Das Mädchen ohne Namen

Berliner Geschichten von Roland Schimmelpfennig: „Die Linie zwischen Tag und Nacht“

Von Monika WoltingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Wolting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach dem Erfolgsroman An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21Jahrhunderts (2016) erschien 2021 der zweite Roman von Roland Schimmelpfennig, Die Linie zwischen Tag und Nacht. Schimmelpfennig wurde 1967 in Göttingen geboren und gehört zu den meistgelesenen und gespielten Dramatikern des deutschsprachigen Raums weltweit. Für seine Werke wurde er mehrfach ausgezeichnet, zu den bedeutendsten Preisen gehören der Nestroy-Theaterpreis und der Else-Lasker-Schüler-Preis.

Im Zentrum von Die Linie zwischen Tag und Nacht steht die Aufklärung des Todesfalls eines Mädchens, dessen Leiche auf einer Berliner Rave-Party gefunden wird. Die Frau, ohne Namen, ohne Herkunft, ohne Angehörige,trieb in ihrem weißen Brautkleid auf dem grünen Wasser des Kanals, die junge Frau trieb auf dem Rücken, und sie hatte Rosen im Haar. Sie sah in den Himmel.“ Aus dem Wasser wird sie von dem zwischenzeitlich suspendierten Drogenermittler Tommy gezogen. Der Polizist gehörte einmal zu den besten Ermittlern der Stadt, jedoch wartet er wegen „Bestechlichkeit, Vorteilsannahme, Vorteilsgewährung, Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung. Betäubungsmittelmissbrauch, Behinderung der Justiz, Drogenhandel“ seit einem Jahr auf seinen Prozess. Das Ereignis erinnert ihn an einen früheren Fall: Er selbst hat während einer Razzia einen kleinen Jungen überfahren. Niemand hat den Jungen vermisst, auch er bleibt namenlos. Die Erzählung folgt dem Verlauf seiner Ermittlungen, dabei erinnert er sich an Vergangenes, an sein Leben als erfolgreicher Ermittler und an seinen Absturz durch den Einsatz unkonventioneller Methoden. Tommy fühlt das starke Bedürfnis, dem Mädchen, das an einer Überdosis „verbrannt“, „geschmolzen“ ist, seinen Namen zurückzugeben. Im Text heißt es: „Kein Mensch. Keiner weiß, wie sie heißt. Und wenn niemand herausfindet, wie sie heißt, liegt sie am Ende in einem Grab ohne Namen. Und das wäre doch das Traurigste, was man sich vorstellen kann. Das wäre doch das Traurigste, was es gibt, nicht wahr?” Er beginnt mit Ermittlungen auf eigene Faust, sucht alte Mitstreiter auf, nimmt wieder Kontakt zur Berliner Drogen- und Kunstszene auf. Denn was das Mädchen von allen anderen Drogenopfern unterscheidet, ist das tätowierte Gemälde auf ihrem Rücken: „wasserverlaufene rote und blaue Blüten und Felder, Flussläufe, Schilf und Seerosen“. Unter dem Tattoo sind unzählige Narben versteckt, „alte Risse. Schnitte. Verbrennungen“. In einer Fotoausstellung findet Tommy die Fortsetzung des Bildes auf den Rücken zweier anderer Menschen: „Die Blumen und das Gras und der Fluss wanderten von Rücken zu Rücken, von Körper zu Körper. Zusammen ergaben sie eine einzige Landschaft, ein einziges Bild.“ Nun beginnt für Tommy eine intensive Zeit der Ermittlung, in der er sich auch mit seiner eigenen Vergangenheit und den Gespenstern derselbigen auseinandersetzen muss.

Ähnlich wie dem Dramatiker Schimmelpfennig gelingt es dem Romancier Schimmelpfennig, seine Romanfiguren gleichsam mit ein paar Strichen lebendig und glaubwürdig zu gestalten. Auch wenn das tote Mädchen letztendlich viele Namen erhält, werden ihr Flüchtlingsschicksal, ihre Persönlichkeit, ihre Wünsche und Träume in aller Schärfe und Deutlichkeit vermittelt. Mara, Dilek, Semra, Fatma sehnt sich nach einer spürbaren Existenz, findet sie in der Freundschaft, der Liebe und einem tiefen Zugehörigkeitsgefühl zu anderen Menschen.

Berlin als Handlungs- und Bezugsraum der Figuren erscheint als aufregende, facettenreiche, multikulturelle Großstadt, in der Clans und Mafiabosse gegeneinander kämpfen, Kinder und Enkel der ehemaligen Gastarbeiter um ihre Identität ringen, Jugendliche und Erwachsene Abenteuer in exzessiven Partys in Kellern und stillgelegten Werken im östlichen Teil Berlins suchen. Der Drogenhandel sowie der exklusive Gemüsehandel und Restaurantbetrieb bestimmen die Arbeitswelt der Protagonisten. Schimmelpfennig stellt das Leben der Protagonisten zwischen Ost und West, dem Süden und dem Norden dar; die deutlich markierte Grenze ist nicht jene zwischen Ländern, sondern diejenige, die sich mitten durch Berlin zieht.

Die Romanfiguren sind weder ‚gut‘ noch ‚böse‘, sie werden durch eigene Lebensereignisse wie Unfälle, Kriege, Armut, Reichtum, Begegnungen geformt und gesteuert. Hierdurch wird dem Leser die Kontingenz der menschlichen Existenz bewusst gehalten. In präzise gewählten und sparsam eingesetzten Worten schildert der Autor menschliche Schicksale. Dies wird im folgenden Beispiel ersichtlich: „Er fuhr in den Krieg, oder er fuhr an den Rand des Krieges, und dort fand er eine junge Frau, die bei einem Raketenangriff schwer verletzt worden war. Die junge Frau hatte ihre gesamte Familie verloren. Sie hatte alles verloren, was sie hatte. Cem schleuste dieses Mädchen nach Deutschland, was für ihn leicht war, weil er fast täglich Waren aus dem Südosten der Türkei nach Deutschland importierte. Seine Fahrer kannten jeden Grenzbeamten und jeden Zöllner auf der Strecke. Er holte die junge Frau zu sich nach Neukölln. Sie hatte keinen Pass, sie hatte keinen Namen.“

Wird Schimmelpfennigs Kriminalroman als ein Modell von Berliner-Wirklichkeit aufgefasst, das gesellschaftliche Zustände und Prozesse in literarische Formen verwandelt und sie auf diese Weise der Leserin oder dem Leser erfahrbar macht, so lässt sich der Text Die Linie zwischen Tag und Nacht als Ausdruck der Notwendigkeit einer ästhetischen wie ethischen Auseinandersetzung mit der Realität der Stadt betrachten. Der Roman ist jedem zu empfehlen, der Interesse an der literarischen Darstellung globaler Veränderungen in europäischen Städten hat und dabei die Sonderstellung Berlins als einer Stadt, in der vor 30 Jahren noch eine Mauer stand, nicht unbeachtet lassen möchte. Schimmelpfennig zeigt ein Bild Berlins und seiner Bewohner, das die heutige aufregende Gegenwart dokumentiert.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Roland Schimmelpfennig: Die Linie zwischen Tag und Nacht.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2021.
208 Seiten, 22 EUR.
ISBN-13: 9783103974102

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