Indigene Wirklichkeit in Kanada

Éric Plamondons Roman „Taqawan“ ist weit mehr als nur ein Krimi: Der Autor berichtet darin von der Lebenswelt der Mi‘gmaq und den dunklen Seiten der kanadischen Indigenen-Politik

Von Monika GroscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Grosche

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist der 11. Juni 1981. Ein ganz normaler Tag, an dem die Mi‘gmaq, die seit Jahrtausenden vom Lachsfang leben, wieder einmal ihre Netze auswerfen. Und ein ganz besonderer Tag für Océane, denn schließlich ist es ihr 15. Geburtstag. Doch nicht nur aus diesem Grund wird ihr und den anderen Angehörigen der Mi‘gmaq der Tag ins Gedächtnis eingebrannt bleiben: Als Océane mit ihren Schulkameraden mit dem Schulbus Richtung Reservat fährt, stoppt man das Fahrzeug an einer Brücke. Von dort aus können sie beobachten, wie die Polizei in einer brutalen Razzia die Fischernetze beschlagnahmt. Die Fischer nehmen das natürlich nicht widerstandslos hin, viele von ihnen werden verhaftet und es gibt sogar Tote. Doch damit nicht genug: Wenig später wird Océane vom ehemaligen Ranger Ives Leclerc schwer verletzt im Wald aufgefunden, nachdem sie mehrfach von Polizisten vergewaltigt worden war.

Leclerc, der seinen Dienst quittiert hatte, weil er nicht ertragen konnte, wie die Mi’gmaq auf ihrem autonomen Stammesgebiet drangsaliert werden, möchte dem verletzten und traumatisierten Mädchen helfen. Er beschließt, auf eigene Faust die Täter zu ermitteln. Unterstützung erhält er vom Mi‘gmaq William, der als Einsiedler im Wald lebt, und von Ex-Freundin Caroline, einer desillusionierten jungen Lehrerin aus Frankreich. Je mehr die drei ermitteln, desto mehr offenbart sich ihnen ein Netzwerk, bei dem auch die regionale Polizei ihre Hände im Spiel hat, und sie müssen feststellen, dass Océane immer noch in großer Gefahr schwebt…

So ist der Krimi-Plot von Taqawan schnell skizziert. Doch der Roman, dessen Hintergrund auf den tatsächlichen Ereignissen des sogenannten „Salmon Raid“ 1981 basiert, vermittelt ungeachtet seiner Kürze – gerade mal 200 Seiten – tiefe Einblicke in die heutigen und historischen Lebensbedingungen der Mi‘gmaq sowie in ihre jahrtausendealte Kultur. Dies verbindet der Autor Éric Plamondon, selbst gebürtiger Québecer, mit der Geschichte de Kolonisation im Osten Kanadas und den Kampf um kulturelle und politische Eigenständigkeit der „First Nations“, die Kanadas Weiten besiedelten, ehe die Kolonisatoren die Herrschaft darüber für sich beanspruchten und ihnen ihren Lebensraum entrissen.

Angesichts der thematischen Brandbreite überrascht es wenig, dass der Roman keine stringente Erzählweise verfolgt. Stattdessen sind collagenartig zahlreiche Erläuterungen in die Kriminalhandlung eingeschoben. Da finden sich neben kurzen Kapiteln über die Geschichte Québecs und die Diskriminierung der indigenen Bevölkerung ebenso Dokumentarisches zum Thema Lachsfang wie Betrachtungen über die kanadische Innenpolitik oder auch Mythen und Erzählungen der Mi’gmaq. Interessanterweise empfindet man diese Einschübe, obwohl sie die Krimihandlung nicht vorantreiben, nicht als störend, vermittelt der Autor doch so facettenreiche Einblicke in die kanadische Politik der 1980er Jahre und in die sozioökonomische Lage der indigenen Bevölkerung.

Allerdings bleibt bei so vielen unterschiedlichen Inhalten die Ausgestaltung der Figuren etwas auf der Strecke. Diese agieren eher als „Funktionsträger“, die dazu dienen, die unterschiedlichen Aspekte des Romans zu repräsentieren, denn als eigenständige Persönlichkeiten. Von ihrem Innenleben erfährt der Leser kaum etwas, insbesondere Océane bleibt von Anfang bis Ende passiv und in ihrer Opferrolle, sodass ihre Selbstermächtigung am Ende nicht unbedingt nachvollziehbar erscheint. Dies fällt aber nicht gravierend ins Gewicht, denn Plamondon versteht es so geschickt, die Grenzen von Krimiliteratur zu sprengen und mit gängigen Narrativen zu spielen, dass er dabei nicht Gefahr läuft, das Interesse des Lesers aufs Spiel zu setzen. Ein interessanter und mutiger Roman, dem hoffentlich weitere folgen.

Titelbild

Éric Plamondon: Taqawan. Roman.
Aus dem kanadischen Französisch von Anne Thomas.
Lenos Verlag, Basel 2020.
208 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783039250042

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