Dementer Psychiater

Will Self vollendet mit dem Roman „Phone“ seine Trilogie über Dr. Zachary Busner

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

…. ….! und noch einmal …. ….! zwei Vierergruppen …. ….! und immer weiter …. ….! beharrlich hartnäckig …. ….! auch wenn man es heute nur noch recht selten hört …. ….! Wenn doch, dann ist’s nicht echt – eine Aufnahme eines alten Telefons …. ….! mit starkem Halleffekt …. ….!

Was für ein sperriger und verrätselter Einstieg in ein Buch! „Zwei Vierergruppen“: Menschen, Gegenstände oder Ziffern? Wer oder was ist „beharrlich hartnäckig“? Da folgen zwei Fast-Synonyme aufeinander – ist das nun schlampig oder nachdrücklich? Der produktive englische Schriftsteller Will Self, geboren 1961, sagt von sich, dass er nicht für Leser schreibt. Diesem Grundsatz bleibt er zu Beginn seines Romans Phone in einem Maße treu, das so manchen potentiellen Leser abgeschreckt haben könnte.

Betrachten wir das Original!

…. ….! and again …. ….! Two groups of four …. ….! On it goes …. ….! insistently persistently …. ….! not that one hears it quite so much nowadays …. …..! If one does it’s a fake – a recording of an old phone …. ….! done with a lot of echo …. ….!

Der Übersetzer Gregor Hens bringt für das englische „fake“ mit „nicht echt“ die beste Lösung. „Fake“ und auch „Fälschung“ wären unangebracht. Vorher ist der Übersetzer schon an Grenzen gestoßen – nicht seine eigenen, sondern die der Kongruenz zwischen dem Sprachenpaar Englisch und Deutsch. Die Ähnlichkeit von „insistently“ und „persistently“ lässt sich im Deutschen nicht wiedergeben.

Im Originaltext stoßen wir früh auf das Wort „phone“, das hier den Gegenstand Telefon meint. Der Titel Phone aber ist mehrdeutig: Telefon, telefonieren, der Imperativ „Telefoniere / Telefoniert!“ – oder alles zusammen. Deshalb war es richtig, den englischen Titel unübersetzt zu lassen.

Der Roman wurde in der Technik des „Bewusstseinsstroms“ geschrieben. Für diese spezielle Ausprägung des inneren Monologs, ein radikales personales Erzählen, gibt es zahlreiche Definitionen, jedoch kaum Handreichungen, die dem Leser das Entschlüsseln erleichtern, von einem „Rezeptionsrezept“ ganz zu schweigen. Ein englischsprachiger Literaturkritiker gesteht, er habe den Roman zunächst für „undurchdringlich“ gehalten und erst ab etwa Seite 200 begriffen, worum es geht. Da kann man erschrecken oder zum Durchhalten ermutigt werden.

Immerhin findet man bald heraus, wem das Telefon gehört: dem mittlerweile 78-jährigen Psychiater Zachary („Zack“) Busner, dem wir schon in Will Selfs Romanen Regenschirm und Shark begegnet sind. Zusammen mit Phone bilden diese Bücher eine Trilogie, für die der Begriff „Jahrhundert-Trilogie“ hier vermieden wird, weil er inflationär zu werden droht und schon über Bücher von Ken Follett und Carmen Korn zu hören ist.

In Regenschirm holt Dr. Busner 1971 die Feministin Audrey De’Ath (was den sprechenden Namen „Death“ ergibt), ins Leben zurück, die nach dem Ersten Weltkrieg ein Opfer der Europäischen Schlafkrankheit (Encephalitis lethargica) wurde. Für eine literarische Figur, deren Bewusstsein zwischen der fernen Vergangenheit als Munitionsarbeiterin und der Gegenwart als Patientin pendelt, erweist sich die Technik des Bewusstseinsstroms als ideal. Polyphonie ist dabei wichtiger als Klarheit, und die handelnden Figuren werden der Stimmführung durch den Autor unterworfen.

Shark geht zeitlich zurück und schildert, wie Busner und Kollegen in der psychiatrischen Kommune „Concept House“ nicht zwischen Ärzten und Patienten unterscheiden. Verrückt sind nicht einzelne Personen, sondern die psychotische Gesellschaft mit ihrem Hang zur Massenvernichtung. Der Bewusstseinsstrom erfasst eindringlich die erlebten Bilder und sprachlichen Äußerungen während eines therapeutischen LSD-Trips.

Will Self hat sich nie gescheut, anerkannte Wahrheiten als brüchig darzustellen. Die schöne Welt der Affen stülpt die Evolutionstheorie um, wenn Schimpansen einen Menschen dazu bringen, sich zur „Schimpansität“ zu bekennen. Die Quantitätstheorie des Irrsinns postuliert, dass es in einer Gesellschaft eine bestimmte Menge geistiger Gesundheit gibt. Ist sie aufgebraucht, bleibt für die anderen Menschen nur der Irrsinn. Dr. Zachary Busner taucht hier erstmals auf.

Auch in Phone sind Arzt und Patient eins, denn der Psychiater Busner ist dement. In seinem Kopf und im Roman geht es wüst durcheinander. Gedanken und Ängste, Erinnerungen und Hoffnungen tauchen auf und verschwinden wieder. Und immerzu klingelt das Telefon, das Busner von seinem Enkel Ben bekommen hat, damit er dank digitaler Kommunikation den Kontakt zu der für ihn zerfallenden Welt nicht völlig verliert. Dieser Ben ist Autist und trickreicher Hacker. Weil er auf Kriegsverbrechen stößt, in die der Geheimdienst verwickelt ist, muss man sich Sorgen um ihn machen.

Der Rezensent gesteht, den plötzlichen Perspektivwechsel inmitten eines Satzes nicht beim ersten Lesen bemerkt zu haben. Wohl aber die vorübergehende Tempoverschärfung nach diesem Wechsel zu einem weiteren „alten Bekannten“ aus früheren Romanen von Will Self: Jonathan De’Ath, geheimer Agent, geheimer Homosexueller, allgemein „Schlachter“ genannt. Eine schillernde Persönlichkeit, bei deren Charakterisierung man viele Adjektive bemühen muss, denn er ist chaotisch und penibel, durchtrieben und leidenschaftlich, weitsichtig und beschränkt, falsch und ehrlich zugleich. Seine zweite Identität „Squilly“ als personifizierter Penis ist nicht die glücklichste Erfindung des Autors.

Zusammen mit dem jüngeren Oberst Gawain Thomas, einem so empfindsamen wie tollkühnen Panzerkommandanten, bildet der „Schlachter“ das wahrscheinlich skurrilste Liebespaar in der englischen Literatur. Abseits von giftiger Satire und pessimistischem Ingrimm gibt es einen kleinen Betrug wie aus einem Alltagsroman: Thomas erfindet dienstlich bedingte Übernachtungen, nur um beim „Schlachter“ sein zu können. Offenbar misst der Autor diesem Offizier besondere Bedeutung bei, denn seine Kriegserlebnisse im Kosovo und im Irak werden breit ausgemalt. Der damalige britische Premier Tony Blair bekommt sein Fett weg. Sein Name wird frech zu „TeeBee“ („TB“) gekürzt, was dem deutschen „Tb“ oder „Tbc“ für Tuberkulose entspricht.

Nach und nach kann der unermüdliche Leser immer mehr Fäden entwirren, immer mehr Stimmen zuordnen. Lohnt die Mühe? Ja und nein.

Ja, weil ein gewaltiges unpathetisches Sprachkunstwerk die Brüchigkeit der Kommunikation mit uns selbst und mit anderen nicht thesenhaft, sondern an prallen tragikomischen oder gar grotesken Figuren zeigt. Ja, weil der Kulturpessimismus hinsichtlich der vergeblich nach Rettung strebenden Menschheit nicht weinerlich daherkommt, sondern mit beißender Satire und albernem Humor bis hin zum Slapstick. Nicht zuletzt ein lautes Ja, weil der Übersetzer Gregor Hens das Textungetüm so hervorragend ins Deutsche bringt, dass jeder Ton sitzt und gewollte Unklarheiten bestehen bleiben, jedoch keine neuen entstehen.

Nein, wo sprachliche Kunstfertigkeit sich verselbständigt und dem Leser gegenüber rücksichtslos wirkt. Nein, wo die Grenzen zwischen Autor und Figuren verwischt werden, so dass man Gedankenfetzen nicht zuordnen kann. Ein lautes Nein dort, wo sexuelle Themen schlüpfrig und obszön abgehandelt werden.

Am Ende einer Lektüre, die sich nach Tagen statt nach Stunden bemisst, weil dieses Buch kein „page turner“ ist, sondern ein komplexes literarisches Gebilde, stehen Worte über Busner, die einen das Groteske und die Slapsticks vergessen lassen: „(…) doch was ihm im Bewusstsein bleibt, zu jeder Zeit, wie jedem von uns, ist der Tod.“

Titelbild

Will Self: Phone.
Aus dem Englischen von Gregor Hens.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2021.
640 Seiten , 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783455007916

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