Widerstandskämpferin mit Mut und Zivilcourage

Neue Biografien zum 100. Geburtstag von Sophie Scholl

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sophie Scholl war eines der bekanntesten Gesichter des deutschen Widerstands gegen das NS-Regime. Neben Graf Claus von Stauffenberg, Henning von Tresckow, dem Kreisauer Kreis, dem Theologen Dietrich Bonhoeffer oder dem Einzelgänger Georg Elser ist sie heute eine Symbolfigur des „anderen Deutschlands“. Gemeinsam mit ihrem älteren Bruder Hans kämpfte sie als Mitglied der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ gegen die Diktatur des Nationalsozialismus. Für ihren Mut und ihre Zivilcourage wurde sie schließlich zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Vor hundert Jahren, am 9. Mai 1921, wurde Sophie Scholl in Forchtenberg/Kocher (Württemberg) als Tochter des liberalen Bürgermeisters Robert Scholl und dessen Frau Magdalene (geb. Müller), Rufname Lina, geboren. Nach Inge (1917), Hans (1918) und Elisabeth (1920) war Lina Sofie (so stand es in der Geburtsurkunde) das vierte Kind der Familie. Ein Jahr später wurde der Bruder Werner geboren und 1925 die Schwester Thilde. Der tüchtige und ehrgeizige Vater war bemüht, für die vielköpfige Familie in der schwierigen Zeit der Inflation die finanzielle Existenz zu sichern.

Am 1. Mai 1928 wurde Sophie in der Volksschule von Forchtenberg eingeschult. Trotz seiner erfolgreichen Bilanz als Schultheiß wurde der Vater 1929 nicht wiedergewählt. Es begann ein Kleinkrieg von Verleumdungen und Klagen und Gegenklagen; schließlich musste die Familie die Dienstwohnung im Rathaus verlassen. Der Vater fand eine Anstellung als Geschäftsführer der Maler- und Lackiererinnung in Stuttgart; als Wohnort entschied sich die Familie jedoch für Ludwigsburg. Hier besuchte Sophie die evangelische Mädchenvolksschule. Im März 1932 zogen die Scholls schließlich nach Ulm, wo sie wieder ein eigenes Haus bewohnten. Zusammen mit ihren Schwestern Inge und Elisabeth ging Sophie zur Mädchenoberrealschule.

Inzwischen hatten die Nationalsozialisten die Macht ergriffen und fanden vor allem bei der Jugend begeisternde Zustimmung. Geschickt wurde von den neuen Machthabern versucht, die Jugend auf ihre Seite zu ziehen mittels neuer Jugendorganisationen der Nationalsozialisten. Sophies Bruder Hans wurde Mitglied der Hitlerjugend und sie selbst trat 1934 dem Bund Deutscher Mädchen (BDM) bei. Ein Jahr später wurde sie sogar Jungmädelschaftführerin und war damit für rund 40 Jungmädchen verantwortlich. Im Herbst 1937 wurde Sophie zusammen mit ihren Geschwistern für einige Stunden verhaftet, weil ihr Bruder Hans wegen „bündischer Umtriebe“ verfolgt und mehrere Wochen inhaftiert wurde. Diese Verhaftung bewirkte bei Sophie eine erste innere Abkehr von den nationalsozialistischen Idealen, die durch das Novemberpogrom und den Einmarsch der Wehrmacht in Österreich und im Sudetenland noch verstärkt wurde. Die BDM-Jungmädelgruppe wurde für sie immer unwichtiger und schließlich verlor sie wegen „Untreue und unbotmäßigen Äußerungen“ ihren Posten als Gruppenführerin. Trotz der zunehmenden Distanzierung und Ernüchterung gegenüber dem Nationalsozialismus war sie noch bis 1941 in den BDM eingebunden.

Mit 16 Jahren hatte Sophie bei einer Tanzveranstaltung den vier Jahre älteren Offiziersanwärter Fritz Hartnagel kennengelernt. Durch Ausbildung und Kasernendienst konnten sich die beiden nur selten sehen; von Beginn ihrer Beziehung an mussten Zusammensein und Gespräche durch eine rege Korrespondenz ersetzt werden, die Thomas Hartnagel (Sohn von Fritz Hartnagel) 2005 in der Auswahl Damit wir uns nicht verlieren herausgab. Es war eine mitunter reibungsvolle Beziehung: so quittierte Sophie seine „Begeisterung“ für das Soldatentum mit den Worten „Sag nicht, es ist fürs Vaterland“. Mit den Kampfhandlungen im benachbarten Frankreich war der Krieg viel fassbarer geworden als beim Überfall auf das ferne Polen. Trotzdem schmiedeten Sophie und Fritz Zukunftspläne. Als Hartnagel später die Feldzüge in West- und Osteuropa und das Leiden der Bevölkerung erlebte, entwickelte er sich vom Wehrmacht-Begeisterten zum durchaus kritischen Offizier.

Nach ihrem Abitur begann Sophie im Frühjahr 1940 eine Ausbildung zur Kindergärtnerin an einem evangelischen Fröbel-Seminar. Damit wollte sie dem ungeliebten Reichsarbeitsdienst als Vorleistung für ein Studium entgehen. Diese Ausbildung beendete sie mit einem dreiwöchigen Praktikum im März 1941. Danach wurde sie dennoch zum Reichsarbeitsdienst eingezogen, den sie im Lager Krauchenwies bei Sigmaringen verbringen musste. Im Anschluss daran musste sie ab Oktober 1941 in einem Ulmer Rüstungsbetrieb noch ein halbes Jahr „Kriegshilfsdienst“ absolvieren, der inzwischen für Studierwillige eingeführt worden war.

Literatur hatte in der Familie Scholl immer eine zentrale Rolle gespielt. Die lesehungrige Sophie, die sich auch im Zeichnen ausprobierte, vertiefte sich in diesen Ausbildungsjahren auf der Suche nach ihrer eigenen Identität in die Werke von Hans Carossa, Ernst Wiechert und beschäftigte sich mit den Kirchenlehrern Augustinus und Thomas von Aquin. Darüber hinaus mit Leo Tolstoi, Fjodor M. Dostojewski, Nikolai Gogol, Charles Baudelaire und Paul Verlaine. Die Literatur gab Sophie Kraft und machte sie letztlich immun gegen die Ideologie des Nationalsozialismus.

Am 18. Mai 1942 immatrikulierte sich Sophie Scholl an der Münchener Universität für die Fächer Biologie und Philosophie und bereits im Juni bezog sie ihr eigenes Studentenzimmer. Ihr Bruder Hans hatte in München 1939 ein Medizinstudium aufgenommen. Mit Alexander Schmorell und anderen Kommilitonen, die das NS-Regime ebenfalls ablehnten, hatte er die Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ gegründet. Neben diesem inneren Zirkel der Gruppe hatten sie auch zahlreiche Mitwisser und Unterstützer. Im Juni 1942 fertigten sie die ersten vier regimefeindlichen Flugblätter von jeweils 100 Exemplaren an, in denen sie zum passiven Widerstand aufriefen. Versandt wurden die Flugschriften illegal an „ausgewählte“ Münchner Adressaten – vor allem an Intellektuelle, Künstler und politische Entscheidungsträger, von denen sich jedoch ein Drittel bei der Polizei meldete.

Im Juli 1942 wurden Hans Scholl und seine Freunde für ein Vierteljahr als Sanitäter an die Ostfront abkommandiert, wo sie als „Hilfsärzte“ unmittelbar mit der brutalen Realität des Krieges konfrontiert wurden. Nach ihrer Rückkehr stießen weitere Studenten zu ihrem Freundeskreis; auch Sophie Scholl beteiligte sich jetzt in der Widerstandsgruppe. Ihre Aufgabe bestand vor allem in der Beschaffung von Materialien (Matrizen, Saugpapier, Umschläge und Briefmarken). Mit einem neuen leistungsfähigeren Vervielfältigungsapparat konnten nun wesentlich mehr Flugschriften hergestellt werden.

Nach dem Erscheinen des fünften Flugblattes Anfang Februar 1943 verschärfte die Gestapo mit einer Sonderkommission die Fahndung nach den Urhebern der oppositionellen Flugblätter. So wurde die Universität „unter entsprechende Überwachung“ gestellt. Mit ihrem sechsten und letzten Flugblatt richtete sich die Gruppe an die Studierenden der deutschen Universitäten: „Kommilitoninnen! Kommilitonen!“ lautet die Überschrift, unter der vor dem Hintergrund der Niederlage von Stalingrad und der drohenden Vernichtung weiterer abertausender Menschenleben zu offenem Widerstand in den Hörsälen der deutschen Hochschulen aufgerufen wurde. Die Hälfte der Flugblätter (etwa 2.000 bis 3.000 Exemplare) wurde wiederum auf dem Postweg verschickt. Die anderen wollten Hans und Sophie Scholl in den weiten Hallen des Hauptgebäudes der Universität verteilen.

Am 18. Februar (es war der Tag, an dem Reichspropagandaminister Joseph Goebbels im Berliner Sportpalast in seiner Sportpalastrede zur Intensivierung des „totalen Krieges“ aufrief) gegen 11 Uhr legten die Geschwister Scholl die Flugblätter im Universitätsgebäude aus vor Hörsaaltüren, auf Fenstersimsen oder Mauervorsprüngen. Die restlichen Flugblätter ließen sie einfach in den Lichthof fallen. Dadurch wurden sie vom Hausmeister entdeckt und festgehalten. Von der alarmierten Gestapo wurden die Geschwister in die Münchner Gestapo-Leitzentrale überführt und dort dem Haftrichter vorgeführt. Trotz mehrfacher Verhöre stand Sophie zu ihrer Handlungsweise und wollte die Folgen auf sich nehmen. Inzwischen war auch der Mitstreiter Christoph Probst (23) in Haft genommen wurden.

Nur vier Tage später, am 22. Februar 1943, wurden Hans und Sophie Scholl sowie Christoph Probst in den Justizpalst gebracht. Roland Freisler, der Präsident des NS-Volksgerichtshofs, war extra nach München gekommen war, um den Schauprozess selbst zu leiten. Wegen „Wehrkraftzersetzung“, „Feindbegünstigung“ und „Vorbereitung zum Hochverrat“ wurden die Geschwister zum Tode durch das Fallbeil verurteilt und noch am Nachmittag im Strafgefängnis München Stadelheim hingerichtet. Hans und Sophie Scholl wurden am 24. Februar auf dem Friedhof Perlacher Forst in München-Obergiesing beerdigt. Im April 1943 gab es einen zweiten Weiße-Rose-Prozess, bei dem Alexander Schmorell, Willi Graf und der Musikwissenschaftler Professor Kurt Huber zum Tode und zehn weitere Angeklagte zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden.

Zum diesjährigen 100. Geburtstag von Sophie Scholl sind einige Biografien erschienen. Sie konnten sich des Nachlasses von Inge Aichner-Scholl (1917-1998) im Münchner Institut für Zeitgeschichte (IfZ) bedienen, der umfangreiche Unterlagen und Dokumente aus dem familiären Umfeld, so insbesondere umfangreiche Korrespondenzen der Geschwister Scholl, und zum Widerstandskreis „“Weiße Rose“ beinhaltet. Der Theologe und Religionslehrer Werner Milstein, der im Vorjahr mit Einen Platz in der Welt haben bereits eine Biografie über Dietrich Bonhoeffer vorgelegt hat, erzählt in Einer muss doch anfangen! die Lebensgeschichte dieser mutigen jungen Frau mit allen Höhen und Tiefen, Offenbarungen und Geheimnissen. In 16 Kapiteln werden ihre wichtigsten Lebensstationen geschildert und mit zahlreichen Quellennachweisen und Zitaten belegt.

Der Autor wendet sich dabei sicher vorrangig an junge Leser, die nicht die Muße haben, mehrere hundert Seiten zu lesen und dennoch einen möglichst ausführlichen Eindruck von der „Weißen Rose“ und den Geschwistern Scholl bekommen möchten. Daneben bieten sich immer wieder kurze Einblicke in den Alltag während des Nationalsozialismus, mit denen Milstein deutlich macht, wie schwierig es war, in dieser Zeit eine andere Position als die politisch vorgegebene zu vertreten. Doch die Biografie, die durch einige historische Abbildungen ergänzt wird, macht jungen Menschen Mut, im eigenen Leben für wertvolle Überzeugungen einzustehen. Der Buchtitel Einer muss doch anfangen! geht auf Sophie Scholl zurück, die damit auf eine der unverschämten Anschuldigungen von Freisler geantwortet haben soll.

Der evangelische Pfarrer Robert. M. Zoske hat in der Vergangenheit schon mehrfach Publikationen zur „Weißen Rose“ vorgelegt – u.a. die Hans-Scholl-Biografie Flamme sein! Hans Scholl und die Weiße Rose (2018). Mit Sophie Scholl: Es reut mich nichts folgt nun das Porträt einer Widerständigen (so der Untertitel). Die Biografie, die bereits im November erschien, idealisiert die junge Widerstandskämpferin nicht, vielmehr versucht Zoske, das verklärte Bild von Sophie Scholl zurechtzurücken. Mit einer kritischen Herangehensweise versucht er zu differenzieren, was ist Legende, was ist gesichert oder ungesichert und was ist Fantasie.

Hinter dem „Heldinnenbild“ will er das vielschichtige Porträt einer unangepassten Frau jenseits des Mythos sichtbar machen. Detailliert wird das christlich geprägte familiäre Umfeld geschildert, in das sich nationalsozialistisches Gedankengut hineindrängt, dem die drei ältesten Kinder mit ihren frühen HJ- und BDM-Aktivitäten zunächst verfallen. Mit Eifer waren sie bereit, hier höhere Aufgaben und Ämter zu übernehmen. In ihren Briefen – vor allem mit ihrem Freund Fritz Hartnagel – verfolgt Zoske die Zerrissenheit von Sophie Scholl, ihre religiöse Hinwendung sowie ihre keineswegs gradlinig verlaufende politische Entwicklung.

Mit ähnlicher Akribie wird die Abkehr von Hans und Sophie Scholl vom NS-Regime belegt, für die der Autor kein „Erweckungserlebnis“ sieht. Es war vielmehr ein allmählicher Gesinnungswandel als eine Folge von Vorfällen, bei denen ihr ausgeprägter Individualismus, der schon früh in ihrer Erziehung angelegt war, mit dem NS-System in Konflikt geriet. Hans Scholl war derjenige, der die „Weiße Rose“ ins Leben gerufen hatte, ohne ihn hätte es die Gruppe nicht gegeben, aber ohne Sophie Scholl hätte es den zweiten Teil der „Weißen Rose“, den zweiten Teil der Widerstandsaktion in seiner Intensität nicht gegeben. Zoske gelingt es, den Blick für eine komplexe Persönlichkeit zu öffnen, die auch heute noch ein Vorbild ist. Neben dem Inge Aichner-Scholl-Nachlass griff er bei seinen Recherchen auch auf Material aus nationalen und internationalen Archiven zurück.

Die Sophie Scholl-Biografie von Barbara Beuys, die bereits 2010 bei Hanser erschien, ist die wohl bislang umfassendste, die die innere Entwicklung von Sophie Scholl von der überzeugten Aktivistin zur Widerstandskämpferin schildert. 2011 erschien im Insel Verlag eine Taschenbuchausgabe, die nun zum 100. Geburtstag wieder aufgelegt wurde.

Der Vollständigkeit halber sollen auch die beiden Neuerscheinungen Sophie Scholl: Aufstand des Gewissens von Simone Frieling und Wie schwer ein Menschenleben wiegt: Sophie Scholl von Maren Gottschalk erwähnt werden, die bei literaturkritik.de bereits kurz vorgestellt bzw. rezensiert wurden.

Titelbild

Werner Milstein: Einer muss doch anfangen! Das Leben der Sophie Scholl.
Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2021.
208 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783579071558

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Robert M. Zoske: Sophie Scholl. Es reut mich nichts.
Propyläen Verlag (Ullstein), Berlin 2020.
448 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783549100189

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Barbara Beuys: Sophie Scholl. Biografie.
Insel Verlag, Berlin 2021.
493 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783458681397

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