Gefangen ein Leben lang
In Flavio Steimanns Roman „Krumholz“ treffen eine junge gehörlose Fabrikarbeiterin und ein verwahrloster Vagabund aufeinander
Von Liliane Studer
Der Schweizer Schriftsteller Flavio Steimann, geboren 1945, veröffentlicht seit vielen Jahren Romane und Erzählungen, Theaterstücke und Kurzgeschichten. Ihn interessieren Menschen am Rand der Gesellschaft, deren Geschichten erzählt er in einer knappen nüchternen Sprache. Im Roman Bajass, erschienen 2014, greift er die Geschichte eines namenlosen, vom Hunger getriebenen Mannes auf, der zum Mörder wird, und thematisiert dunkle Seiten in der Schweizer Vergangenheit wie Armut und Verdingkinderwesen. In seinem eben erschienenen Roman Krumholz ließ sich der Autor von einem tatsächlich geschehenen Verbrechen inspirieren.
Grenzenloses Elend begleitet Agathas Leben, die lange namenlos bleibt. Ihre Mutter stirbt bei der Geburt, der Vater verliert jeglichen Halt und folgt seiner Frau bald nach. Das Kind, das seit Geburt taub ist, kommt in die „Allg. Armen- & Idioten-Anstalt St. Ottilien im Fang“ – denn wer nichts hört, ist selbstverständlich auch blöd und gerade gut genug zum Arbeiten. Doch dieses Kind hat einen unglaublichen Überlebenswillen. Sie setzt sich durch, verweigert sich, rebelliert, was schwer bestraft wird, denn Renitenz, vor allem bei einem Mädchen, gilt es mit allen Mitteln auszutreiben. Erst mit sechzehn erfährt das Kind, dass es einen Namen hat.
Im Herrenzimmer wartet vor dem Harmonium eine freundliche Frau in einer Russenbluse. Während sie ihm auf die Brust zeigt, nimmt sie die Hand des großen Kindes, führt sie an drei Fingern mit der empfindsamen Innenfläche dicht an ihren Mund und spricht, die Silben mit Sorgfalt artikulierend, das Wort, welches das Kind nicht hören kann.
A ga tha
und noch einmal
Agatha.
Nun hätte eigentlich alles gut werden können. Agatha bekommt Arbeit in einer Textilfabrik, sie hat ein eigenes Zimmer, verbringt die Sonntage mit den jungen Tessinerinnen und dort, wo die Kapelle aufspielt. Sie ist eine schöne Frau geworden. „Die Lehrerin in der Russenbluse hat ihr mit Geduld und Zuwendung zu ein wenig Selbstvertrauen und auf einen Weg in ein neues Leben verholfen.“ Doch das Glück währt nicht lange. Bei Agatha wird Tuberkulose festgestellt, sie kommt zur Erholung aufs Land, zu einer guten Familie, die nichts anderes im Sinne hat, als diese junge Frau wieder gesund werden zu lassen. Selbstverständlich darf sie nicht anpacken, muss sich ausruhen. Jeden Tag geht sie hinauf in den Wald, mit Strick- und Nähzeug. Und eines Tages kommt sie von dort nicht mehr zurück.
Hier nun kommt die andere Hauptfigur des Romans ins Spiel. Es ist Innozenz Torecht, genannt Zenz, ein Herumtreiber, ein Getriebener auch. Und einer, der ebenfalls vom Schicksal getroffen wurde. Er schlägt sich mit Lügen und Stehlen durch. Er ist nicht dumm, durchschaut sehr klar, wie der Hase läuft, warum die Reichen reich, die Armen arm sind. Und er träumt von Paris, wo er in Künstlerkreisen ein besseres Leben kennengelernt hat. Nun jedoch ist er des Mordes an Agatha angeklagt, die Beweislage ist eindeutig, den Mord streitet er nicht ab. Das Urteil steht lange vor der Verhandlung fest.
Flavio Steimann erzählt die Geschichte von zwei Verlorenen, die durch Zufall aufeinandertreffen. Der Mann als der Stärkere tötet die Frau, aus dem Nichts heraus. Es gibt keine Erklärungen für die Tat, auch nicht von Torecht, der mit seinem Leben bezahlt. Am Schluss gibt es zwei Tode, der eine noch etwas sinnloser als der andere.
Indem Steimann auf jeden Erklärungsversuch verzichtet, schafft er eine Intensität, die beinahe unerträglich wird. Sinnlosigkeit in dieser Konsequenz darzustellen, gelingt ihm durch eine schnörkellose, gleichzeitig bilderreiche Sprache. Ungefiltert dringen die Geschichten ins Innerste vor und lassen uns Leserinnen und Leser verstört zurück. Einen Schlussstrich unter diese beiden Leben zu ziehen geht nicht.
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