Müßiggang oder das Ende der Laster

Mit Jenny Odell lernen, wie „Nichts tun“ uns retten kann

Von Sandy SchefflerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandy Scheffler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer mag wohl ein Buch mit dem Titel Nichts tun in die Hand nehmen? Wer wird in Nichts tun investieren? In ein Buch, dessen Titel suggeriert, jetzt, unvermittelt anzuhalten, innezuhalten und mal nicht beschäftigt zu sein. Kurz gesagt, an wen will sich dieses Buch wenden? An Vielarbeiter, an Aussteiger oder an Wellnessspezialisten? Nun, Odell erwähnt Künstler und Schriftsteller als ihre möglichen Adressaten, aber nicht nur. Ihren typischen Leser vermutet sie in „jedem, der das Leben für mehr als nur ein Werkzeug erachtet und deshalb als etwas begreift, das nicht optimierbar ist“. Dahinter steht „die Weigerung zu glauben, dass unsere gegenwärtige Zeit und die Welt, in der wir leben, irgendwie nicht genug sind“.

Das wirft Fragen auf. Als erste vielleicht, wer bestimmt, was nicht genug ist? Und als nächste, wer lässt sich davon bestimmen? Die zahlreichen oder besser zahllosen Social-Media-Kanäle, die Smartphones und Flatscreens, die überall sind, wo wir auch sind, haben sich zu Despoten entwickelt. Sie haben uns damit gelockt, dazu zu gehören, am Puls der Zeit zu sein und nun stecken wir in der Aufmerksamkeitsfalle. Der Druck ist groß, auf eingehende Nachrichten, Posts und Tweets sofort zu reagieren; und ebenfalls zu mailen, zu posten oder zu twittern.

Es scheint ein nicht enden wollender Kreislauf in Gang gesetzt zu sein. Wir fürchten, wir werden sonst nicht mehr geliked und gehören nicht mehr dazu. Und nun „Nichts tun“. Wirklich, nichts tun? Solch ein „Nichts tun“ ist, frei nach „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“, in der Social-Media-Welt dem Like-Button sein Tod. „Nichts tun“ ist auf den Online-Plattformen zum Luxus avanciert. Wer kann und will ihn sich leisten?

Jenny Odell hebt als kritische Beobachterin den Blick vom Display und erkennt, dass der technologische Verlagerungskurs, der uns jetzt bereits beherrscht, keiner Gemeinschaft zuträglich ist, in der Menschen einander als Menschen begegnen. Was heißt das? Nun, Odell vertritt die Annahme, dass die Besinnung „der eigenen Aufmerksamkeit auf Ort und Stelle wahrscheinlich zum Bewusstsein der eigenen Teilnahme […] an einer mehr-als-menschlichen Gemeinschaft führen“ werde. Odell wendet sich gegen „Unternehmensplattformen[, die] unsere Aufmerksamkeit kaufen und verkaufen, und ebenso gegen Technologiedesign und -gebrauch, die eine beschränkte Definition von Produktivität festschreiben und die lokalen Gegebenheiten, Körperlichkeit und Poesie ignorieren“. Sie agiert nicht gegen Internet und Social Media per se, sondern ausdrücklich gegen eine bewusst geschürte Überreizung der User, die dem Kommerz zuträglich ist. Nichtstun soll der Aufmerksamkeitsökonomie die Kraft entziehen und diese wieder dem „öffentlichen, physischen Raum“ zuführen.

Die Online-Verlagerung ist eng geknüpft an eine Online-Ortlosigkeit, in der die scheinbare Verknüpfungsfülle der virtuellen Welt zugleich dieselbe im physischen Leben unterläuft. Odell spricht von notwendiger „Hingabe, Disziplin und Willensstärke“, sich mit Nichtstun der Aufmerksamkeitsökonomie und ihrem Diktat zu entziehen. Es umfasst „Widerstand an Ort und Stelle“, wonach die Nichtnutzbarkeit oder Nichtverwertbarkeit des eigenen Handelns und Seins zu einer neuen Nützlichkeit avancieren.

Eine solche freiwerdende Energie der Nützlichkeit, sprich, freiwerdendes Engagement, verortet Odell sinnhaft im so genannten „Bioregionalismus“. Aufmerksamkeitsfülle, die sich aus der Abkehr von einer Aufmerksamkeitsökonomie ergibt, öffnet den Blick für den unmittelbaren Nahraum, lässt uns unsere Umwelt als buchstäblichen Lebens-Raum wahrnehmen. Er hat uns nicht nötig, aber wir ihn. Die Wahrung des Atems der Wälder entspricht eins zu eins der Wahrung unseres Lebens. Uns selbst als integrierter Teil des Ökosystems und Lebens-Raums zu erleben, wird unmittelbar nach sich ziehen, dass „Feingefühl und Verantwortung für das Historische (was passierte hier, an dieser Stelle) und das Ökologische (wer oder was lebt oder lebte hier) erwachsen“.

Bewusstsein und Aufmerksamkeit, die sich fokussiert auf den Boden, auf dem wir gerade stehen, auf den Baum über uns, der uns gerade Sauerstoff zum Atmen spendet, auf den Menschen, mit dem wir gerade sprechen, bilden die Fäden, aus denen das Beziehungsgeflecht eines zukünftigen Ökosystems gewebt wird, das lebendig, nachhaltig und tragfähig ist und bleibt. Die Vorsilbe „über“ gehörte damit auf die Liste der bedrohten Vorsilben. Alles, was über das normale Maß hinausgeht, verschwände tendenziell aus dem Aufmerksamkeitsradius.

Nur eine Utopie? Wenn wir Odell und der Idee ihres Bioregionalismus folgen, vor dem Hintergrund einer über Kurz oder Lang zermürbenden Aufmerksamkeitsökonomie, lässt sich vermuten, dass die negativen Effekte unserer Laster, bis zum Ende gedacht, zu unserer Destruktion führen. Mit anderen Worten, wir selbst haben Probleme geschaffen, denen wir zu entfliehen versuchen werden. Wenn wir nicht die Destruktion unserer selbst in Kauf nehmen wollen. Oder: „Einfach gesagt, aus dem Bewusstsein erwächst die Verantwortung.“

Immer wieder kommt Odell auf das Beobachten von Tieren, von diversen Vögel, die ihre unmittelbare Nachbarschaft bilden, zurück. Sie nähert sich ihnen an, lockt sie mit einer Nuss, um sich in ihrem Verhalten zu reflektieren und ein Stück weit zu erkennen. In diesen Stunden des Nichtstuns erfährt sie die Vergewisserung ihres Daseins:

Nur im regelmäßigen Kontakt mit dem konkreten Boden unter unseren Füßen und dem Himmel über uns können wir lernen, uns in den vielfältigen Dimensionen, die uns heute in Beschlag nehmen, zu orientieren und uns durch sie hindurchzunavigieren. […] Und es bedarf einer Pause, um sich das in Erinnerung zu rufen: einer Pause, um nichts zu tun, um einfach zuzuhören, sich auf tiefster Ebene daran zu erinnern, was, wann und wo wir sind.

Diese aufmerksame Form der „Selbstfürsorge“ ist kein Aufruf zum generalisierten Nichthandeln, sondern sie stellt vielmehr erst den Raum bereit, von wo aus umsichtiges Handeln möglich wird. Odell plädiert damit für eine Abkehr von einem programmierten, reaktiven Handeln, das aus der Enge eines von der Aufmerksamkeitsökonomie vereinnahmten Geistes resultiert. Sie schafft damit Platz für Individuelles und Kreatives. Echte Bereicherung wird damit zum Kern ihres Bioregionalismus. Sie stellt „Self Care“, „Deep Listening“ und „Instandhaltung“, etwas, dass sich wohl als „Social Care“ bezeichnen ließe, als Instrumente vor. All diesen Instrumenten ist ihre „schützende Haltung“ inhärent.

Odell macht uns aufmerksam, wie sehr der Leistungsfokus, der Anspruch auf ein ständiges Höher, Weiter, Schneller die bewahrenden Elemente alles Regenerativen, Zyklischen, zu Schützenden und zu Schätzenden untergräbt. Und tatsächlich ist wohl unbestritten, dass jede Form von „Care“, von Pflege-, Schutz- und Zuwendungstätigkeit, außerhalb von gesellschaftlich relevanten Ausnahme- und Notfällen, bislang eher ein Schattendasein fristet. Nichtstun ist somit Fürsprache und Aktivismus, das Wertzuschätzende nicht länger wissentlich zu übergehen.

Nichtstun meint kein „Rückzugswochende“ und auch nicht, sich dauerhaft zurückzuziehen. Für die wenigsten wäre das machbar oder erstrebenswert. Sich der Aufmerksamkeitsökonomie entziehen, heißt, sich dem Tempo und Druck von Medien und Userklicks zu entziehen. Odells „Meinung nach ist diese Art von hyperbeschleunigten Äußerungen in den sozialen Medien nicht gerade hilfreich. […] Es ist keine durch Reflexion und Vernunft gesteuerte Kommunikationsform, sondern eher eine durch Angst und Ärger befeuerte Reaktion“. Schlagzeilen sollen uns in Rage bringen und tun dies auch. Zumindest dann, wenn wir ohne den nötigen Abstand sind, um unsere Reaktionsmechanismen zu erkennen.

Wenn alles zu viel wird, die Nachrichten, die erwarteten Antworten, die Klicks und Likes, dann geht Odell nach draußen. Unter die Bäume. In den Park zu den Vögeln. Alles, was an Bildpixeln noch den Geist umschwebt, verschwindet nach einiger Zeit. Alles kommt in Balance. Wird fast meditativ. Und doch gilt für Odell, nicht immer da draußen bleiben zu können. Sie will und muss an der Welt teilnehmen. Es ist für sie „keine Frage des Ob, sondern des Wie“. Sie ist bereit sich ihrer Verantwortung zu stellen. Das Pendeln zwischen „Kontemplation“ und „Partizipation“ ist die Handlung der Wahl. Odells Instrument ist das „Abseitsstehen“. Mit diesem Instrument bleiben wir der Welt erhalten und können doch die Distanz wahren, um nicht von ihren Medienmechanismen verschlungen zu werden. Im Distanzraum erkennt der reflektierende Beobachter die Konsequenzen des Handelns und Tuns.

Abseitsstehen heißt, sich die Welt (jetzt und hier) aus einem Blickwinkel der Welt, wie sie sein könnte (die Zukunft), anzuschauen, mit all den hoffnungsfrohen und sorgenvollen Betrachtungen, die das mit sich bringt.

In gewisser Weise ist das Ausbrechen aus reaktiven Mechanismen auch eine Form der Verweigerung. Odell beleuchtet sie anhand von Beispielen aus Kunstperformance und Geschichte. Sie führt uns vor, wie sehr das berühmte ‚Schwimmen gegen den Strom‘ zur Irritation der Masse führt. Diogenes etwa lebte mit einem Stock und einem zerlumpten Mantel in einem Fass. Weiteren Besitztümern verweigerte er sich. Des Öfteren ging er mit einer Laterne am helllichten Tag auf den Markt, auf der Suche nach einem wahrhaften Menschen. Solche Aktionen versuchen, „die Menschen aus ihrer gewohnten Erstarrung herauszureißen“. Sie beruhen auf einer inneren Überzeugung, dass das Zuviel an allem, sei es Besitz, Habenwollen oder Streben, den menschlichen Geist an derlei Überflüssiges fesselt und damit krank macht.

Was solch Treiben wie das von Diogenes wertvoll macht, ist seine „Projektionsfläche“. Unweigerlich müssen wir lachen über solch absurdes Treiben, das Konventionen bloßstellt. Auch, weil wir uns gerne einmal so herrlich absurd verweigern würden, aber uns doch nicht trauen. Odell nennt gerade ihn als positives Verweigerungsbeispiel, da er sich weder anpasste noch entzog. Wir sehen an seinem Beispiel, wie man Widerstand leistet mitten in der Welt. Seine unerwarteten Handlungen und Antworten eröffnen einen „dritten Raum“, der mitten im Unerwarteten, in der Verblüffung, ein neues Bezugssystem kreiert.

Odell ist klar, dass man sich die Konsequenzen einer zeitweiligen Abkehr, eines Widerstandes leisten können muss. Nicht immer drückt sich dieses ‚sich etwas leisten können‘ nur in monetären Bezügen aus, sondern auch in sozialen. Facebook den Rücken zu kehren kann sich leisten, wer (beruflich) nicht gezwungen ist, ständig online zu interagieren, beziehungsweise dessen soziales Netzwerk offline stabil und groß genug ist. Dennoch kommen wir Odell zufolge nicht darum herum, wenn wir eine Aufmerksamkeit unser Eigen nennen wollen, über die wir zum einen die Kontrolle zurückgewonnen haben und die wir zum anderen bündeln und auf eine konkrete Sache ausrichten können wollen.

Eine solche Zielgerichtetheit geht mit Verstärkung und Schärfung einher und stellt somit die Voraussetzung für erfolgreiches Handeln dar. Der „dritte Raum“ ist deshalb wichtig, weil „alle […] ,bis zum Anschlag Vollgas‘ geben und sich andere Formen von Verweigerung nicht leisten können, die Aufmerksamkeit vielleicht die einzig übriggebliebene Ressource ist, die wir wieder abziehen können“. Odells „dritter Raum“ wird damit zum buchstäblichen geistigen Freiraum, über den wir einzig noch eine Verfügungsgewalt haben. Das Lösen geistiger Fesseln schafft demnach Autonomie und Souveränität im Denken und Handeln.

Nichtstun bedeutet für Odell, sich „von einem Bezugssystem (die Aufmerksamkeitsökonomie) zu lösen, nicht nur damit ich Zeit habe nachzudenken, sondern auch um etwas Neues in einem neuen Rahmen zu tun“. Distanz und gezielter, bewusst gewählter Austausch, sowohl Face-to-Face also auch virtuell, schaffen Raum für echte Begegnung, die in einem Kontext stattfindet. „Kontext ist das, was zum Vorschein kommt, wenn man seine Aufmerksamkeit lange genug auf etwas richtet; je länger man sie aufrechterhält, desto mehr Kontext tritt zutage.“ Sich Zeit und Raum zu geben und zu nehmen wird dabei zu einem wesentlichen Faktor; denn „bestimmte Denkweisen [benötigen] bestimmte Arten von Raum“.

Um dies aufzuzeigen, hält sie dem „Kontextkollaps“ des Virtuellen, anhand des Beispiels Twitter, einen Spiegel vor. Erneut geht es um die Abgrenzung zwischen reaktiven Mechanismen und bewussten Aktionen, die sich auf Nachdenken und Kontextualisierung beziehen. Nachdenken braucht Zeit und eine gewisse Distanz zu den Dingen. Kontextualisierung fordert einen gewissen Raum ein. Odell fordert eine Wiederherstellung dieser Räume ein, die für ein bewusstes menschliches Denken unabdingbar sind. Raum schließt dabei Lebensraum, der von Pflanzen und Tieren bestimmt ist, ausdrücklich mit ein. Gerade hier findet Odell, und findet gemeinhin der Mensch, zurück zu den Wurzeln, die alle Lebewesen miteinander teilen. Keine Art lebt wirklich in einem abgeschiedenen Raum zur nächsten. Vielmehr lebt alles, was atmet, in einer unmittelbaren oder mittelbaren Symbiose, die dem Menschen oftmals erst bewusst wird, wenn sein Lebensraum, durch Naturkatastrophen und -ereignisse bedroht ist.

In diesem leuchtenden, überraschenden Blau sah ich sie: hunderte, vielleicht tausende Vögel, die sich in den seichten Gewässern versammelten und sich in riesigen flirrenden Schwärmen, bei Richtungswechseln von schwarz zu silbern changierend, in den Himmel erhoben. Plötzlich überkam es mich, und ich begann zu weinen. […] [W]eil auch ich Räume wie diesen brauchte, weil ich mich in einer einzig und allein aus Menschen bestehenden Gemeinschaft nicht wirklich zuhause fühlen konnte. Ich würde ohne diese Begegnung verkümmern […]. Mir klarzumachen, dass dieser Raum und alles darin gefährdet war, bedeutete, mir klarzumachen, dass auch ich gefährdet war. Diese Zuflucht der Tierwelt war meine Zuflucht.

Odells sensible und tiefsinnige Beobachtungen zeugen von Belesenheit und Kenntnis vielerlei Themenfelder in Kunst, Kultur, Natur und Geschichte. Ihre Feder führt sie inständig und klug. Man nimmt ihr ab, dass sie lebt, was sie fühlt und dass sie fühlt, was sie lebt. Und dass dabei Fühlen und Leben nicht im Widerspruch zum Denken stehen. Alles kann in einem Denkmodell münden und dennoch ist sie jederzeit bereit, neue Erfahrungen zuzulassen und Änderungen im Denken und Schreiben vorzunehmen. Wie der Baum in ihrer Heimat Oakland, dem „Old Survivor“, ist ihr Buch, wie sie sagt, „etwas sonderbar ‚gewachsen‘“. Das Sonderbare aber ist es, was einer Sache Charakter verleiht. Nichtstun ist ein mutig gedachtes und geschriebenes Buch, das die Zeichen unserer Zeit erkannt hat und sie dem Leser bedenkenswert und aufrüttelnd vor Augen führt. Bestenfalls geht es dem Leser ihres Buches ähnlich wie ihr: „Ich ging in dieses Buch hinein und kam als eine andere heraus.“

Titelbild

Jenny Odell: Nichts tun. Die Kunst, sich der Aufmerksamkeitsökonomie zu entziehen.
Aus dem Englischen von Annabel Zettel.
Verlag C.H.Beck, München 2021.
304 Seiten , 26,95 EUR.
ISBN-13: 9783406768316

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