Sind wir noch bei Trost?

Thea Dorn analysiert in ihrer Erzählung „Trost“ die besonderen Herausforderungen des Abschieds von einem geliebten Menschen in Zeiten der Pandemie

Von Miriam SeidlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Seidler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Jahr 1401 erscheint mit dem Ackermann von Böhmen eine Streitschrift von Johannes von Tempel, in der ein Autor in einem Streitgespräch mit dem Tod vehement Anklage erhebt, weil dieser seine Frau viel zu früh aus dem Leben gerufen hat. Der Text verleiht der Verzweiflung des Witwers Ausdruck, indem dieser den personifizierten Tod wie einen Mörder anklagt und seinen Gefühlen unverhohlen freien Lauf lässt. Erst in dem Streitgespräch mit dem Tod, der ihn zwingt, sich selbst zu positionieren und seine eigene Haltung zu überdenken, gelingen Erinnerung und Trauerarbeit. So kann der Ackermann am Ende den Schiedsspruch Gottes anerkennen, der beide Figuren in ihre Grenzen weist, indem er die Einrichtung der Schöpfung, zu der auch der Tod des Menschen gehört, als gut bewertet. Am Beginn der Neuzeit ist der Text nicht nur eine Auseinandersetzung mit der Endlichkeit des menschlichen Lebens, sondern zugleich eine Reflexion der Frage, ob ein gutes Leben an der reinen Lebenszeit gemessen werden kann und ob die göttliche Schöpfung sinnvoll eingerichtet ist.

Auch wenn in unserer gottfernen Gegenwart die Frage nach der Einrichtung der Welt vor allem in der Überwindung der von der Natur gesetzten Grenzen interessiert, so konfrontiert der Tod damit, was ein erfülltes Leben ausmacht. Gerade das Gefühl, dass ein Leben zu früh zu Ende gegangen ist, macht den Verlust des geliebten Menschen umso dramatischer bewusst und stellt existenzielle Fragen. Die Vehemenz, mit der der Tod der Ehefrau im Kindsbett in der Schrift von Johannes von Tempel beklagt wird, hat Thea Dorns Briefroman Trost mit dem älteren Text gemeinsam. Er spielt im Jahr 2020 und setzt sich mit dem Leben und Sterben in der Corona-Pandemie auseinander. Die Journalistin Johanna trauert um ihre Mutter, die zu Beginn der Pandemie im Krankenhaus an Corona verstorben ist. Sie klagt allerdings nicht den Tod selbst an, sondern dessen Umstände treiben sie in die Verzweiflung. Die Verordnungen zum Schutz vor der Ausbreitung der Pandemie machten es ihr weder möglich, ihrer sterbenden Mutter beizustehen, noch die Tote ein letztes Mal zu sehen.

Aber auch mit ihrer Mutter hadert Johanna. An ihrer Infektion war die lebenslustige und zugleich leichtsinnige 84-Jährige – dass ihre gelebten Lebensjahre der durchschnittlichen Lebenserwartung einer Frau in Deutschland entsprechen, ist sicher kein Zufall – nicht ganz unschuldig. Obwohl die Medien bereits über die Pandemie berichteten und Reisewarnungen ausgesprochen wurden, brach sie nach Italien auf, erfreute sich daran, das Land und seine Museen weitgehend ohne Touristen genießen zu können. Sie kehrte erst nach München zurück, als sie ein italienischer Bekannter vor die Tür setzte. Zurück in Deutschland zeigten sich schnell erste Krankheitssymptome. Nach der Einlieferung ins Krankenhaus wurde sie ins künstliche Koma versetzt und verstarb. Trotz unterschiedlicher Versuche gelang es der sofort aus Berlin angereisten Tochter nicht, ans Krankenbett der Mutter vorzudringen.

Konfrontiert der Tod eines Elternteils das erwachsene Kind ganz grundsätzlich mit der eigenen Endlichkeit, so lässt der einsame Tod der Mutter eine traumatisierte Tochter zurück, die um den Abschied von der Mutter und damit den ersten Schritt auf dem Weg zur Trauerarbeit gebracht wurde. Die Wut und Verzweiflung über den unwürdigen Abschied bricht aus Johanna heraus, als sie eine Postkarte ihres ehemaligen Philosophieprofessors erhält, der sich nach ihrem Befinden erkundigt. Der ferne Freund wird zum imaginierten Gesprächspartner. Da er sich inzwischen aus der Gesellschaft zurückgezogen hat und auf der griechischen Insel Kos ohne Internet lebt, ist nur eine briefliche Kommunikation möglich.

Der so hergestellte Phasenverzug ermöglicht es Johanna, mehrfach über seine Postkarten nachzudenken. Diese bestehen jeweils aus einem Bild und einem kurzen Satz auf der Rückseite. Die Botschaft muss von Johanna erst entschlüsselt werden und dient somit zugleich als Anregung, sich mit der eigenen Situation auseinanderzusetzen. Es ist nicht nur die Frage „Bist Du bei Trost?“, die von Johanna Haltung im Trauerprozess einfordert, sondern auch die mit einem Bild vom zum Tode verurteilten Sokrates gestellte Frage, ob die Trauernde das Leben nicht zu schwer nimmt, die eine philosophische Auseinandersetzung mit der Frage nach einem guten und gelungenen Leben in Gang setzt. Der Briefroman wird so zu einer philosophischen Erkundung der Bedingungen des Lebens in der Pandemie.

Thea Dorn gelingt es immer wieder, philosophisch komplexe Fragestellungen in alltagsnahen Beispielen zu behandeln, ohne dem Leser eine Antwort aufzwingen zu wollen. Dabei geht es der Autorin nicht nur darum, wie sich der Einzelne in der Krise positioniert. Die wütende Tochter ist vielmehr ein Gedankenmodell, das dazu dient, an einem extremen Beispiel die Auswirkungen der Pandemie zu reflektieren. Wie im Ackermann von Böhmen bietet Dorn die Ausgangskonstellation die Möglichkeit der Reflexion des Status quo und davon ausgehend der pointierten Kritik einer Gesellschaft im Ausnahmezustand. Wie bereits in ihrem 2010 erschienenen Essayband Ach, Harmonistan! hält sie der – nicht nur aufgrund der Pandemie – in Stillstand verharrenden deutschen Politik den Spiegel vor.

Eine der vielen gesellschaftskritischen Facetten ist beispielsweise mit der beruflichen Tätigkeit der Mutter verbunden: Johannas Mutter wird mit ihren 84 Jahren nicht nur als lebenslustige Frau beschrieben, sie war als Leiterin einer Agentur für Schauspieler*innen auch beruflich äußerst erfolgreich. So ist ihr Tod zu Beginn der Corona-Pandemie auch auf einer symbolischen Ebene zu lesen: Mit dem ersten Lockdown im Frühjahr 2020 wurden nicht nur alle Fernseh- und Kinoproduktionen eingestellt, auch der Betrieb an Theatern kam vollständig zum Erliegen. Die Theater sind nach wie vor geschlossen, im Film wird zwar wieder produziert, aber die Gefahr aufgrund der Infektion eines Schauspielers oder einer Schauspielerin eine Produktion unterbrechen zu müssen, schwebt wie ein Damoklesschwert über den Verantwortlichen. Nur am Rande wird in der Erzählung vom alternden und dem Alkohol zugeneigten Schauspieler Theo berichtet, der verzweifelt, weil er seinen Beruf nicht ausüben darf. Auch der nur beiläufig erzählte Suizid einer namenlosen Schauspielerin lässt die Abgründe erahnen, die die Pandemie für einige Berufsgruppen aufgetan hat. Neben den Kollateralschäden der Pandemie werden von Thea Dorn wie nebenbei auch die Gewinner der Krise im Lauf des Romans benannt.

Kann es Johanna aufgrund ihrer persönlichen Betroffenheit gelingen, Verzweiflung und Depression etwas entgegenzusetzen? Zumindest eine Idee, wie Kunst und Kultur das Leben in der Pandemie lebenswert machen können und wie es gelingen kann, Haltung zu bewahren, zeigt die mit satirischen Untertönen versehene Schilderung der Trauerfeier:

Als ich am Bogenhausener Friedhof ankam, sah ich als Erstes die Boulevardgeier, Hälse und Kameras schreiend gereckt, auf dass ihnen ja kein trauerndes Prominentengesicht, ja keine zu versilbernde Träne entgehe. […]  Womit ich nicht gerechnet hatte: Wie kalt mich der nächste Anblick erwischte […]. Wie versprengte schwarze Schäfchen standen Mutters Schauspieler, Mutters Freunde, Mutters „Geschöpfe“ auf den beiden Straßen um den Friedhof herum. Ausgesperrt von den Mauern. Bewacht von mindestens zwanzig Ordnungshütern, die peinlich darauf achteten, dass der Schmerz die Schäfchen nicht zur Trost- und Trauerherde zusammentrieb. Ein paar der guten Hygienehirten gingen mit Klemmbrettern und „Kontaktlisten“ herum, in die sich jeder, der den verwegenen Wunsch äußerte, meiner Mutter tatsächlich am Grab die letzte Ehre zu erweisen, mit Namen, Adresse und Telefonnummer eintragen musste. Einer Schauspielerin, die versucht haben will, mit „Daisy Duck, Leck-mich-am-Arsch-Straße 1a, 00000 Entenhausen“ durchzukommen, soll ein aufgeweckter Hirte entgegnet haben: „Naa, Sie san net die Frau Duck. I seh Sie do imma im Tatort!“

Die Absurdität der Regelungen, die ein wichtiges Moment der Trauerarbeit verhindern und so zur Verstärkung der traumatischen Erfahrung beitragen, wird hier offensichtlich. Zugleich fällt die Verwendung der Metaphorik auf: Es ist nun nicht mehr die Kirche, die ihren als „Schäfchen“ bezeichneten Gläubigen Trost spendet, sondern die Ordnungshüter schlüpfen in die Rolle des „Hirten“. Basiert die christliche Religion auf dem Gedanken der Gemeinschaft, so ist es hier allerdings der Gedanke der Separation, der im Fokus steht. Ziel ist nicht, dem menschlichen Leben in der Gemeinschaft einen Sinn zu verleihen und somit den Trauernden Trost zu spenden, sondern das einzelne Leben durch den Schutz vor dem Virus zu retten. Kann so ein gutes Leben gelingen? Diese kritisch-ironische Beschreibung der Bevormundung durch die Corona-Schutz-Verordnung zieht sich durch die Erzählung und regt zum Nachdenken über die Sinnhaftigkeit der Regelungen an. Die Erfahrung, dass Trost der menschlichen Nähe bedarf, wird von der einsam schreibenden Tochter mehrfach festgestellt. Trägt die gelebte Gemeinschaft nicht mehr zu einem glücklichen Leben bei als das einsame, aber vor einem Virus bewahrte Leben?

Thea Dorn hat einen klugen Roman geschrieben, der in der Abwägung zwischen den Interessen des Einzelnen, der Postulierung des Überlebens um jeden Preis und der Frage, was ein gutes Leben auszeichnet, zentrale Fragen der Gegenwart aufgreift. Wie schwer es ist, für sich selbst im Alltag eine Antwort zu finden, zeigt das Ringen der Figur Johanna. Zugleich bietet Dorn eine plausible Erklärung an, warum diese Themen im öffentlichen Diskurs der Gegenwart kaum zu finden sind. Ihre Protagonistin Johanna ist Journalistin und thematisiert im Verlauf des Romans wiederholt, was von ihrer Redaktion als Arbeitsaufträge an sie herangetragen wird. Im Unterschied zum Philosophen Max, der sie dazu anregt, sich mit den drängenden Fragen ihres Daseins und der Pandemie auseinanderzusetzen, soll sie für die Zeitung emotional bewegende Einzelschicksale beschreiben. Unter anderem die ‚Story‘ zu ihrer eigenen Erfahrung mit dem Corona-Tod der berühmten Mutter wird immer wieder eingefordert. Johanna ist nicht bereit, sich in die Reihe der „Boulevardgeier“ einzureihen, sondern kehrt im Lauf der Erzählung ihrer Zunft den Rücken. Das ist nicht das einzige Statement in Thea Dorns Roman, das hellsichtig die Verfassung unserer von der Pandemie geplagten Gesellschaft beschreibt.

Titelbild

Thea Dorn: Trost. Briefe an Max.
Penguin Verlag, München 2021.
176 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783328601739

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