Ebenso grundlegend wie problematisch
Der Band „Gattungstheorie“ versammelt Texte zu einer immer aktuellen Instanz der Literatur- und Kulturwissenschaften
Von Linda Maeding
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDass Dinge ihre Bedeutung erst entfalten, wenn wir sie kategorisieren, ist ein Allgemeinplatz. Dass wir uns mitunter daran erinnern, ist dennoch hilfreich, wird doch das Denken in und mit Hilfe von Kategorien oft als Schubladendenken verbrämt. Eine der zentralen Kategorien der Literaturtheorie ist die der Gattung; die Ein- und Aufteilung in Gattungen ein erstes Orientierungsmuster, noch bevor überhaupt andere Aspekte ins Spiel kommen. Mit dieser ebenso simplen wie einleuchtenden Aussage begründen Werner Michler und Paul Keckeis auch die Motivation der von ihnen herausgegebenen Anthologie hochkomplexer Texte zur Gattungstheorie.
Im Gegensatz zu diesem Grundbedürfnis nach Orientierung, so die Herausgeber in der langen Einleitung zu „Gattungen und Gattungstheorie“, stehe jedoch der ambivalente Status der Gattungen in den Geisteswissenschaften, oder anders: „der verschämte, ausweichende und auf Komplikation einfacher Sachverhalte setzende Gestus, mit dem sich Literatur- und Kulturwissenschaften den Gattungen nähern.“ (S. 7) Gattungen sind uns also einerseits selbstverständlich, wenn wir es mit Literatur zu tun haben, sie sind andererseits aber seit der Moderne auch „hoch problematische Residuen einer überwundenen Poetik, deren Geltung immer nur ‚eingeklammert‘ behauptet werden kann.“ (S. 8)
Diese Problematik wird in insgesamt 18 Beiträgen ausgesponnen, beginnend bei Peter Szondis Aufsatz Friedrich Schlegels Theorie der Dichtarten, der eine der Grundfragen der Gattungstheorie reflektiert – die Spannung zwischen Systematizität und Historizität – bis hin zu Rosi Braidottis ‚intensive gender‘ und das Ende von Gender. Die Texte umfassen Klassiker wie den genannten von Szondi, von Michail Bachtin Sprechgattungen (über die Beschreibung von Gattungen als besondere Fälle von Äußerungen), von Gérard Genette Einführung in den Architext, von Jacques Derrida Das Gesetz der Gattung sowie die eigenwilligen Ausführungen von Gilles Deleuze und Félix Guattari zu Novellen und von Fredric Jameson zur dialektischen Anwendung der Gattungstheorie.
Jameson unterscheidet in metareflexivem Ansatz zwei Arten des Gattungsdenkens: hermeneutische (semantische) und strukturalistische (syntaktische). Was der marxistische Literaturtheoretiker als Drittes hinzufügt ist: Geschichte. Aber auch Stephen Greenblatts Beitrag zu Bauernmorden und Rebellion oder Pierre Bourdieus Überlegungen zu Science Fiction denken Geschichte mit, hier über die Gattungsreflexion im soziologischen Zusammenhang: Gattungen sind bei Greenblatt als Austragungsort von Konflikten und Kämpfen um soziale Zugehörigkeiten sowie Klasse zu verstehen. Einen anderen, in der Gattungstheorie unterbelichteten Aspekt bringt Paul Zumthor als Mediävist ein, indem er Mündlichkeit in der Dichtung fokussiert, bei der anders als in der Schriftkultur nicht der Wortlaut im Mittelpunkt stehe, sondern etwa Rhythmus.
Die Auswahl der Herausgeber ist originell, dank der Zusammenstellung von strukturalistischen / poststrukturalistischen Texten, die im 20. Jahrhundert maßgeblich zum Wiederaufleben von Gattungstheorien beitrugen, und neueren Positionen, unter anderem von Linda Williams zum Zusammenhang von Geschlecht und Gattung (Film Bodies). Außerdem ist der derzeit eher im Zusammenhang mit den Digital Humanities präsente Literaturwissenschaftler Franco Moretti mit einem Beitrag zur Romangattung vertreten, sowie der Filmwissenschaftler Jason Mittell, der für seinen Beitrag über das Fernsehen eben nicht vom Text ausgeht, sondern von diskursiven Formationen und Praktiken.
Die Einleitung – zugleich Schlaglichter setzender Überblick und Essay für sich genommen – geht von der Geschichte der Gattungstheorie (I) über zu einem Abriss der Texte selbst (II) und begründetdie anspruchsvolle Aufgabe der Textauswahl: Gattungstheorie – so das leitende Kriterium – solle sich nicht auf Technisches beschränken, sondern müsse ästhetische, wissenschaftliche und soziokulturelle Dimensionen integrieren (S. 14). Dies erklärt den Pluralismus der vertretenen Ansätze, die ganz unterschiedliche Schulen, Themen und auch Disziplinen zu Wort kommen lassen. Zwar bildet das literaturwissenschaftliche Gattungsdenken den Kern, doch kommen gerade in den Beiträgen jüngeren Datums auch die Medien- und Filmwissenschaften, die Rhetorik, Soziologie und überhaupt die Kulturwissenschaft zu Wort.
Es geht also keineswegs nur um literarische Gattungstheorie, und es geht auch nicht – anders als der Begriff möglicherweise suggeriert – nur um die Anwendung auf Produkte der sogenannten Hochkultur. Vielmehr konstatieren die Herausgeber, dass es auch heute noch kein ausgewogenes Verhältnis gebe zwischen der Theoretisierung populärer und künstlerisch elaborierterer Gattungen, das Gattung als „Instanz von Transtextualität“ (S. 24) aber eigentlich erfordert.
Der letzte Teil der Einleitung widmet sich dann den aktuellen Anschlüssen (III) und führt noch einmal die grundlegenden Funktionen dieser Kategorie vor Augen: „Ohne Analyse der Gattungsdimension ist weder Literatur- noch Medientheorie, weder die Analyse populärer Kulturen und ihrer Medienformate noch die der etablierten Künste vollständig und sinnvoll.“ (S. 43)
Gerade weil aber Gattung, wie die Herausgeber argumentieren, neben der Funktion als Gedächtnis sowie als Medientheorie auch eine unerlässliche Reflexionsinstanz der Gegenwart ist, wäre es sicher aufschlussreich gewesen, mehr über den Einfluss der Digitalisierung und der im Netz produzierten Kultur auf Gattungen, ihre Erweiterung und mögliche Redefinition zu erfahren – Internetgattungen und der digital turn werden in der Einleitung nur in Hinblick auf ihr Transformationspotenzial erwähnt. Das schmälert dennoch nicht den Lektüre-Ertrag dieses Bandes, der nachdrücklich unter Beweis stellt, dass Gattungen keine nachträglichen Konstrukte sind, wie Michler und Keckeis schreiben: Die Wirkungsmacht von Gattungen erweist sich nicht einmal primär in der Theorie, sondern in der Kultur selbst.
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