Flanieren in Zeiten des Terrors

Hilmar Klutes Paris-Roman „Oberkampf“

Von Hannes KraussRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hannes Krauss

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwei Jahre nach seinem vielgelobten literarischen Debüt (Was dann nachher so schön fliegt – besprochen in literaturkritik.de 11-2019) hat Hilmar Klute einen neuen Roman vorgelegt. Oberkampf spielt im Paris des Jahres 2015, als im Januar islamische Terroristen fast die gesamte Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo auslöschten und im November andere Täter mit ähnlichen Motiven im Musikclub „Bataclan“ und in der Umgebung ein Blutbad mit 130 Toten anrichteten.

Protagonist in Oberkampf ist Jonas Becker, Mitte Vierzig. Er hat in Berlin seine kleine Eventagentur abgewickelt, sich gleich auch von der Lebensgefährtin (und Geschäftspartnerin) getrennt und möchte nun in Paris im Auftrag eines deutschen Verlags für eine Biografie über den dort seit Jahren lebenden Schweizer Schriftsteller Richard Stein recherchieren – und einen privaten Neuanfang wagen. Der Verlag finanziert ihm ein kleines Appartement in der „Rue Oberkampf“ – im bei den „Bobos“ („bourgeois-bohémiens“) beliebten 11. Arrondissement. Von dort aus macht er sich auf den Weg zu Gesprächen mit Stein – in der Wohnung, in Parks und Restaurants –, einmal reist er mit ihm nach Kalifornien, um dessen Sohn zu suchen. Parallel zur Haupthandlung wird Beckers Beziehung zu einer jungen Französin geschildert, die er gleich am ersten Pariser Abend kennenlernt und mit der er sich regelmäßig trifft – im Café und im Bett (meist während Christines Mittagspause, die als Social-Media-Expertin im französischen Staatsarchiv arbeitet). Aufgeblättert werden diese Alltags–Szenen und -Bilder vor dem Hintergrund der islamistischen Terroranschläge jenes Jahres. Am Tag nach seiner Ankunft in Paris wurde der Protagonist fast Zeuge der Attacke auf die benachbarte Charlie Hebdo-Redaktion, und der Roman endet mit Beckers Vorfreude auf ein Rock-Konzert; „Heavy Metal“-Fan Christine hat Karten für die „Eagles of Death Metal“ im „Bataclan“ besorgt.

Klute verknüpft brandaktuelle Themen (islamistischer Terror, Gentrifizierung) mit solchen aus dem Fundus zeitgenössischer Literatur (Midlifecrisis, Literaturbetrieb). Das macht er routiniert und eloquent, aber an die Originalität und Brillanz seines Erstlings reicht Oberkampf nicht heran. Die langen Gespräche Beckers mit dem Egomanen Richard Stein ermüden auf Dauer und werden auch nicht interessanter durch (gewiss nicht absichtslos platzierte) Hinweise auf reale Figuren der literarischen Welt; ob sich hinter dem fiktiven Richard Stein Paul Nizon verbirgt und hinter seinem (und Beckers) Verlag das Haus Suhrkamp, ist im Grunde unerheblich. Ein anklingendes – „klammheimliches“ – Verständnis des Protagonisten für die Motive der Terroristen (nicht für ihre Taten) mag provozieren, aber bei Michel Houellebecq funktioniert das überzeugender und provokanter. Die Verquickung von privater und politischer Krise wirkt aufgesetzt, Nebenhandlungen wie die Kalifornien-Reise oder der Suizid von Beckers ehemaligem Geschäftspartner bleiben funktionslos; des Autors Hang zum schmückenden Adjektiv erzeugt eher angestrengte Bilder als Poesie, und die Beschreibung einer früheren Begegnung des Protagonisten mit dem Literaturwissenschaftler Hans Mayer kann als späte Rache eines Gekränkten an einem (anderen) Narzissten (miss)verstanden werden.

Klute ist im Grunde kein Erzähler, aber er ist ein scharfsinniger Beobachter und gepflegter Stilist. Originelle Milieuschilderungen und präzise Dialoge entschädigen für fehlende erzählerische Konsistenz. Die Bilder von Pariser Märkten in Steins fiktiven Texten sind so lebendig, dass man die ausliegenden Produkte zu riechen vermeint: Stein

„bewundert die sorgsam drapierten Früchte, den noch vom letzten Lebenshauch frisch gehaltenen Loup de Mer auf seinem weißen Eisbett, die rosafarbenen Garnelen und ihre grauen kleinen Schneckenschwestern in den Schüsseln; weitaufgerissene Seeteufelmäuler, die voller Tiefseegeschichten sind, die wie auf dem Reißbrett gezogenen Gardemaß-Doraden; dann die mit tausend Armen im Eismeer wühlenden Tintenfische, der Fangstolz, den die Händler hier zeigen. Er lobt die ernste Geschäftigkeit der Marktleute, die redliche Abwiegekunst, das in Sekundenschnelle parate Wechselgeld.“

Steins Biograf Jonas Becker ist allerdings in ein anderes Paris geraten: Der Tatort des Charlie Hebdo-Attentats „war eine Insel der Trauer mit geschickt eingesäten Blumen des Hasses. Die Trikolore-Fähnchen zwischen Mauerritzen, die in Plastikfolien eingeschweißten Tulpen und Rosen, das rote, wie dickes Blut auf den Beton fließende Wachs – alles schäumte über vor Bedeutung und symbolischer Kampfansage.“ Wenn Jonas durch die Straßen streifen möchte – „ziellos, wie er das in seiner Jugend oft getan hatte“ –, muss er desillusioniert feststellen:

„du läufst wie ein dummes Tier durch die Welt, und am Ende stehst du leer und ratlos vor einem Café oder einem Bahnhof und hast nichts weiter verstanden als dies: Die Welt kommt wunderbar ohne dich aus und du darfst dich jetzt still auf einen Stuhl setzen, irgendetwas trinken und für lange Zeit einfach den Mund halten. Paris war eine Stadt der grußlosen Leute, der engen Bürgersteige und der weitläufigen Friedhöfe, in die man durch große, feierliche Steintore gelangte […].“

Einmal fährt er mit Christine in die Banlieus – „dorthin, wo die Leute wohnen, die uns umbringen wollen“. Durch noch einigermaßen ansehnliche Vorstädte (in denen die Stadt zwar „ausfranste […], aber immer noch auf ihrer Würde“ bestand) und Gegenden mit „ein bisschen futuristischer Architektur“ gelangen sie in Viertel, in denen „die Stadt immer blasser“ wird. „Die Häuser [wurden] unspektakulärer, am Ende waren es auch nur noch Wohnblocks, die sie sahen, Balkone, aus denen Satellitenschüsseln ragten, wie falsch gelandete Ufos.“ Weiter geht es in Quartiere, von denen Christine meint: „Die Menschen, die dort wohnen […], können sich kein Leben leisten und leisten sich deshalb Gewalt.“ Das „endgültige Elendserlebnis“ schließlich beschert „die Allée Salvador Allende, eine Allee der Trostlosigkeiten mit Bauzäunen am Rand und einer tristen Idee von endlosem Gehen. Manche Straßen, dachte Jonas, konnten einfach nur nach Menschen benannt werden, die ermordet wurden.“ 

Die Beschreibung des Ausflugs in die Pariser Vorstädte, in denen gedeiht, was die Bobos in der Metropole heimsucht und schockiert, gehört zu den authentischsten Passagen des Romans. Steins Flanieren bleibt eine leicht durchschaubare Selbstinszenierung, Jonas Becker aber wird zum (bedauernswerten?) Wiedergänger einer literarischen Figur aus dem 19. Jahrhundert. Er kann nicht mehr absichtslos und entspannt durch die Stadt bummeln, sondern wird getrieben von (Selbst-) Verpflichtungen, aufgehalten von Katastrophen, gedemütigt von missmutigen Kellnern, konfrontiert mit Elend und Gewalt – er wird zum repräsentativen Paris-Besucher des 21. Jahrhunderts. So gesehen, ist Oberkampf dann doch ein lesenswertes Buch.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Hilmar Klute: Oberkampf.
Galiani Verlag, Berlin 2020.
320 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783869712154

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