Wenn wieder Grafschaften und Grenzen die Schlüssel aller Kreaturen sind
Christoph Ransmayrs literarische Dystopie „Der Fallmeister“ sollte nicht (nur) als ökologischer Roman gelesen werden
Von Bernhard Walcher
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseManche Romane des oberösterreichischen ‚Sprachmagiers‘ Ransmayr folgen einer schlüssigen, wenig verwirrenden erzählerischen Ordnung, wie das in seinem (historischen) Roman Cox oder Der Lauf der Zeit der Fall gewesen ist, andere wiederum – und hier vor allem seine früheren Texte, mit denen er berühmt geworden ist – fordern und verstören den Leser bisweilen mit Anachronismen, uchronischen Zeit- und Gesellschaftsdarstellungen sowie überbordendem Geschichts- und Mythenwissen. Immer aber ging und geht es Ransmayr um das Verhältnis von Mensch, Kultur und Natur, immer wieder verknüpft er historische Figuren und Epochen mit der Gegenwart und schert sich dabei wenig um geschichtliche Kohärenz, weil es ihm eben nicht um die korrekte historische Darstellung einer vergangenen Zeit wie in Die letzte Welt (1988) oder das Durchspielen historischer Möglichkeiten etwa am Beispiel des Morgenthau-Plan in Morbus Kitahara (1995) geht, sondern um die ästhetisch-sprachliche Evokation von letztlich überzeitlichen menschlichen Befindlichkeiten und Strukturen.
In nicht wenigen seiner Werke dominieren düstere Untergangsszenarien, vorgetragen und erzählt in einer poetisch-verdichtenden Sprache, die am Ende doch nur die Hinfälligkeit menschlichen Strebens und Wirkens konturieren. So ist es auch mit seinem neuem Roman Der Fallmeister, dessen namenloser Ich-Erzähler einerseits von seiner Arbeit und Funktion als Hydrotechniker in einer klimatisch unwirtlich gewordenen Welt einer fiktiven Zukunft wohl von ein paar hundert Jahren, andererseits von seinen Familienverhältnissen, wie sie in dieser Zeit dann auch von Einflussnahmen der Syndikate und Behörden dominiert werden, berichtet.
Es geht in diesem Text – und das ist gar nicht mal ein zukünftiges, sondern (leider schon) recht gegenwärtiges Thema – um das Wasser. Dennoch wäre es verkürzt, diesen Roman einen ökologischen Thesenroman zu nennen, wenngleich die Handlung über weite Teile bestimmt ist von beklemmenden ökologischen Szenarien und dystopischen Zuständen in einer Zeit der Zukunft, die das „Ende der Epoche fossiler Energien“ markiert und in der „Wasserkriege“ die Gegenwart bestimmen. Es ist eine Zeit und Welt, die nur auf den ersten Blick nichts mit der unsrigen zu tun hat und in der Regierungen sich durchsetzen, die es verstehen, „schwundsichere Leitungen in Dürregebieten“ zu konstruieren und installieren. Es ist eine Welt, in der das Paradox Wirklichkeit geworden ist, dass der Kontinent Europa – wie alle Kontinente – der Inbegriff eines „zur gleichen Zeit versinkenden und ausdörrenden Kontinents“ ist.
Der Ich-Erzähler ist als Sohn eines Schleusenwärters am weißen Fluss am Großen (Wasser-)Fall in der Grafschaft Bandon – dahinter verbirgt sich wohl die Donau und Österreich – aufgewachsen und gehört als Hydrotechniker zu den Privilegierten einer Gesellschaft, Zeit und Territorialordnung, die vom Kampf um das Wasser und Mündungsgebiete völlig zerrissen und zerstritten ist, keine (realen und metaphorischen) Brücken mehr kennt und kennen will – kurzum: Ein Europa und eine Welt von zerfallender oder schon zerfallener politischer und sozialer Einheit. Entworfen wird eine Zukunft aus Kontrolle durch einige wenige Machthaber, Funktionäre, die allesamt getrieben sind, die eigenen Vorteile und Lebensvoraussetzungen in Form von Wasserbeschaffung gegenüber anderen, die als Feinde wahrgenommen werden (müssen), zu verteidigen. In dieser Welt spielen aufgrund der Wasserknappheit Worte wie „Deportationskolonne“ und „ethnische Säuberung“ wieder eine Rolle. Vokabeln der Vergangenheit, die das Leben in der Zukunft organisieren und nachdenklich machen, ob fortschreitende Zeit eigentlich automatisch Fortschritt bedeutet.
Letztlich, so könnte man diese Dystopie deuten, muss verwaltet und gerettet werden, was an Lebensmöglichkeiten aufgrund des kolossalen Versagens der Vergangenheit – also unserer Gegenwart – versäumt wurde an klimapolitischem Durch- und Umsetzungswillen. Als Leser und Rezensent machte man es sich aber doch allzu leicht, Ransmayrs neuen Roman darauf – auf den erhobenen ökologischen Zeigefinger – zu reduzieren. Auch wenn, das sei hier gleich eingeräumt, die redundanten Beschreibungen der ökologischen Katastrophe den Leser nicht nur verstören (sollen), sondern oftmals auch wirklich stören. Zu häufig werden die im Grunde immer wieder gleiche Situation dieser Zukunft, die Lebens- und Arbeitsverhältnisse, die Folgen der Zersplitterung Europas in noch kleinere Einzelstaaten als vor dem Wiener Kongress vom Ich-Erzähler beschrieben.
Ein Buch ist aber auch so gut oder so schlecht, wie es einen zum Nachdenken anregt, und oft genug merkt man erst im Nachgang, dass ganz verschiedene Denkrichtungen von der Lektüre ausgelöst werden, die mithin auch die Qualität von Literatur ausmachen. Ein Roman kann also auch trotz berechtigter und deutlicher Kritikpunkte, die die sprachliche oder erzählerischer Gestaltung, die Handlungsführung oder Figurendarstellung betreffen, ein beeindruckender Text sein und einen intensiven Leseeindruck hinterlassen. So ist es dem Rezensenten mit Ransmayrs neuem Roman Der Fallmeister ergangen. Denn Ransmayr ist ein Meister des literarischen Spiels, er beherrscht die souveräne Regie über Sprache und Gattungen, ohne aber dabei ins Thesen- oder Schablonenhafte abzudriften. Wie schon Cox oder Der Lauf der Zeit ist auch dieser neue Roman eine Erzählung über die Zeit, die nagt, die vergeht, die mancherlei verändert oder auch belässt. Immer aber ist diese Zeit literarisiert als Gegenwart des Menschen und letztlich ist es diese Frage, die auch im Mittelpunkt von Der Fallmeister steht: Was ist die Gegenwart für den Menschen, für seine Kultur und Lebensweise angesichts unbegreiflicher Zeitdimensionen jenseits dieser kurzen Geschichte der Zivilisation?
Dass Ransmayr den Erzähler seinen melancholischen Abgesang auf die Menschheit mit einer geradezu poetisch überbordenden, manchmal auch schwulstigen Sprache formulieren lässt, die nicht so recht zu einem technikaffinen Hydrotechniker zu passen scheint, kann man gut und gerne als Schwachstelle des gesamten Erzählkonstrukts betrachten – versteht man Ransmayr aber auch als Jongleur literarischer Schreibweisen und Gattungstraditionen, dann öffnet sich gerade in diesem Motiv die Möglichkeit, den Roman auch als Dokument einer satirisch-überzeichnenden, ironisierenden Sprech- und Schreibintention zu lesen. Schon der Untertitel des Textes – Eine kurze Geschichte des Tötens – markiert ja paratextuell ein gebrochenes Verhältnis, besser gesagt: spannungsgeladenes Verhältnis von inhaltlich-thematischer Disposition und Selbstbezeichnung. Denn mit diesem Untertitel sortiert sich der Roman ja auch ironisch gebrochen in die Erfolgsgattung der – wie ernst auch immer zu nehmenden – Sachbücher à la Eine kurze Geschichte der Menschheit oder Eine kurze Geschichte der Zeit (Hawking, 1988) ein.
In jedem Fall demonstriert Ransmayr einmal mehr sein postmodernes – und das ist hier in keinem Fall negativ gemeint – Schreiben und Literaturkonzept, insofern er über alle möglichen Gattungstraditionen und Motive vom ökologischen Thesen- und Generationsroman, von der Dystopie bis zur Familiengeschichte, von der Liebes- und Inzuchtgeschichte zwischen dem Ich-Erzähler und seiner Schwester Mira – die nicht selten ins Kitschige und Banale abdriftet – verfügt und diese verformt, miteinander verbindet und überblendet. Man darf und kann Ransmayr auch – gesetzt er habe das nicht beabsichtigt – mal hinter seinem Rücken als ironischen Autor lesen!
Denn die Figuren und auch der Ich-Erzähler wachsen dem Leser – wie so oft in Dystopien – nicht ans Herz, ja, bisweilen sind diese Figuren wie Pappkameraden, blutleer und schemenhaft. Vieles scheint nur gesagt, manches ist nicht plastisch, nicht greifbar. Natürlich liegt das auch an der Gattung Dystopie: Mit diesen Figuren will man sich nicht ernsthaft identifizieren oder bekannt machen. Ransmayr gelingt es aber, dass paradoxerweise gerade aufgrund der angeführten, auf den ersten Blick sicherlich als Mängel zu bezeichnenden Eigenheiten des Textes, dieser Roman zu einer parabolischen und symbolischen Erzählung über unsere Gegenwart und seinen Menschen gerät.
Was in diese Zukunft projiziert und als ein zeitlich immer wieder von neuem ablaufender Zyklus von Entstehen und Zerfall von Materie dargestellt wird und greifbar ist, ist in Wirklichkeit die parabolische Erzählung der Vergangenheit als Zukunft, und zwar unserer westlichen und europäischen Vergangenheit, die aber erschreckenderweise auch (und noch immer) unsere Gegenwart ausmacht: eine Mischung aus Grausamkeit und Gewalt, der Kampf um Nahrung und Wasser bei gleichzeitiger pharisäerhafter Selbstergriffenheit über soziale Projekte, politische Verantwortung und Gemeinschaftsgefühl. Unheimlich in seiner Wirkung macht diesen Roman sein Spiel mit den Zeiten und Zuständen. Befremdlich ist und nachdenklich macht die allgegenwärtige Paradoxie, dass es in dieser Zukunft wieder das Königreich Hannover gibt, aber auch eine hochtechnisierte Schwebebahn. Die Menschen sind offenbar in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zugleich – und überall gleich verloren.
Am Ende des Romans, als der Ich-Erzähler zurückfindet an die adriatische Heimatküste, an die seine Mutter von den kafkaesk agierenden Behörden wegen notwendiger „Quotensenkung“ zurückbeordert wurde, wird das Parabolische von Ransmayrs Erzählverfahren besonders deutlich: Diese Rückkehr in ein gleichermaßen wie seine Heimat-Grafschaft Bandon lebensfeindliches Gebiet birgt wenigstens noch eine Erinnerung an paradiesische Gefilde, vor allem aber auch an eine literarisierte, oftmals kulturkritisch unterlegte Süd- und Italiensehnsucht, die den Zusammenhang dieser düsteren Zukunft mit unserer Gegenwart herzustellen vermag. Ransmayrs postmodernes – und auch ironisierendes – Schreiben dokumentiert sich in dieser Zielperspektive des Ich-Erzählers ebenso wie damit die zuvor vielfach evozierte zukünftige Düsternis einer vor der Auslöschung stehenden Menschheit im literarischen Bild der Süd- und Meeressehnsucht ein wenig relativiert und versöhnt wird.
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