Vom Ende einer Anekdote

Olivia Kuderewski schickt mit ihrem Romandebüt „Lux“ zwei junge Frauen in die Wüste von Nevada

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie ist das, wenn man plötzlich Antidepressiva absetzt? Landet man dann in narkoleptischen Phasen und erlebt Blackouts? Das fragt sich eine junge Frau, deren Name den Romantitel liefert: Lux. Der Name klingt wie der jener Raubkatze, die wir mit der Redewendung verbinden, jemand habe Augen wie ein Luchs. Lux ist aber auch das lateinische Wort für Licht und bezeichnet zugleich die Maßeinheit für die Beleuchtungsstärke. Was hat das alles mit der jungen Frau gleichen oder gleichklingenden Namens zu tun?

Eigentlich nichts oder wenn, dann auf eine seltsam konträre Weise. Genauer gesagt scheint diese Lux, die in ein Flugzeug steigt, um in New York anzukommen und von dort den Kontinent von Ost nach West zu durchqueren, das Gegenteil jener Wortbedeutungen zu verkörpern. Ihr fehlt es an der Wachheit des scharfen Blicks, sie lässt sich lieber treiben, um vom einen ins andere Chaos zu stürzen. Genauso wenig taugt sie zur Lichtgestalt, vielmehr zieht es sie offenkundig ins Dunkle, Ungewisse. Das klingt zwar nicht allzu verlockend, aber eine Abenteuertour wird die Reise dann doch – übrigens auch sprachlich, denn Olivia Kuderewski besitzt ein Talent für den schrägen Blick, der wahrnimmt, was wir sonst lieber ausblenden. Ihre Lust am Sezieren lässt uns erkennen, wie das Hässliche, das Grausame als gleichsam böse Frucht dem Schönen innewohnt.

Der Roman beginnt mit der Beschreibung einer sich stetig verändernden Landschaft, als erlebten wir im Zeitraffer eine lange Kamerafahrt zu einem Roadmovie. Mit den ersten Zeilen lädt uns die Autorin ins Metaphorische ein, dem sie bis zum Schluss literarisch die Treue hält: „Wenn man in den Westen fährt, hat man die Sonne jeden Morgen im Rücken. Sie treibt einen in den eigenen Schatten und brennt auf den Hinterkopf, bis die Reste des Vorangegangenen verdampfen und träge in der Luft stehen bleiben, während man selbst nur noch ein Motorengeräusch in der Ferne ist.“

Das Unterwegssein wurde schon in zahllosen Filmen und Romanen zu einer Fahrt in die Freiheit oder zur Selbstfindung, zur Reise ins eigene Ich. Wobei das sich wandelnde Außen, sei es Natur oder urbane Räume, gern als Spiegelung der seelischen Innenräume dient. Bei Kuderewski funktioniert das ähnlich, irritierend allerdings, wie desolat ihre Szenerien erscheinen. Kaum anzunehmen, dass dagegen Antidepressiva wirklich helfen. Nein, man schafft es wirklich nicht, „die Sonne einzuholen, auch wenn man ihr ununterbrochen hinterherjagt“.

Wer ist diese Lux? Auf jeden Fall eine junge Frau, die im Reisegepäck Richtung USA eine Menge diffuser Ängste mitbringt, Erinnerungen an einen toten Freund, außerdem Tabletten gegen Depressionen und den sehnlichen Wunsch, den Himmel über ihr aufzureißen, der sie wie eine übergestülpte gläserne Haube einengt. Die Reise und 5000 Dollar auf der Kreditkarte sollen sie von dem einen befreien und das andere ermöglichen. In New York geschieht ihr sogleich, was wohl noch den meisten Touristen widerfuhr: Da man schon alles x-mal auf Bildschirmen gesehen und gehört hat, kommt einem die Stadt am Hudson River nie wirklich fremd vor. Im Gegenteil, die Welthauptstadt ist für ihre Besucher eine Stadt der ewigen Déjà-vus. Nun also sitzt Lux auf dem Times Square, um selbst „ein winziger Punkt zwischen rechtwinkligen Steintürmen“ zu sein, „tief unten im Neonparadies“.

Mit dem Bus fährt sie weiter nach Detroit – ausgerechnet Detroit, dessen Glanzzeiten als Autostadt lange vorbei sind und die längst in Agonie verfallen ist. Der geniale Theaterregisseur Robert Wilson hatte schon Ende der 1970er Jahre diese Zeitungsschlagzeile gefunden und sie zum Titel eines theatralischen Environments umfunktioniert: Death, Destruction and Detroit – ein trauriges Epigramm auf eine Stadt, in der auch Lux überall das Kaputte findet, nur das Lebendige nicht. Die Menschen fehlen hier in der Kulisse.

Während der Fahrt verlangt es sie nach einer Tablette, die sie geräuschvoll aus der Blisterverpackung drückt und dabei denkt: „Jetzt weiß jeder in diesem Bus, dass du durchgeknallt bist.“ Sie verspricht sich von der Reise tatsächlich so etwas wie eine Therapie. Und eine Therapeutin scheint nun auch ins Spiel zu kommen. Sie war irgendwo auf der Strecke zugestiegen, während Lux schlief. Sie nennt sich Kat, heißt eigentlich Kathryn, und man spricht ihren Namen wie das englische cat aus. Sie sieht mit ihrer extrem blassen Haut, ihrem langen weißen Haar so gut aus, als könnte sie haben, wen immer sie will. „Ich kann mich wenigstens selbst ertragen“, kommentiert sie. Später beschreibt sie sich so: Sie habe „dieselben Träume gehabt, wie alle weiblichen, amerikanischen Teenager, kellnern, schauspielern, Porno drehen, Medizin studieren, Sängerin oder Anwältin werden“, aber gereicht habe es eigentlich zu nichts. Lux schließt sich ihr an, obschon dieser Kat „die Rücksichtslosigkeit aus den Poren“ zu dringen scheint.

Kat startet für Lux ein Abhärteprogramm, um bei ihr „den Schiss“ abzubauen, wie sie sagt. Und natürlich gehört ein Strafsystem dazu. Lux lässt sich darauf ein und besteht die erste Aufgabe, die nächste geht dann an Kat und so weiter. In Chicago angekommen, wird mal eben die Kreditkarte leergeräumt und ein junger Chauffeur für wirklich alles engagiert – auch gewisse Stunden sind in der Tausend-Dollar-Gage inklusive. Kats Kommentar: „Verabschiede dich von deinem Cash“, denn die Aufgabe lautet: „ich gebe dein Geld aus“. Die Botschaft gibt es gratis dazu: „Die Mittellosigkeit ist eine langfristige Anlage für deine Unabhängigkeit.“ Wer allerdings kein Geld mehr hat, lebt wohl tatsächlich recht abenteuerlich, wie Lux‘ geglückte Flucht vor einem Trucker zu verstehen gibt, der der Meinung ist, die Mitfahrgelegenheit könne auch bargeldlos beglichen werden.

In Denver kippt die Stimmung und Rivalität beherrscht nun das Verhältnis der beiden Frauen. Aber was stimmte überhaupt zwischen ihnen? Die Endstation ihrer Beziehung heißt schließlich Las Vegas, wo sie einen Geldtypen finden und in den Partymodus umschalten. Lux flieht und landet weit außerhalb ausgerechnet in der Kanalisation von Las Vegas – „der Stoffwechsel findet hier unten statt“. Stockdunkel irrt sie durch das Labyrinth der stinkenden Kanalröhren. Menschen scheinen dort unten zu leben. Eine verwahrloste Frau hat ihr „Heim“ hier aufgeschlagen.

Ist das nur geträumt? Oder doch ein bizarr realer Showdown in der Wüste Nevadas? Und ist die „Therapie“ erfolgreich gewesen, wenn Lux nun ihren eigenen Weg geht, sich nicht einmal umdreht? „Ja, alleine weitermachen, ist ja bloß so eine Geschichte gewesen, das mit Kat, etwas, das sich bald wieder auflöst, zusammenschrumpft zu einer Anekdote […].“ Ja, die Autorin liebt Metaphern, sie findet sie überall, ganz unerwartet und unverbraucht und faszinierend, mit welch ätzendem Realismus sie gepaart sind.

Titelbild

Olivia Kuderewski: Lux.
Verlag Voland & Quist, Berlin 2021.
224 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783863912796

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