein Chef den Pitch ankündigt, erfahren wir Jacobs Familiennamen: Speerforck. Die Präsentation gelingt, Jacob verteidigt den Namen Kay als weder männlich noch weiblich und mit der Nähe zu ‚okay‘. Auf dem Weg zum Flughafen erfährt er per E-Mail, die Leistungsdaten für sein Team seien fehlerhaft. Im Taxi nach Hause bekommt er Hitzewallungen, muss ins Krankenhaus. Dort erwähnt Stella, die er kennengelernt hat, als er noch wie sie Lehrer werden wollte, er habe von einem Wald mit Megalithen erzählt. Jacob nennt das Kinderquatsch. Sie findet, er verkaufe sich unter Wert, und er schimpft, an den Lehrern gehe die Digitalisierung vorbei.

In der Agentur wird er nach der Genesung herzlich empfangen: Der Pitch hat nichts gebracht, weil der Vorstand der Bank mit einem Konkurrenten in die Sauna geht. Der Agenturchef wusste, dass nichts zu holen war. Beim Gespräch mit dem Achtsamkeitslehrer gewinnt Jacob nur kurz den Eindruck, der Agentur liege das Wohl der Mitarbeiter am Herzen. Eines Morgens im Mai beschließt er, sich nicht mehr von einer Verpflichtung zur nächsten zu hangeln, sondern ein neues Leben anzufangen. Er kündigt.

Jacob trifft sich mit seinem Vater, dem er bei der Beerdigung der Mutter gegen das Schienbein getreten hat, weil der Trauernde den Achtjährigen nicht aufrichtete. Man ist freundlich zueinander, vieles bleibt ungesagt.

In der Firma und der Branche spricht sich Jacobs Kündigung herum. Alle Agenturangebote schlägt er aus und will sich bei Non-Profit-Organisationen bewerben. Er fährt zur Großmutter ins alte Bauernhaus im 40-Seelen-Dorf. Als sie über seinen Vater spricht, erfährt man etwas über Jacobs Aussehen: hübsch, mit kastanienbraunem lockigem Haar und feinen Gesichtszügen.

Jacobs Albträume begannen, als bei der Mutter, der man als Kind einen Tumor entfernt hatte, der Krebs zurückkehrte. Nach ihrem Tod nahm ihn die Großmutter zu sich. Er war für ein Jahr von der Schule freigestellt, hatte schlimme Träume und war eine ganze Nacht verschwunden. Darüber verriet er nichts, doch die Albträume war er los.

Die Großmutter rät ihm, in den Wald zu gehen. Unterwegs fragt ihn eine Nachbarin, ob seine Kündigung bedeutet, dass die Hochzeit mit Stella verschoben wird. „An ihrer Stelle wäre ich längst abgehauen.“

Jacob kommt an einem Schild vorbei, das den Wald als Naturschutzgebiet ausweist. Er sieht Tannen, Eichen, Buchen, einen Specht, Waldameisen, gefleckte Forellen, einen Hirschkäfer. An einem Bach zweigt rechts ein Weg ab, mehr ein schmaler Schatten durchs Laub. Jacob geht dort entlang, um einem alten Geheimnis auf die Spur zu kommen. Ein Wolkenbruch wird ihm zum Erlebnis. 

Er folgt einem Plätschern, um Bach und Weg wiederzufinden, doch da ist nur ein schwarzbraunes Rinnsal, das in einen Sumpf läuft. Das kalte Moor erreicht Jacobs Bauchnabel. Seine Hilferufe hört niemand. Es zieht ihn hinunter. Weiches umgibt seinen Körper wie eine zweite Haut, Jacob bekommt Luft. Vergeht eine Woche, ein Monat, ein Jahr? Wo ist oben, wo unten? Eine Stimme in seinem Ohr bezeichnet sich als datenbasiert und intelligent. Jacob schreit, er wolle allein sein und nichts mehr hören. Er läuft im Quadrat, die Stimme verstummt.

Jacob steht am Waldrand. Taschenlampe und Handy sind weg. Die Haustür ist offen. Ohne zu duschen, fällt er ins Bett. Als er zu sich kommt, sitzt seine Großmutter an der Bettkante.

Clemens Bruno Gatzmaga hält seine Geschichte und damit auch ihren Titel in der Schwebe. Jacob träumt nicht mehr – was heißt das? Seine Albträume schienen schon in der Kindheit verschwunden. Dann hat er beim Karrieremachen das Träumen verlernt. Und nun? War es wirklich sein letzter Traum, aus dem er zur Großmutter zurückkehrt?

Eine andere Dimension ergibt sich aus dem, was der Autor nicht ausspricht. Man kann nicht ohne Träume leben, auch nicht von Träumen allein. „Im Grunde sind es doch immer die Verbindungen mit Menschen, die dem Leben seinen Wert geben“, wusste Wilhelm von Humboldt. Man hofft für Jacob, dass die gestörte Beziehung zum Vater besser und die Bindung zu Stella tiefer und fester wird. Vielleicht hilft ihm die Großmutter auf den Weg.

Titelbild

Clemens Bruno Gatzmaga: Jacob träumt nicht mehr.
Karl Rauch Verlag, Düsseldorf 2021.
160 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783792002650

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